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Schwerpunkt Medikationsmanagement
Erste Schritte
Wie man sich an das Medikationsmanagement herantastet
„Königsdisziplin“, „Leuchtturmprojekt“ oder „Champions League“ – wenn Apotheker über pharmazeutische Dienstleistungen wie die Medikationsanalyse oder das Medikationsmanagement sprechen, dann schwingt immer ein wenig Stolz, Ehrfurcht und Wehmut mit. Seit mehr als 30 Jahren vergehen wahrscheinlich kein Deutscher Apothekertag und keine Kammerfortbildung, in der nicht über den aktiven Einfluss der Apotheker auf den Medikationsprozess gesprochen wird. Die regelmäßige Quintessenz: Die Arzneimittelfachleute könnten, wenn sie nur dürften, die arzneimittelbezogenen Probleme der Patienten am besten lösen und damit jeden Fall und das System insgesamt positiv beeinflussen. Bisher fehlte jedoch der gesundheitspolitische Wille, die Apotheker intensiver in die Betreuung von chronisch Kranken oder bestimmten Patientengruppen einzubeziehen. Selbst ein dem Berufsstand durchaus wohlgesonnener Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) schaffte 2016 mit seinem E-Health-Gesetz lediglich die Voraussetzung dafür, dass die Apotheker den Medikationsplan auf Wunsch des Versicherten ergänzen dürfen. Bis heute sind dafür weder eine Verpflichtung noch eine Vergütung vorgesehen. Die unentgeltliche Dienstleistung der Apotheke beim Medikationsplan ist folglich an eine Arzneimittelabgabe gekoppelt, die Aktualisierung kann somit auch nur Präparate betreffen, die der Patient in der jeweiligen Apotheke bezieht.
Auch aus der Ärzteschaft gibt es immer wieder Vorbehalte, obwohl es zunehmend eine wissenschaftliche Evidenz dafür gibt, dass pharmazeutische Betreuung und Interventionen den Patienten nutzen. Im Juni 2019 brachte beispielsweise die von der ABDA geförderte PHARM-CHF-Studie zu Tage, dass Herzinsuffizienz-Patienten von einer intensivierten pharmazeutischen Betreuung profitieren, weil ihre Adhärenz für die leitliniengerechte Therapie durch Apotheker erhöht werden kann. Darüber hinaus beschäftigen sich viele Diplom- und Promotionsarbeiten aus dem Bereich Klinische Pharmazie mit genau diesen Fragestellungen. Mittlerweile existieren deutschlandweit Pilotprojekte und Fortbildungsangebote unter Federführung von Apothekern. Und positive Erfahrungen kommen natürlich auch aus dem internationalen Umfeld.
Besuch auf der Schwäbischen Alb
Wie gelingt es aber, das fachliche Wissen und vor allem die notwendigen Fähigkeiten in das Apothekenteam einzubringen? Diese Frage beschäftigte auch Philipp Wälde aus Göppingen von der Schwäbischen Alb. Nach seinem Pharmaziestudium in Halle (Saale) übernahm er 2013 seine erste eigene Apotheke in Bartenbach, einem Stadtbezirk von Göppingen. Der heute 34-Jährige stammt aus einer Apothekerfamilie und beide Elternteile sind selbstständig (Abb. 1). Wälde wollte von Anfang an etwas Eigenes auf die Beine stellen, verschiedene Versorgungsformen ausprobieren und seiner Apotheke einen individuellen Auftritt verpassen. So richtete er in der Apotheke in Bartenbach ein Reinraumlabor ein und begann mit der Verblisterung von Tabletten für Heimbewohner. 2016 übernahm er eine zweite Apotheke in der Nachbargemeinde Rechberghausen und firmierte seinen kleinen Filialverbund in „Bless You Apotheken“ um. Apotheke Nummer drei folgte im April 2019, und diesmal war es tatsächlich der Betrieb seiner Mutter, Dr. Beate Zeeb-Wälde, die sich in den Ruhestand verabschieden möchte. Seit letztem Jahr beschäftigt sich Wälde mit der Frage, wie er die Approbierten seines Teams am besten an das Thema Medikationsmanagement heranführen kann. Er sah, dass der gesundheitspolitische Wind aktuell günstig steht: In einigen Jahren könnten die Apotheker mit dieser Kompetenz eine wichtige Dienstleistung anbieten. Doch was genau ist eigentlich ein Medikationsmanagement? In Gesprächen mit seinen Angestellten und im Austausch mit der Apothekergeneration seiner Eltern musste Wälde feststellen, dass ganz unterschiedliche Vorstellungen herrschen und schnell kommen wichtige Fragen auf: Lassen sich Medikationsanalysen überhaupt spontan und im laufenden Betrieb durchführen? Oder sollten Patienten zu bestimmten Terminen einbestellt werden? Wie genau muss der Austausch mit den Ärzten stattfinden, damit aus der Analyse am Ende auch eine erfolgreiche pharmazeutische Intervention wird?
In den „Bless You Apotheken“ arbeiten sowohl jüngere als auch ältere Apotheker mit unterschiedlichen Berufserfahrungen. Die Affinität zu klinischen und pharmakologischen Fragestellungen ist bei ihnen genau so verschieden ausgeprägt, wie der Umgang mit der dafür notwendigen, komplexen Software. Die Stärken zu verknüpfen, darauf kommt es Wäldes Meinung nach an. So sei seine Mutter als promovierte Pharmazeutin mit ihrer langjährigen Erfahrung eine exzellente Löserin arzneimittelbezogener Probleme – aber eben mit Stift und Papier. Jüngere Apotheker wären dagegen im Umgang mit Computern versierter, hätten aber zum Teil Wissens- und Erfahrungslücken.
Was ist ATHINA?
ATHINA steht für „Arzneimitteltherapiesicherheit in Apotheken“. In der speziellen Fortbildung der Landesapothekerkammern werden seit 2012 Kenntnisse vermittelt, um eine Medikationsanalyse durchführen zu können. Ziel ist es, das Medikationsmanagement praxisnah und nach einheitlichen Qualitätsstandards in den öffentlichen Apotheken zu implementieren. Das Curriculum beinhaltet sowohl den Prozess der Medikationsanalyse als auch Grundlagen zum Interaktionsmanagement und umfasst das Erkennen, Bewerten und Lösen von arzneimittelbezogenen Problemen sowie Aspekte der Dokumentation und der Kommunikation.
An zwei Tagen theoretischer Qualifizierung erlernen die Teilnehmer die Grundfertigkeiten und sind im anschließenden praktischen Teil gefordert, Patientenfälle in der Apotheke zu bearbeiten und zu dokumentieren. Hierbei werden gemeinsam mit dem Patienten ausführlich und systematisch alle Arzneimittel und Nahrungsergänzungsmittel analysiert sowie arzneimittelbezogene Probleme besprochen. Am Ende soll dem Patienten ein überprüfter, aktueller Medikationsplan ausgehändigt werden. Die interprofessionelle Zusammenarbeit mit den Ärzten ist dabei ausdrücklich erwünscht.
Bei der praktischen Umsetzung stehen den Apothekern Tutoren zur Seite, begleitend werden exklusive kostenlose Online-Seminare angeboten, die sich jeweils mit einem bestimmten Krankheitsbild beschäftigen.
Nach erfolgreich absolvierter Schulungs- und Praxisphase erhalten die Apotheker ein ATHINA-Zertifikat, das drei Jahre gültig ist. Bundesweit haben bisher mehr als 2000 Teilnehmer die Schulung durchlaufen, mehr als 1000 Apotheker sind zertifiziert.
Um alle auf ein Level zu bringen, ermöglichte Wälde vor rund einem Jahr den Apothekern seines Filialverbundes an der ATHINA-Fortbildung der Landesapothekerkammer Baden-Württemberg teilzunehmen (s. Kasten „Was ist ATHINA). Er selbst ließ sich natürlich auch weiterbilden. Mit diesem Rüstzeug hätten die Apotheken beste Voraussetzungen, die Medikation von Patienten zu überprüfen und gegebenenfalls umzustellen, so Wälde. Doch für eine erfolgreiche pharmazeutische Intervention müssen natürlich auch die Ärzte mit ins Boot genommen werden.
Diese zweite Stufe der Vorbereitung findet in den „Bless You Apotheken“ gerade statt. Für September hat Wälde einen Qualitätszirkel organisiert und vier Hausärzte und einen Neurologen aus der unmittelbaren Umgebung zu einem informellen Austausch eingeladen. Wälde und sein Team wollen den Medizinern das ATHINA-Konzept vorstellen und deutlich machen, was genau mit einem systematischen Medikationsmanagement erreicht werden kann. Im Gegenzug haben die ärztlichen Kollegen zugesagt, komplizierte Patientenfälle mitzubringen, die dann gemeinsam besprochen werden können.
Weitere dringende Fragen, die sich Wälde schon gestellt hat, betreffen natürlich die Honorierung dieser Dienstleistung. Die häufig genannten 65 Euro hält er für zu wenig. Mit den Erfahrungen aus den Patientenfällen im Rahmen der ATHINA-Fortbildung würde er mindestens den doppelten Betrag veranschlagen. Der Betrag müsse nämlich sowohl Personal- als auch Betriebskosten abbilden. Viel eher plädiert Wälde für eine häppchenweise Honorierung. Kleinere Beträge müssten sich individuell zusammensetzen lassen. Ein Gesamtbetrag, wie beim aktuellen Packungshonorar, birgt immer die Gefahr, zum Spielball der Politik und Krankenkassen zu werden, und dabei würden die Apotheker eher den Kürzeren ziehen.
Auch die Rolle der PTA sollte man nicht unterschätzen. Gerade im Hinblick auf die geplante Ausbildungsreform käme dem pharmazeutischen Assistenzberuf eine noch wichtigere und prominentere Rolle in der Apotheke zu. PTA könnten im Rahmen des Beratungsgesprächs den Bedarf bei Patienten für eine Medikationsanalyse erkennen. Auch bei der Informationsbeschaffung und dem Einpflegen der aktuellen Therapie in die Dokumentation könnten PTA helfen. Den bürokratischen Aufwand dürfe man nicht unterschätzen, denn es müssen die Dienstleistung auch dokumentiert und Einverständniserklärungen eingeholt werden.
Philipp Wälde, der neben seiner Selbstständigkeit ehrenamtlicher Delegierter in der Vertreterversammlung der Landesapothekerkammer Baden-Württemberg ist, versucht die aktuellen Entwicklungen rund um das Medikationsmanagement auch standespolitisch einzuordnen.
So sei es für ihn fraglich, ob der Berufsstand es wirklich schafft, diese Dienstleistung flächendeckend anzubieten. Wenn kleinere Apotheken, vor allem außerhalb von Filialverbünden, hierfür einen halben oder ganzen Tag einplanen müssten, dann wäre dies betriebswirtschaftlich und personell schwierig zu stemmen. Doch jeder Betrieb sollte prinzipiell die Möglichkeit haben, wenigstens eine Medikationsanalyse durchzuführen, meint Wälde. Schließlich müsse man als Apothekerschaft dafür sorgen, dass sich die Ergebnisse aus den Interventionen auch reproduzieren lassen. Eine wissenschaftliche Begleitung sei immens wichtig. Nur ins Blaue hinein zu analysieren, würde am Ende niemandem helfen. Regelmäßig müssten Ärzte, Krankenkassen und nicht zuletzt die Politik von den Vorteilen empirisch überzeugt werden können.
Besuch im oberfränkischen Fichtelgebirge
Szenenwechsel – auch rund 260 Kilometer weiter nordöstlich, im oberfränkischen Fichtelgebirge, beschäftigt sich ein junger Apotheker intensiv mit diesen Fragestellungen. Kurzerhand entstand zum Jahreswechsel 2018/2019 sogar eine deutsch-amerikanische Zusammenarbeit, die in einer kleinen wissenschaftlichen Arbeit mündete. Doch der Reihe nach: Die amerikanische Pharmaziestudentin Jessica Coats von der South College School of Pharmacy in Knoxville, Tennessee, verbrachte im Rahmen ihres Praktischen Jahres zwei Monate in der Marien-Apotheke Marktredwitz. Dabei erhielt sie nicht nur Einblicke in die Arbeitsabläufe in einer deutschen Apotheke, sondern durfte unter der Leitung von Apotheker Dr. Dominik Bauer sogar ein Projekt zum Medikationsmanagement bearbeiten (Abb. 3). Bauer ist 35 Jahre alt und hat in Tübingen Pharmazie studiert. Die Marien-Apotheke seines Vaters möchte er bald zusammen mit seinem Bruder als OHG weiterführen. Die amerikanische Pharmaziestudentin Coats wertete die Medikationspläne aus einem deutschen Pflegeheim aus, in dem die Patienten ihre Medikation verblistert gestellt bekommen. Routinemäßig wurden bis dato die Medikationspläne vorab auf Kontraindikationen und schwerwiegende Wechselwirkungen überprüft. Unter Zuhilfenahme deutscher und amerikanischer Quellen und Leitlinien überprüfte Coats nach Projektstart die Arzneimitteltherapie systematisch auf weitere arzneimittelbezogene Probleme und erarbeitete mögliche pharmazeutische Interventionen. Dadurch wurden bei fast jedem Heimbewohner weitere Probleme festgestellt: Bei 39 Patienten waren es insgesamt 104 manifeste und potenzielle arzneimittelbezogene Probleme. Hauptursachen waren klinisch relevante Arzneimittelwechselwirkungen, fehlende Indikationen sowie falsche bzw. unklare Applikationszeitpunkte.
Auf Grundlage der strukturierten Analysen arbeitete die Pharmaziestudentin anschließend gemeinsam mit Dominik Bauer Empfehlungen für die verschreibenden Ärzte aus, wie beispielsweise Absetzen des Arzneimittels, Änderung der Anwendungshinweise, Dosisanpassung, Arzneimittel-Rotationen bis hin zum Neuansetzen von bestimmten Präparaten. Für Bauer, der in seinem Praktischen Jahr selbst ein halbes Jahr in den USA verbrachte, sprechen die aus diesem Projekt gewonnenen Erkenntnisse für eine stärkere Einbindung des Apothekers in den Medikationsprozess. Gerade beim Erkennen und Vermeiden von arzneimittelbezogenen Problemen bei Pflegeheimbewohnern sei dies besonders wertvoll.
Das Projekt zeigte, dass das Identifizieren von arzneimittelbezogenen Problemen zeitaufwendig ist und klinische Expertise benötigt. Die häufige Empfehlung, Arzneimittel abzusetzen, verdeutlichte zudem, wie notwendig es ist, die Medikationsanalysen zu finanzieren. Andernfalls wäre eine standardisierte Überprüfung der Medikation in diesem Umfang finanziell und personell für öffentliche Apotheken wirtschaftlich nicht umsetzbar, betonte Bauer. Die wissenschaftlichen Daten des Projekts reichte er für den diesjährigen Kongress des Bundesverbandes Deutscher Krankenhausapotheker (ADKA) in Berlin ein und präsentierte diese vor Ort als Poster. Als Nächstes möchte Bauer die Ergebnisse des Projekts mit seinen Ärzten vor Ort besprechen. Auch eine zukünftige enge und regelmäßige deutsch-amerikanische Zusammenarbeit mit der South College School of Pharmacy steht in Aussicht.
Das Thema Medikationsmanagement bleibt also weiterhin spannand und beschäftigt nicht nur die Apotheker zwischen Schwäbischer Alb und Bayerischem Fichtelgebirge. Ob im Rahmen von Apo-AMTS in Westfalen-Lippe, von ATHINA in zehn weiteren Kammerbereichen oder in Form von Fortbildungsangeboten wie der POP-Serie in der DAZ: Viele Kolleginnen und Kollegen sind bestens vorbereitet und freuen sich, diese Dienstleistung in Zukunft anbieten zu können. |
Zum Weiterlesen
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