Arzneimittel und Therapie

Cannabis im Therapiealltag

Handlungsempfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin bieten Orientierung

Auch mehr als zwei Jahre nach Lega­lisierung von medizinischem Cannabis ist die Verunsicherung vor allem in der Ärzteschaft, aber auch in den Apotheken, immer noch spürbar. Im Spannungsfeld zwischen medizinischem Einsatz einerseits und Missbrauch von Cannabis als Freizeitdroge anderseits fühlen sich Verordner oftmals alleingelassen. Um diese Informationslücke zu schließen, hat die Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin (DGS) die Praxisleitlinie „Cannabis in der Schmerztherapie“ veröffentlicht.

Ein Abschätzen, ob eine Cannabis-Therapie im konkreten Patientenfall eine sinnvolle und zielführende Therapieoption ist, fällt oftmals schwer. Zumal zwar zahlreiche kontrollierte klinische Studien, Metaanalysen und systematische Reviews publiziert sind, ein einheitliches Bild bezüglich belegter Wirksamkeit in den einzelnen Indikationen aus diesen jedoch nicht klar ableitbar ist.

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Orientierung bietet die DGS-Praxisleitlinie mit praktischen, offen gestalteten Empfehlungen. Dabei grenzt sich die Leitlinie von klassischen Therapieleitlinien dadurch ab, dass sie nicht ausschließlich den evidenzbasierten Ansatz verfolgt, sondern versucht, den Patienten verstärkt in den Mittelpunkt zu rücken und diesem eine möglichst sichere und sinnvolle Therapie zur Verfügung zu stellen. Trotzdem dienen fast 400 Literaturstellen aus Datenbanken, Expertenmeinungen und Veröffentlichungen als Grundlage aller Ausführungen, Empfehlungen und Bewertungen. Diese Basis führt zu drei klar definierten Empfehlungsgraden – A, B und C –, wie dies bei klassischen Leitlinien der Fall ist. So beschreiben A-Empfehlungen den besten Evidenzgrad und basieren auf randomisierten Studien bzw. Metaanalysen. Während die B‑Empfehlungen schon weniger hochwertige Studien als Grundlage haben, resultieren C-Empfehlungen auch in dieser Leitlinie aus Konsensusmeinungen und kleineren, nicht kontrollierten Studien.

Unterschiedliche Evidenz in verschiedenen Indikationen

Die Leitlinienautoren sehen einen starken Empfehlungsgrad (A) für den Einsatz von Cannabis vor allem bei chronischem Schmerz, Tumorschmerz, nichttumorbedingten Schmerzen, neuropathischem Schmerz, Schlafstörungen bei chronischem Schmerz und spastischem Schmerz bei multipler Sklerose. Diese Indikationen sind somit als primäre Einsatzgebiete seitens der Handlungsempfehlung zu betrachten.

Bei Untergewicht, Appetitlosigkeit bzw. Kachexie, Morbus Crohn (Schmerz und Gewicht), Übelkeit und Erbrechen bei Chemotherapie hingegen ist diese Empfehlung auf Basis der vorliegenden Ausführungen weniger stark ausgeprägt und „nur“ mit dem Empfehlungsgrad B versehen.

Kleinere Studien und Konsensus­meinungen liegen für den viszeralen Schmerz, das Tourette-Syndrom und rheumatologisch ausgelöste Schmerzen vor.

Von einer Behandlung neuropsychiatrischer Erkrankungen im Rahmen einer schmerzmedizinischen Betreuung muss nach Aussage der Leitlinienautoren aktuell aufgrund der Studienlage abgeraten werden.

Individuell dosieren

Gerade für die Apotheke sind im ­Rahmen der Rezepturherstellung ­Fragen zur Dosierung wichtig, um Plausibilitäten zu prüfen. Die vorliegende Leitlinie weist darauf hin, dass eine individuelle, niedrige Einstiegsdosierung langsam bis zur individuellen Zieldosis auftitriert wird. Wobei hier oftmals größere Zielspannen angegeben werden.

Auf Nebenwirkungen hinweisen

Nicht auszuschließen sind unerwünschte Arzneimittelwirkungen. Nebenwirkungen wie Halluzinationen oder Verwirrtheit sollen an dieser Stelle beispielhaft als zentralnervöse Variante genannt werden. Ebenfalls verweist die Handlungsempfehlung auf eine gegebenenfalls eingeschränkte Verkehrstüchtigkeit, die im Rahmen eines Abgabegesprächs in der Apotheke Thema sein kann. Patienten sollten dabei unbedingt auf die Problematik hingewiesen werden. Ebenfalls prominent genannt wird Müdigkeit, Mundtrockenheit, Tachykardie und orthostatische Beschwerden mit Schwindel. Allerdings kann man davon ausgehen, dass sich diese Nebenwirkungen innerhalb weniger Tage bessern.

Daten zur Anwendung von medizinischem Cannabis

Schmerz ist in Deutschland der häufigste Grund für eine Cannabis­Verordnung. Den Ergebnissen der Begleit­erhebung des Bundesinstituts für ­Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) zufolge liegt der Anteil der Verordnungen in dieser Indikation bei knapp 70% (Stand 26. März 2019). Als weitere Anwendungsgebiete wurden Spastik (11%), Anorexie/Wasting (8%), Übelkeit und Erbrechen (4%), Depression (3%) und Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (2%) angegeben. Weitere Indikationen machten jeweils max. 1% der Verordnungen aus. Allerdings brach rund ein Drittel der Patienten (37,5%) die Behandlung wieder ab. Nahezu jeder zweite (44,5%) bemängelte eine unzureichende Wirkung.

[Quelle: BfArM. Cannabis als Medizin: Erste Erkenntnisse aus der Begleiterhebung, vorgestellt am 9. Mai 2019; www.bfarm.de]

Interaktionen im Blick behalten

Im Rahmen eines Medikationsmanagements oder auch einfach im Sinne eines Interaktions-Checks ist das Wechselwirkungspotenzial von Cannabis und der Cannabinoide für die Apotheke von besonderer Bedeutung. Die vorliegende Handlungsempfehlung verweist an dieser Stelle auf das Cytochrom-P-450-System. Interaktionen ausgehend von Cannabinoiden, z. B. durch Ketoconazol im Sinne einer Wirkverstärkung von Tetrahydrocannabinol (THC), sind beschrieben, ebenso eine Wirkverstärkung bei zentral­sedierenden Substanzen oder Muskelrelaxanzien. Beim Einsatz im Sinne einer Appetitsteigerung bei HIV-Patienten sind denkbare Wechselwirkungen mit typischen HIV-Wirkstoffen zu berücksichtigen. Über eine Dosisanpassung soll nach Ausführung der Leitlinienautoren auch bei CYP3A4-Induktoren wie Rifampicin, Carbamazepin, Phenobarbital und Johannis­kraut nachgedacht werden. Diese können die THC-Wirkung verstärken. Bei vermehrt auftretenden Stürzen muss ebenfalls an eine unerwünschte Cannabinoid-Wirkung gedacht werden.

Schlussendlich verweist die vorliegende Leitlinie auf etwaige „Wechselwirkungen“ zwischen Cannabidiol (CBD) und THC. Auch wenn beide Substanzen in der Pflanze vorkommen, ver­halten sie sich in Bezug auf bestimmte Effekte wie Agonist und Antagonist. Diese Tatsache kann gewünscht sein, führt aber auch zu „Enttäuschungen“ wenn Patienten zum Beispiel bestimmte Wirkungen des THCs erwarten.

Auf Blüten besser verzichten

Auf die Frage, welche Cannabis-Zubereitungen in der Therapie zur Anwendung gelangen sollen, stellen sich die Leitlinienautoren klar gegen die Verwendung von Cannabis-Blüten. Begründet wird dies durch die erhebliche Variabilität an Wirkstoffkonzentrationen, bedingt durch die Schwankungsbreite im Drogenmaterial und durch Zubereitungsprozeduren, die diese noch zusätzlich verstärken können. In Summe resultiert daraus eine nicht unerhebliche Dosierungsproblematik. Auch auf eine mögliche missbräuchliche Verwendung wird in diesem Zusammenhang hingewiesen. Demnach eignen sich für einen therapeutischen Einsatz Fertigarzneimittel auf Extraktbasis (Nabiximols, Sativex®) sowie Reinsubstanzen wie der Rezepturwirkstoff Dronabinol oder das Fertigarzneimittel Canemes® mit dem synthetischen Cannabinoid Nabilon.

Keine Regelleistung

Die Leitlinie beschreibt zudem die für Cannabis und Cannabinoide geltenden Verordnungsmodalitäten: Eine Cannabinoid-Therapie gehört – mit Aus­nahme der beiden Fertigarzneimittel Canemes® und Sativex® eingesetzt jeweils in der zugelassenen Indikation – nicht zur Regelleistung der Kranken­kassen. Es bedarf einer Kostenübernahme auf Antrag. Allerdings bleibt festzuhalten, dass die Apotheke bei der Abgabe hier nicht prüfpflichtig ist. |

Literatur

Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin e. V. (DGS). Praxisleitlinien Schmerzmedizin. Cannabis in der Schmerzmedizin 2018. Version 1.0 für Fachkreise. www.dgs-praxisleitlinien.de

Dr. Mario Wurglics, Goethe-Universität Frankfurt am Main

Dr. Christian Ude, Stern-Apotheke Darmstadt

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