Die Seite 3

Markante Wende

Foto: DAZ/Kahrmann

Dr. Armin Edalat, Chefredakteur der DAZ

Es gibt Sätze, mit denen Geschichte ­geschrieben wurde, und es gibt Sätze, die nicht weniger bekannt sind, jedoch einen deutlich geringeren Einfluss auf das Zeitgeschehen hatten. Im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung vor 30 Jahren existieren zahlreiche Beispiele für beide Kategorien.

So konnten Hans-Dietrich Genscher und Günter Schabowski ihre Sätze noch nicht einmal vollenden und schon wurden grundlegende Veränderungen in den innerdeutschen Beziehungen eingeläutet – das eine Mal vom spärlich ausgeleuchteten Balkon der Prager Botschaft aus („Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise …“), das andere Mal im holzvertäfelten, internationalen DDR-Pressezentrum in der Berliner Mohrenstraße („Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich“).

Wesentlich gehaltvoller und staatsmännischer kommt dagegen ein Zitat von Willy Brandt herüber, ohne unmittelbar etwas bewirkt zu haben: „Es wächst ­zusammen, was zusammen gehört.“

Ein Ausspruch, der weder von einem Balkon aus noch vor laufenden Kameras geäußert wurde, sondern – was die ­meisten nicht wissen – im Rahmen eines kleinen Zeitungsinterviews kurz nach dem Mauerfall.

Einiges lässt sich in Brandts Satz interpretieren, von patriotischen Gefühlen bis hin zu persönlichen Schicksalen. Ob sich darin aber wirklich jeder Deutsche – in Ost und West, damals und heute – wiederfindet, ist mindestens genauso umstritten wie das Versprechen von „blühenden Landschaften“ eines anderen Altkanzlers.

Der Status quo im Wendejahr war, dass vieles dies- und jenseits der Grenze gar nicht dafür vorgesehen war zusammenzugehören und ab dann trotzdem zusammenwachsen musste. So auch die Pharmazie in all ihren Facetten. Ob das Apothekenwesen, die universitäre Ausbildung der Pharmazeuten, die Ausbildung des Assistenzpersonals, die behördliche Überwachung und nicht zuletzt die Verfügbarkeit von Arzneimitteln – viele Hürden existierten, die jedoch schnell gemeistert wurden. Die Apotheker gehören rückblickend zu den Berufsgruppen, die vom Mauerfall und allen folgenden Ereignissen profitiert haben. So jedenfalls leitet Prof. Marion Schaefer ihren Beitrag auf S. 56 ein. Damit sind keineswegs nur die Apothekenleiter gemeint, deren Existenzgrundlagen mindestens gesichert, wenn nicht sogar erst ganz neu geschaffen wurden. Auch im Bereich der Hochschulpharmazie begann für die Kollegen eine neue Ära, in der sie sich intensiv und (tatsächlich) international vernetzen und austauschen durften.

Was die standespolitischen Strukturen angeht, waren Ost und West ganz schnell beieinander. Da es in der ehe­maligen DDR keine Kammern und ­Verbände gab, wurde das System kurzerhand aus dem Westen übernommen – ohne jedoch kompromisslos alles ­auf­zugeben, blickt man auf die AG Allgemeinpharmazie der DPhG (S. 56) oder die Scheele-Gesellschaft (S. 80).

Weil das Apothekenwesen bundesrechtlich organisiert ist – mit zunehmenden Einflüssen aus der EU – hat das Ost-West-Thema im Berufsstand heute keine übergeordnete Relevanz, jedenfalls nicht mehr als auch andere regionale Unterschiede in Deutschland existieren. Trotzdem wird aktuell mit Blick auf die Lieferengpässe gerne von „DDR-Verhältnissen“ gesprochen (S. 62). Dieser Vergleich ist jedoch überheblich und verheerend, denn er blendet aus, dass die brisante Situation auf dem Arzneimittelmarkt eben nicht das Ergebnis einer sozialistischen Planwirtschaft ist, sondern eines durchökonomisierten ­fragilen Sozialsystems, das seine Wurzeln zweifelsohne außerhalb der ehe­maligen DDR hat.

Armin Edalat

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