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Biografie

Ein Toxikologe aus Leidenschaft

Leben und Werk des Louis Lewin

Meine erste Bekanntschaft mit Louis Lewin (1850 – 1929) liegt schon mehr als 50 Jahre zurück. Damals fand ich zufällig in der Bibliothek des Pharmakologischen Institutes der Charité sein Buch „Die Gifte in der Weltgeschichte“ [1]. Eine phantastische Fundgrube solider historischer und toxikologischer Fakten. Dieses Buch und späteres „Nachgraben“ regten mich mehrfach an. Zu eigenen ähnlichen Veröffentlichungen [2], zu späteren experimentellen Arbeiten zum Suchtgeschehen [3] und vor allem zur Beschäftigung mit Lewins Leben und Werk [4]. Deshalb zu Lewin anlässlich seines 90. Todestages am 1. Dezember 1929 einige erinnernde Reflektionen. | Von Peter Oehme

Geboren wird Louis Lewin am 9. November 1850 in Tucheln (Tuchola) bzw. auf dem Wege nach Berlin. Dorthin emigrierten seine Eltern, wie viele Juden aus Osteuropa. Seine Kindheit verbringt Lewin im Berliner Scheunenviertel; im so­genannten jüdischen Ghetto ohne Mauern. Zuerst geht er in eine hebräische Schule und finanziert sich seine Lehrmittel durch Arbeit nach der Schule. Sein Fleiß und Ehrgeiz öffnen ihm die Tür zum Gymnasium. Da er anfänglich nur eine Mischung von Jiddisch und Deutsch spricht, muss er viele Demütigungen „einstecken“.

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Clara und Louis Lewin als junges Paar.

Trotzdem schafft er den Abschluss und beginnt 1871 ein Medizinstudium an der Berliner Friedrich-Wilhelm-Universität. Das Examen rigorosum legt er 1875 ab. Im gleichen Jahr promoviert er mit einer preisgekrönten Arbeit zur Wirkung des Pflanzenalkaloids Aconitin am Froschherzen.

Nach einem Jahr als Freiwilliger im Kaiser-Alexander-Garde-Grenadier-Regiment beginnt er seine wissenschaftliche Arbeit in München. In den Laboratorien von Max von Pettenkofer (1818 – 1901) und Carl von Voit (1818 – 1901) führt er Stoffwechseluntersuchungen durch und erprobt hygienische Methoden. Anschließend bewirbt er sich 1878 erfolgreich bei dem Berliner Pharmakologen Oscar Liebreich (1839 – 1908). Dort habilitiert er sich 1881 für die Gebiete Arzneimittellehre, Toxikologie und Hygiene. In diese Zeit fällt auch die Heirat mit Clara Bernhardine Wolf, Tochter einer jüdischen Lehrerfamilie aus Osnabrück. Aus der Ehe stammen drei Töchter.

In Berlin hat Lewin unter extrem schwierigen Bedingungen zu arbeiten. Er hat keinen offiziellen Lehrauftrag und kaum staatliche finanzielle Mittel. Deshalb richtet er ein „Privat­institut“ außerhalb des pharmakologischen Institutes in einer Wohnung der Mietshaus Ziegelstraße Nr. 3 ein. Hier ist sowohl das Labor für experimentelle Arbeiten als auch ein Raum für seine Vorlesungen. Trotz der schlechten Vor­lesungsbedingungen wird Lewin von den Studenten als begeisternder Lehrer geschätzt. Mit Liebreich steht Lewin von Anbeginn auf „Kriegsfuß“. Liebreich kritisiert ihn öffentlich und beschuldigt ihn der „Usurpation seines geistigen Eigentums“. Lewins Werk ist in etwa 300 Zeitschriftenpublikationen und mehreren Monografien dokumentiert. Darunter das erwähnte Buch „Die Gifte in der Weltgeschichte, sowie die Bücher „Nebenwirkungen der Arzneimittel“, „Lehrbuch der Toxikologie“ und „Phantastica“. Seine experimentellen Arbeiten lassen sich in zwei Schwerpunkte gliedern. Erstens: Toxikologie gewerblicher Gifte. Zweitens: Erforschung der Rauschdrogen und deren Einordnung in kulturhistorische Zusammenhänge. Lewins erste toxikologische Untersuchungen betreffen das Thymol und dessen Anwendung in Krankenhäusern sowie den Einfluss des Glyzerins auf die Ernährung und die Zersetzung von Substanzen im Organismus. Über viele Jahre befasst er sich mit Blutgiften, wie Hydroxylamin, Phenylhydroxylamin und Phenylhydrazin. Seine Arbeiten zur Wirkung von Blausäure auf das Blut finden große fachliche Anerkennung. Bei Gerichten und beim Reichsver­sicherungshauptamt ist Lewin ein gefragter Gutachter zu toxikologischen und gewerbetoxikologischen Problemen. Aus dem zweiten Schwerpunkt „Rauschdrogen“ im Folgenden zwei „High“-lights: Cocain wurde auch in dieser Zeit in seiner Gefährlichkeit unterschätzt. Lewin ist der erste, der auf die Gefährlichkeit einer Cocain-Behandlung von Morphin-Abhängigen hinweist. Hierzu gibt es eine kulturhistorisch interessante Auseinandersetzung von Lewin mit Sigmund Freud (1856 – 1939). Freud beschäftigte sich in seinen jungen Jahren mit der Therapie des Morphinismus durch Cocain – von einer anderen unkritischen Ausgangsposition. Lewin diskutiert dazu fachlich, aber auch sehr persönlich. Siehe hierzu [4]. Aus Lewins umfangreichen psychopharmakologischen Arbeiten sind die zum Peyotl-Kaktus hervorzuheben. 1886 bereist Lewin die USA und Kanada. Von seiner Amerika-Reise bringt Lewin auch „Mescal buttons“ von Parke Davis für Forschungszwecke mit. Zu dieser Reise verfasst er ein fantastisches Tagebuch, welches er seiner Frau Clara widmet [5]. Die Mescal-Buttons gibt Lewin nach seiner Rückkehr an das Berliner botanische Museum. Dort werden sie als ein Anhalonium klassifiziert und erhalten den Namen Anhalonium lewinii. Lewin gelingt es dann im Peyotl-Kaktus kristallisierbare Stoffe nachzuweisen, die er Anhalonin nennt. Er untersucht diese unter pharmakologisch-toxikologischen Gesichtspunkten, ohne jedoch deren halluzinogene Effekte zu beschreiben. Parallel zu ihm beschäftigt sich Arthur Heffter (1859 – 1925) im Leipziger pharmakologischen Institut mit den Kakteen. Heffter isoliert 1898 das Mescalin aus A. lewinii und entdeckt als erster die halluzinogenen Effekte von Mescalin. Es kommt daraufhin zu einem heftigen Prioritätsstreit zwischen Lewin und Heffter. Dieser von Lewin sehr emotional geführte Streit ist für seine Karriere nicht gerade förderlich, denn Heffter wird 1908 Direktor des Berliner pharmakologischen Institutes und leitet dieses bis 1924.

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Informationsblatt an Lewins privatem „Hörsaal“ in der Ziegelstraße 3.

Lewin bemüht sich vergeblich um verbesserte Arbeitsbedingungen. Erst 1922 – im Alter von 72 Jahren – erhält er einen offiziellen Lehrauftrag. Im gleichen Jahr schreibt er an das Preußische Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung und bittet um eine ihn finanziell entlastende Unterbringung seines Labors in Räumen der Universität. In der Antwort wird darauf verwiesen, dass es zwar nahe liegt, ihn in den Räumen des pharmakologischen Institutes unterzubringen, was aber „wie bekannt, aus persönlichen Gründen nicht durchführbar“ ist (siehe [4]). Am Ende seiner zahlreichen Bemühungen werden ihm die Finanzierung von Miete und Beleuchtungskosten für sein „Privatinstitut“ bewilligt.

Lewin resigniert. Zwei Jahre später erleidet er einen Schlaganfall. Schon an das Bett gefesselt, schreibt er seinen letzten psychopharmakologischen Beitrag über Banisteria Caapi. Übrigens die erste Dokumentation der pharmakologischen Effekte eines Monoaminooxidasehemmstoffes, als welcher Banisterin in späteren Jahren erkannt wurde.

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U-Bahnhof Louis-Lewin-Straße in Berlin-Hellersdorf.

Ende 1929 entwickelt sich bei Lewin eine Sepsis, wahrscheinlich auf dem Boden einer Leukämie. Am 1. Dezember 1929 verstirbt Louis Lewin im Kreise seiner Familie in seiner Wohnung in der Hindersinstraße. Sein Grab befindet sich auf dem jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee.

In seinem Nekrolog [7] sagt der bekannte Pharmakologe Wolfgang Heubner (1877 – 1957) über den Wissenschaftler Louis Lewin:

„A k t i v i t ä t steht geschrieben über dem Leben dieses Mannes, dessen Persönlichkeit ungewöhnliches Maß und außer­gewöhnlichen Stil hatte … Lewin war sein Leben lang getrieben von L e i d e n s c h a f t: all seine Leistungen, seine Erfolge und Misserfolge hängen irgendwie mit diesem Temperament zusammen. Es gab ihm Ansporn zu einer gewaltigen Arbeitsleistung, in die er seine intellektuelle Begabung ergoss ...“

Der Medizinhistoriker Erich Ackerknecht [8] schreibt über den Juden Louis Lewin in Erinnerung an Lewins 50. Todestag sinngemäß, dass jeder, der ihn gekannt und verehrt hat, nur ein Gefühl der Erleichterung empfinden kann, dass es Louis Lewin vergönnt war, vor 1933 zu sterben.

Lewins Frau Clara und seiner Tochter Gertrud war dies nicht vergönnt. Beide sind 1942/44 in Theresienstadt ums Leben gekommen.

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Eingang zum „Hof I“ der Kleinen Festung des KZ Theresienstadt.

Meine Frau und ich haben uns deshalb das Ghetto einmal angesehen und dabei an Louis Lewin und seine Familie gedacht. Das Land Berlin hat Louis Lewin durch die Umbenennung einer Straße und Brücke in Louis-Lewin-Straße bzw. Louis-Lewin-Brücke (s. Titelbild), mit einem gleichnamigen U-Bahnhof, geehrt. Aus diesem Anlass fand 1992 im Kulturforum Berlin-Hellersdorf ein Symposium über Leben, Werk und Wirkung von Louis Lewin statt [6]. Eine würdige Veranstaltung für einen begeisternden Wissenschaftler, der gelegentlich über das Ziel hinausschoss. |

 

Literatur

[1] Lewin, L.: Phantastica – die betäubenden und erregenden Genuss­mittel. Georg Silke, Berlin, 1924

[2] Oehme, P.: Beitrag zur geschichtlichen Toxikologie. 1. Giftmorde. Zschr. Ärztl. Fortb. 59, S. 278-282, 1965

[3] Oehme, P.: Theoretische und klinische Aspekte der Sucht. Meine Begegnungen mit der Suchtforschung. In. Oehme, P.: Fünf Jahrzehnte in Forschung und Lehre. S. 167-176, trafo Verlag, Berlin, 2006

[4] Oehme, P.: Der Berliner Pharmakologe und Toxikologe Louis Lewin: Sein Leben und Werk. DGPT Forum, Nr. 20, S. 39-43, 1997

[5] Lewin, L.: Durch die USA und Canada im Jahre 1887. Akademie-­Verlag, Berlin, 1985

[6] NN.: Louis Lewin (1850 – 1929). Leben – Werk – Wirkung. Hellers­dorfer Heimathefte Nr. 3. Beiträge des Symposiums vom 17. Oktober im ­Kulturforum Berlin-Hellersdorf. Berlin, 1993

[7] Heubner, W.: Louis Lewin Nekrolog. Münch. Med. Wschr. 77, S. 405, 1930

[8] Ackerknecht, E.: Louis Lewin 1850 – 1929, Generus, S. 300-302, 1979

Autor

Prof. Dr. Peter Oehme, Arzt und Pharmakologe, zwischen 1976 und 1991 Direktor des von ihm gegründeten Instituts für Wirkstofforschung (IWF) der Akademie der Wissenschaften der DDR. Von 2010 bis 2013 scientific adviser im IWF-Nachfolgeinstitut, dem Leibniz-Institut für Molekulare Pharmakologie

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