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„Harter Brexit“ befürchtet
Wie die Industrie sich vorbereitet und was sie für die Patienten fordert
Im Bereich der Marktzugangsberechtigung und der Marktkontrolle bei Arzneimitteln gibt es fast keinen Aspekt, der nicht harmonisiert geregelt ist. Nur so kann der europäische Binnenmarkt in einem so sensiblen Warensektor sicher funktionieren. Für einen Drittstaat, zu dem Großbritannien dann am Tag X automatisch werden würde, gibt es nicht nur erheblich höhere Hürden für den Marktzutritt. Sie sind auch nicht so eng in das System der Nachmarktkontrolle inklusive Arzneimittelsicherheit, Fälschungsschutz etc. eingebunden. Die Dimensionen der zahlreichen, in jahrzehntelangen Verhandlungen mühevoll harmonisierten Standards für Arzneimittel, die den Schutz der Patienten und Verbraucher im Binnenmarkt gewährleisten sollen, sind für Marktbeteiligte außerhalb der pharmazeutischen Industrie, das heißt die Handelskanäle und die Anwender meist kaum vorstellbar. Das ganze Herstellungs- und Distributionssystem ist hochgradig austariert, und der Wegfall eines so wichtigen Players im europäischen Binnenmarkt für Arzneimittel wie Großbritannien kommt einem Erdrutsch gleich.
Jeden Monat 82 Millionen Arzneimittelpackungen
Noch einmal sollen an dieser Stelle die Zahlen des europäischen Dachverbandes der forschenden Pharmaunternehmen EFPIA von November 2017 in Erinnerung gerufen werden: Jeden Monat verlassen 45 Millionen in UK hergestellte Packungen das Land in Richtung EU. 37 Millionen werden aus der EU dorthin geliefert. 1300 Präparate werden in Großbritannien getestet und für das Inverkehrbringen in der EU freigegeben, und es laufen 1500 klinische Studien mit einem Sponsor in UK. Außerdem werden dort 70 Prozent der klinischen Prüfpräparate freigegeben.
Zahlreiche Inhaber europäischer Zulassungen mussten durch das Ausscheiden Großbritanniens aus der EU die notwendigen regulatorischen Schritte unternehmen, um die Verkehrsfähigkeit ihrer Produkte im Binnenmarkt weiter abzusichern, sei es durch die Übertragung der Zulassung in einen der verbleibenden 27 Mitgliedstaaten, die Verlagerung bestimmter Produktionsstätten, eine Änderung der sachkundigen Person für Pharmakovigilanz (QPPV), die Verlagerung ihres Pharmakovigilanz-System-Masterfiles (PSMF) oder durch die Anpassung der Logistik und der Supply chain.
Nach Angaben der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) gibt es derzeit 18 zentral zugelassene Humanarzneimittel, die deswegen nach dem 30. März von Versorgungsproblemen bedroht sind. Das sind immerhin schon deutlich weniger, als noch im Sommer des letzten Jahres befürchtet worden war. Bei den national zugelassenen könnten es aber erheblich mehr sein. Offizielle Zahlen hierzu sind nicht bekannt.
Freigaben und Grenzkontrollen als Nadelöhr
Ein großer Engpass könnte sich bei den Sicherheitschecks und Freigabekontrollen einstellen. Kommt es zu einem harten Brexit, so werden Qualitätskontrollen von Fertigarzneimitteln und Wirkstoffen, die in Großbritannien vorgenommen werden, in der EU wahrscheinlich nicht mehr akzeptiert. Die Präparate müssten auf dem Kontinent oder in Irland nochmals getestet werden, weil UK dann ein Drittstaat ist. So sieht es das harmonisierte Arzneimittelrecht der Union vor. Sonst dürfen sie in der Europäischen Union nicht vermarktet werden. Die britischen Behörden haben angekündigt, dass sie nach dem Brexit Qualitätskontrollen für Arzneimittel, die in der EU vorgenommen wurden, vorübergehend weiter akzeptieren werden. Ob die Europäische Union sich ähnlich flexibel verhalten wird und die Testungen in UK anerkennt, ist derzeit unklar. Außerdem weiß niemand, was nach dem 29. März an der neuen Außengrenze der EU zu Großbritannien passiert. Dass bis dahin überhaupt Strukturen und genügend Personal für Grenz- und Zollkontrollen vorhanden sind, darf bezweifelt werden.
EFPIA fordert koordinierte Notfallpläne
Der Europäische Dachverband der forschenden Pharmaunternehmen EFPIA warnt mit Nachdruck vor „sehr realen, fassbaren und unmittelbaren Bedrohungen für die Sicherheit der Patienten und die öffentliche Gesundheit sowohl in UK als auch in der EU“. In einem Positionspapier werden unverzügliche Maßnahmen gefordert, um sicherzustellen, dass Arzneimittel im Falle eines „No deal“-Brexit die Patienten weiterhin erreichen. Die EFPIA fordert koordinierte Notfallpläne, um Arzneimittellieferungen in Häfen bevorzugt abzufertigen. Arzneimittel, klinische Prüfpräparate und nach Möglichkeit auch pharmazeutische Wirkstoffe (API) und Rohstoffe sollen vorübergehend von neuen Zollbestimmungen und Grenzkontrollen ausgenommen werden, um die Herstellung von Arzneimitteln weiterhin sicherzustellen.
Keine ausreichenden Kapazitäten für Freigaben in der EU
Trotz aller Bemühungen werde es wohl nicht allen Unternehmen gelingen, ihre Freigabeprüfungen bis zum 30. März 2019 in die EU zu verlagern, vermutet der Verband. Im Übrigen gibt es seiner Einschätzung nach so akut auch gar nicht genügend Testlabors für die notwendigen zusätzlichen Qualitätskontrollen, ebenso wie Sachkundige Personen (QPs), die die Chargenfreigaben auf dem EU-Markt durchführen können. Angesichts dessen sei es von entscheidender Bedeutung, dass die EU im Falle eines „No Deal“-Brexit in Großbritannien bereits durchgeführte Kontrollen in der EU vorübergehend anerkennt.
Lagerbestände aufgestockt
Die pharmazeutische Industrie hat in den letzten Jahren alle möglichen Vorkehrungen getroffen, um die größten Härten für die Arzneimittelversorgung durch den Brexit abzufangen. Viele Unternehmen haben ihre Lagerhaltung auf dem Kontinent und in Großbritannien aufgestockt, damit die Präparate näher bei den Patienten gelagert sind. Die Vorbereitungen hierfür liefen auf Hochtouren, berichtete der Vorstandsvorsitzende des britisch-schwedischen Pharmakonzerns Astra Zeneca Leif Johansson, im Oktober des letzten Jahres in einem Gespräch mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ). Für die Hersteller seien die Vorbereitungen auf den Brexit ein Rennen gegen die Zeit.
„Großbritannien muss für klare Verhältnisse sorgen“
Der Bundesverband der Arzneimittel-Hersteller (BAH) befürchtet für den Fall eines ungeordneten Brexits „chaotische Zustände mit unabsehbaren Folgen“ und setzt auf nationale Lösungen, um die Arzneimittelversorgung zu sichern. Nach Angaben von Destatis, auf die der Verband sich beruft, haben deutsche Arzneimittelhersteller im Jahr 2016 Waren im Wert von 6,3 Milliarden Euro nach Großbritannien exportiert und im Wert von 2,2 Milliarden Euro importiert. Der Vorstandsvorsitzende des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie e. V. (BPI) Dr. Martin Zentgraf sagt in einer aktuellen Pressemitteilung: „Wir können nur hoffen, dass es hier nicht auf beiden Seiten zu Lieferengpässen kommt.“ An die Briten sendet er eine klare Botschaft: „Großbritannien, sei es nun EU-Mitglied oder nicht, muss deshalb für klare Verhältnisse sorgen, damit sich pharmazeutische Unternehmen auf das konzentrieren können, wofür sie da sind: Arzneimittel für eine flächendeckend optimale europäische Gesundheitsversorgung bereitzustellen.“
Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) stellt aktuell klar, dass bereits freigegebene Waren, bei denen Zulassungsinhaber oder verantwortliche Personen oder Aktivitäten noch in Großbritannien angesiedelt sind, die aber vor dem 30. März 2019 in die EU oder den EWR verbracht wurden, weiterhin im Markt bleiben dürfen. Neue Ware, bei denen die Personen oder Aktivitäten nach dem 29. März 2019 noch in Großbritannien angesiedelt sind, dürften ab dem 30. März 2019 jedoch nicht mehr in die EU oder den EWR eingeführt werden. |
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