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Lieferengpässe
„Lieferbarkeit von Rabattarzneimitteln nicht eingeschränkt“
Helmut Schröder vom AOK-Institut im Interview
DAZ: Herr Schröder, Ihre Analyse der Arzneimittel-Lieferengpässe ergab eine Verfügbarkeit von mehr als 99 Prozent. Haben Sie Verständnis dafür, dass diese Zahl – gelinde gesagt – zu Irritationen bei Ärzten, Apothekern und nicht zuletzt bei betroffenen Patienten führen könnte?
Schröder: Wir haben nicht beabsichtigt, Irritationen auszulösen. Weder bei Ärzten, noch bei Apothekern oder bei Arzneimittelpatienten. Sondern wir gehen davon aus, dass wir mit unseren Analysen zu einer Versachlichung beitragen können. Nach den vom BfArM veröffentlichten Lieferunfähigkeiten, die von den Pharmaherstellern freiwillig gemeldet werden, kann eine hohe Verfügbarkeitsquote ermittelt werden.
„Es ist nicht einzusehen, dass wir heute den Weg unserer Paketsendungen online mitverfolgen können, dies aber bei der ungleich wichtigeren Arzneimittelversorgung nicht gelingen soll.“
DAZ: In der zugehörigen Pressemitteilung schreiben Sie, dass „das Gerücht von umfangreichen Lieferengpässen bei Arzneimitteln in Deutschland […] durch ständiges Wiederholen die öffentliche Meinung beeinflussen“ würde. Wer äußert sich Ihrer Ansicht nach am häufigsten und lautesten zu dem Thema?
Schröder: Zahlreiche Player im Arzneimittelmarkt, insbesondere aus den Interessenvertretungen der Pharmaindustrie und der Apotheker, kolportieren, dass für die umfangreichen Lieferengpässe bei Arzneimitteln in Deutschland die Arzneimittel-Rabattverträge verantwortlich gemacht werden können. Für diese Aussage gibt es unserer Einschätzung nach keine empirische Evidenz. Im Gegenteil: Zieht man die Liste des BfArM heran, ist die Verfügbarkeit von Rabattarzneimitteln sogar höher als im Gesamtmarkt.
DAZ: Finden Sie die Auseinandersetzung mit dem Thema unverhältnismäßig?
Schröder: Die Versorgungssicherheit von Arzneimitteln in Deutschland stellt ein hohes Gut dar, insbesondere für die Patienten. Gemeinsam müssen Hersteller, Ärzte, Apotheker und Krankenkassen dafür sorgen, dass den Arzneimittelpatienten die verordneten Arzneimittel zur Verfügung stehen. Die aktuellen Diskussionen zeigen, dass alle Beteiligten die Arzneimittelverfügbarkeit und mögliche Ursachen für Engpässe unterschiedlich bewerten. Ein gemeinsamer Austausch kann helfen, etwaige Herausforderungen gemeinsam zu meistern.
DAZ: Der Alltag in den Apotheken sieht so aus, dass die Defekt-Listen nicht lieferbare Arzneimittel mitunter in dreistelliger Höhe ausweisen. Betroffen sind in der ambulanten Versorgung vor allem häufig verordnete Präparate. Eine Auswertung des Deutschen Arzneimittelprüfungsinstituts (DAPI) ergab für 2018, dass die Top-10-Wirkstoffe mehr als die Hälfte aller nicht verfügbaren Packungen ausmachten. Wie erklären Sie sich diese Diskrepanz zu Ihrem Fazit?
Schröder: Im Jahr 2018 konnten die Apotheken in Deutschland knapp 9,3 Millionen Arzneimittelpackungen, die bei gesetzlichen Krankenkassen mit einem Rabattvertrag gebunden waren, nicht an Patienten abgeben. Die Apotheken konnten diese Arzneimittel nicht über den Großhändler beziehen, konnten jedoch die Arzneimittelversorgung mit einem Produkt eines anderen Herstellers sicherstellen. Auch wenn jedes nichtlieferbare Arzneimittel eines zu viel ist, sollten wir angesichts von 651 Millionen Arzneimittelverordnungen doch auch deutlich machen, dass eine hohe Verordnungssicherheit von 97,9 Prozent unter den rabattfähigen Arzneimitteln besteht. Schauen wir nun gezielt auf die Top-10-Wirkstoffe der nicht lieferbaren Arzneimittel der Analyse des DAPI, so sind ausschließlich generische Wirkstoffe vertreten. Für die steht in der Regel eine Vielzahl von alternativen Anbietern zur Verfügung. Für Ibuprofen sind zum Beispiel mehr als 60 Anbieter im Markt, was den Apotheken eine angemessene Versorgung der Arzneimittelpatienten ermöglicht.
DAZ: Für Ihre Berechnungen haben Sie als Datengrundlage die beim BfArM gemeldeten Lieferunfähigkeiten der Hersteller herangezogen. 461 Meldungen waren das Anfang September. Im Hinblick auf die mehr als 66.000 verordnungsfähigen Arzneimittel auf dem Markt bewerten Sie diese Zahl als gering. Der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI) hält dagegen, dass man die Meldungen unterschiedlich gewichten müsste: Das Fehlen eines Wirkstoffes mit einer Million Packungen sei gravierender, als fünf Wirkstoffe mit je 10.000 Packungen. Das ist doch eigentlich eine sehr nachvollziehbare Gegenüberstellung, oder nicht?
Schröder: Ein nicht lieferbares Arzneimittel ist aus unserer Sicht nicht weniger wichtig, wenn nur wenige Patienten dieses Arzneimittel benötigen. Wenn wir dennoch auf verordnungsgewichtete Analysen schauen wollen, so können wir die Auswertungen des DAPI heranziehen. Diese zeigen, dass verordnungsgewichtet eine Liefersicherheit von 97,9 Prozent erreicht wird. Dabei muss jedoch berücksichtigt werden, dass die Lieferunfähigkeit sowohl auf den Großhandel als auch auf den pharmazeutischen Hersteller zurückgeführt werden kann.
DAZ: Weshalb haben Sie Daten aus Schweden in Ihre Analyse einbezogen?
Schröder: In Deutschland liegen zu Lieferschwierigkeiten bislang nur die Daten der BfArM-Liste öffentlich vor, die auf freiwilligen Meldungen der pharmazeutischen Hersteller basieren. Das WIdO fordert seit Langem, dass diese Meldungen verpflichtend erfolgen sollten, um die Situation vollständig einschätzen zu können. Bei einem Blick über den nationalen Tellerrand findet man andere europäische Länder, in denen die Hersteller bereits verpflichtet sind, akute und bevorstehende Lieferengpässe zu melden. Beispielsweise waren in Schweden zum 31. Oktober 2019 ca. 97,3 Prozent der Arzneimittel lieferbar. Der Anteil der als nicht lieferbar gemeldeten Produkte ist somit etwas größer, als es die freiwilligen Herstellermeldungen an das BfArM für den deutschen Markt erkennen lassen. Unsere Analyse hat daher die beim BfArM gelisteten Meldungen der Lieferunfähigkeiten um Produkte ergänzt, die sowohl in der schwedischen Liste vorkommen als auch in Deutschland angeboten werden. Die Anzahl nicht lieferbarer Arzneimittel in Deutschland erhöht sich danach von 461 auf 543 Produkte. Auch unter Einbezug der Daten aus Schweden bleibt das Fazit, dass mit einer Verfügbarkeitsquote von 99,2 Prozent die Versorgung in Deutschland sicher ist.
DAZ: Sie monieren, dass die Meldungen der Hersteller an das BfArM auf Freiwilligkeit beruhen. Vertrauen Sie dem aktuellen Meldesystem nicht?
Schröder: Wir halten eine freiwillige Meldung des pharmazeutischen Herstellers für nicht ausreichend. Die Hersteller in Deutschland müssten verpflichtet werden, Lieferschwierigkeiten zu melden, wenn keine ausreichende Versorgungssicherheit im Folgemonat gewährleistet werden kann. Als Messlatte für eine ausreichende Versorgungssicherheit könnt die monatsbezogene Verordnungsmenge des Vorjahres genutzt werden. Es ist nicht einzusehen, dass wir heute den Weg unserer Paketsendungen online mitverfolgen können, dies aber bei der ungleich wichtigeren Arzneimittelversorgung in Deutschland nicht gelingen soll.
DAZ: Wenn Hersteller ein oder mehrere Präparate nicht liefern können, melden sie das bislang freiwillig dem BfArM. Bei Präparaten in Rabattverträgen mit den gesetzlichen Kassen drohen zudem Vertragsstrafen. Das System ist also darauf ausgerichtet, dass Hersteller irgendwie versuchen, wenigstens ein paar Packungen auf den Markt zu bringen und nicht bei 0 Prozent Lieferfähigkeit zu landen. Doch damit ist noch längst keine flächendeckende Versorgung der Apotheken und nachfolgend der Patienten gewährleistet. Müsste es nicht schon viel früher eine Art „Vor-Alarm“ geben, damit kurzfristig interveniert und eine Lösung gefunden werden kann?
Schröder: Deswegen halten wir verpflichtende Meldungen der Hersteller für notwendig. Ein Arzneimittelhersteller wird mit Blick auf seine professionelle Lieferkette frühzeitig absehen können, welche Auswirkungen beispielsweise ein Produktionsengpass bei einem chinesischen Lohnhersteller drei Monate später auf die Arzneimittelversorgung in Deutschland hat. Wenn es solche verpflichtenden Meldungen an das BfArM geben würde, ließen sich sicherlich auch digitale Dienstleister finden, die adressatengerechte Dienstleistungen für Ärzte, Apotheker und Arzneimittelpatienten anbieten. Mit smarten Apps für chronische Arzneimittelpatienten oder einer Anbindung an die Praxissysteme von Ärzten und Apotheken könnte diese Datenbasis einen großen Nutzen stiften. Damit könnten sich Patienten, Ärzte und die Apotheken im Bedarfsfall frühzeitiger auf Lieferengpässe einstellen und klären, welche alternative Therapie gewählt werden kann.
DAZ: Die Statistik des DAPI zu den Lieferengpässen beruht auf der Anzahl des Sonderkennzeichens „Nichtverfügbarkeit von Rabattarzneimitteln“, die bei Abweichung von der ursprünglichen Verordnung in den Apotheken auf das Rezept gedruckt werden. Diese Daten sind für Sie als Institut ja auch einfach zu erhalten. Weshalb haben Sie nicht die Anzahl der Sonderkennzeichen für Ihre Analyse betrachtet?
Schröder: Auch unserem Institut stehen die Sonderkennzeichen in den Verordnungsdaten zur Verfügung. Die hohe Verordnungssicherheit von 97,9 Prozent unter den rabattfähigen Arzneimitteln, die das DAPI dokumentiert, können wir ebenfalls bestätigen. Bei der Interpretation ist jedoch zu beachten, dass die Lieferausfälle von 2,1 Prozent auf die Nichtlieferfähigkeit des Großhandels oder des Herstellers zurückgeführt werden können. Unsere Analysen, basierend auf den freiwilligen Meldungen der pharmazeutischen Hersteller, haben Lieferausfälle von Großhändlern ausgeschlossen. Lieferengpässe führen also gerade im generischen Rabattsegment in der Regel nicht zu Versorgungsproblemen beim Patienten. Aufgrund der zahlreichen Medikamentenalternativen kann in der Apotheke meist ein gleichwertiges Arzneimittel abgegeben werden, was auch die Zahlen des DAPI belegen.
DAZ: Fügt man die Analyse des WIdO mit den Zahlen des DAPI zusammen – vor dem Hintergrund, dass in den öffentlichen Apotheken tatsächlich gegen Lieferengpässe gekämpft wird, dann muss man schlussfolgern: Weder das WIdO noch das DAPI scheinen mit ihren Statistiken die aktuelle Situation ausreichend gut darstellen zu können. Ist es nicht vielmehr so, dass die Apotheken, die Patienten nicht mit den verordneten Präparaten versorgen können, entweder neue Rezepte über die lieferbaren Alternativen von den Ärzten anfordern oder die Patienten weiterschicken? Diese Möglichkeit wird weder von der BfArM-Liste noch von der Auswertung der Sonderkennzeichen abgebildet. Was halten Sie von dem Gedanken?
Schröder: Halten wir noch einmal fest, dass die Lieferbarkeit der Rabattarzneimittel nach den Ergebnissen der beiden Institute nicht eingeschränkt ist und die Versorgungssicherheit im rabattfähigen Markt durch die Vielzahl an Alternativen in der Regel gewährleistet ist. Insgesamt umfasst der rabattfähige Markt 70 Prozent der insgesamt verordneten Arzneimittelpackungen. In diesem Markt stehen ausreichend alternative Arzneimittel zur Verfügung und die Apotheken geben diese im Bedarfsfall auch ab – wie die DAPI-Ergebnisse ebenfalls zeigen. Hierfür ist kein erneuter Besuch in der Arztpraxis notwendig. Wir können nicht nachvollziehen, warum Patienten von einer Apotheke an die nächste verwiesen werden. Betrachtet man das Arzneimittelmarktsegment, das nicht durch Rabattverträge gesteuert wird und vor allem patentgeschützte Solisten umfasst, können die beim BfArM gelisteten freiwilligen Meldungen der Hersteller genauso zurate gezogen werden. Die Versorgungssituation ist auch bei diesen Arzneimitteln insgesamt betrachtet sehr gut. Konkrete Einzelfälle, in denen die Hersteller ihrer Lieferverpflichtung nicht nachkommen, sind immer ärgerlich und dürfen auch nicht als Normalfall betrachtet werden. Arzt und Apotheker sollte es dann gemeinsam gelingen in einem Markt mit 2500 verschiedenen Wirkstoffen und 66.000 verschiedenen Arzneimitteln eine Alternative zu finden.
DAZ: Erklären Sie uns bitte, warum Rabattverträge Ihrer Meinung nach nicht nur unschuldig an den Lieferengpässen sind, sondern sogar zu einer Stärkung der Arzneimittelversorgung beitragen sollen.
Schröder: Pharmaunternehmen sind zumeist global agierende, börsennotierte Unternehmen. Der deutsche Markt hat nur einen Anteil von vier Prozent am weltweiten Arzneimittelumsatz. Daher ist es fraglich, einen Zusammenhang zwischen deutschen Arzneimittelrabattverträgen und global auftretenden Lieferdefekten herzustellen. Hingegen enthalten Arzneimittelrabattverträge seit Jahren zumeist die Vorgabe, dass die pharmazeutischen Vertragspartner die Krankenkassen über nicht lieferbare Vertragsprodukte verpflichtend informieren müssen und anderenfalls Vertragsstrafen riskieren. Um die Liefersicherheit noch zu erhöhen, müssen die Vertragspartner außerdem einen ausreichenden Arzneimittelbestand vorhalten. Und das bereits vor Vertragsstart. Hilfreich dabei sind exklusive Verträge, da Pharmafirmen so ihre Absatzmengen besser kalkulieren können als wenn sie bei Mehrpartnerverträgen mit mehreren Anbietern konkurrieren müssen.
DAZ: Nun ist das Thema der Arzneimittel-Lieferengpässe mittlerweile auf der bundespolitischen Bühne angekommen. Die Koalitionsparteien haben jeweils Papiere verfasst, die mögliche Lösungswege aufzeigen. Was halten Sie von den Vorschlägen? Gibt es Empfehlungen, die Sie befürworten?
Schröder: Wir würden uns freuen, wenn die pharmazeutischen Hersteller in Deutschland verpflichtet werden, Lieferschwierigkeiten aller ihrer Arzneimittel zu melden, wenn keine ausreichende Versorgungssicherheit im Folgemonat gewährleistet werden kann. Auf dieser Basis kann dann geprüft werden, ob die aktuelle Einschätzung der Versorgungssituation auch einem Faktencheck stand hält. Werden die aktuellen Lieferdefekte im rabattfähigen Arzneimittelmarkt, wie sie vom DAPI berechnet wurden, auf alle Apotheken und deren Öffnungstage im Jahr 2018 umgelegt, zeigt sich Folgendes: An jedem Öffnungstag mussten in jeder Apotheke im Durchschnitt 1,6 Arzneimittelpackungen aufgrund der Nicht-Verfügbarkeit des Rabattarzneimittels durch ein anderes verfügbares Arzneimittel ausgetauscht werden. Unsere vorläufigen Ergebnisse für das erste Halbjahr 2019 zeigen hier ähnliche Ergebnisse. Gleichzeitig berichten mehr als 90 Prozent der Apotheker im Apothekenklima-Index im Jahr 2019 – 2018 waren es noch 57,5 Prozent – über Lieferengpässe als größtes Ärgernis im Berufsalltag. Bevor die politischen Leitplanken eingezogen werden, muss mit Unterstützung von Daten seriös und offen diskutiert werden. Denn wir sollten nicht vergessen, dass Arzneimittelrabattverträge die Versorgungssicherheit für die Patienten erhöhen, den Wettbewerb unter den Pharmafirmen stärken und die Arzneimittelkosten senken, zuletzt 2018 um 4,5 Milliarden Euro.
DAZ: Herr Schröder, vielen Dank für das Gespräch. |
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