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Feuilleton
Der Drogist und die Spalt-Tabletten
Vor 60 Jahren: Ein Plädoyer für die Apothekenpflicht
Das Arzneimittelgesetz von 1961 gilt als Meilenstein in der Geschichte des deutschen Arzneimittelrechts. Bis zu seinem Inkrafttreten wurde der Arzneimittelverkehr durch ein historisch gewachsenes Geflecht aus unterschiedlichsten Rechtsvorschriften auf Bundes- und Landesebene reguliert, die zum Teil noch aus vordemokratischer Zeit stammten. Vor allem waren es zwei Rechtsverordnungen aus den Jahren 1901 und 1943 über die Apothekenpflicht (Kaiserliche Verordnung vom 22. Oktober 1901) und die Herstellung von Arzneispezialitäten (Stoppverordnung des Ministerrats für die Reichsverteidigung vom 11. Februar 1943), die zu juristischen Auseinandersetzungen führten – mit Folgen, die bis heute nachwirken.
Vor genau 60 Jahren entschied das Bundesverfassungsgericht über die Gültigkeit dieser beiden Rechtsnormen. Dies war ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Harmonisierung und Vereinheitlichung des deutschen Arzneimittelrechts – wie der folgende Streit um die Abgabe von Spalt-Tabletten zeigt.
Hart umkämpfte Weichenstellungen
Vor 60 Jahren prägte ein heftiger Konflikt den Arzneimittelmarkt. In der Gründungsphase der Bundesrepublik versuchten verschiedene Interessengruppen, Berufsverbände und Politiker, ihre Vorstellung auf diesem gesundheits- wie wirtschaftspolitisch wichtigen Feld zu verwirklichen. Dabei wurden viele, bis heute wegweisende Weichen gestellt. Dies galt nicht nur für die Niederlassungsfreiheit, die im sog. Apotheken-Urteil von 1958 behandelt wurde (DAZ 2018, Nr. 19), sondern auch für Fragen der Apothekenpflicht von Arzneimitteln und ihrer industriellen Herstellung.
Als das Grundgesetz in Kraft trat, war die Apothekenpflicht zum Teil heftigen Angriffen ausgesetzt. Treibende Kraft waren dabei nicht zuletzt die Drogisten, die in dieser Abgaberegulierung eine unzulässige Einschränkung ihrer Berufsfreiheit sahen. Im Mittelpunkt stand dabei der sogenannte Spalt-Tabletten-Fall: Georg Michelsen hatte in seiner Drogerie in Neumünster wiederholt Kopfschmerztabletten der Marke Spalt verkauft.
Der Apothekerschaft war dies ein Dorn im Auge. Die 1950 von der ABDA und anderen Verbänden gegründete „Interessengemeinschaft zur Abwehr des ungesetzlichen Arzneimittelhandels“ ging mit einer Unterlassungsklage gegen Michelsen vor. Nachdem der Fall bereits das Landgericht Kiel und das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht beschäftigt hatte, urteilte der Bundesgerichtshof am 29. Januar 1957, Michelsen sei als Drogist nicht befugt, Kopfschmerz- bzw. Spalt-Tabletten zu verkaufen [1].
Die „Kaiserliche Verordnung“ von 1901
Die Vorschrift, die Michelsen den Verkauf der Tabletten untersagte, war die sog. Kaiserliche Verordnung vom 22. Oktober 1901. Mit ihr wurde die Apothekenpflicht neu gefasst, weil durch die Gewerbefreiheit jede Person legal Arzneimittel produzieren durfte, auch ohne fachliche Qualifikation und behördliche Erlaubnis. Die Kaiserliche Verordnung enthielt ein Verzeichnis von Darreichungsformen, die ausschließlich in Apotheken abgegeben werden durften, sofern sie zu Heilzwecken dienten (etwa Salben, Tabletten oder Zäpfchen). Ein weiteres Verzeichnis führte jene Stoffe auf, die ausnahmslos dem Apothekenverkauf vorbehalten waren (etwa Opiate, Phenacetin oder Tuberkulin) [2].
Die Kaiserliche Verordnung wurde durch Streichungen und Ergänzungen insgesamt 13 Mal überarbeitet. Die letzte Änderung erfolgte im Oktober 1933 [3].
Ein Grundrechtsverstoß?
Michelsen sah sich durch das Urteil des Bundesgerichtshofes und die Kaiserliche Verordnung in seinen Grundrechten auf Berufs- und Gewerbefreiheit verletzt. Seiner Auffassung nach war das Apothekenmonopol „gesundheitspolitisch nicht zu rechtfertigen“, da für bestimmte Arzneifertigwaren, darunter auch Spalt-Tabletten, ohnehin eine Publikumswerbung erlaubt war. Die Kaiserliche Verordnung bezweckte aus Sicht des Drogisten vielmehr allein die „wirtschaftliche Sicherung eines Berufstandes“. Michelsen erkannte darin auch eine Herabsetzung des Berufstandes der Drogisten und eine Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes.
Das Bundesverfassungsgericht wies die Beschwerde am 7. Januar 1959 zurück. Die Richter machten deutlich, dass auch Rechtsverordnungen aus vorkonstitutioneller Zeit die Berufsausübung verbindlich regeln können. Die Kaiserliche Verordnung verletze, so die Richter in ihrer Begründung, „auch dadurch kein Grundrecht, daß sie Arzneifertigwaren, für die frei geworben werden darf, der Apothekenpflicht unterwirft.“ Das Gericht verwies hier auf das „Apotheken-Urteil“. Einschränkungen der Berufsfreiheit waren demnach verfassungsmäßig, soweit dies zum Schutz überragend wichtiger Güter erforderlich war.
Beratung durch die Apotheker unverzichtbar
Zu diesen Gütern zählte fraglos das Gemeinwohl. Dieses erforderte aber laut den Richtern aus mehreren Gründen eine Apothekenpflicht. Um einem „Heilmittelmißbrauch“ vorzubeugen, sei die Beschränkung der Abgabestellen erforderlich. Zudem könne auch bei rezeptfreien Präparaten „auf die sachverständige Beratung durch den Apotheker hinsichtlich der Auswahl des Heilmittels und seiner Anwendung kaum verzichtet werden“. Dies setze aber umfassende Kenntnisse voraus, die nur der Apotheker im Rahmen von Studium und Ausbildung erwerbe. Es sei daher nur „sachgerecht, wenn der Gesetzgeber die Abgabe von Arzneimitteln im Interesse einer geordneten Gesundheitspflege der Apotheke vorbehält.“
Schließlich sei auch die „Hebung und Erhaltung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Apotheken“ ein „berechtigter Zweck“ der Rechtsordnung. Der Handverkauf sei für die Apotheken existenziell, für die Drogerien sei der Ausschluss davon hingegen eine „zumutbare Belastung“, zumal diese bei einer Aufhebung der Apothekenpflicht selbst der Konkurrenz durch andere Geschäfte ausgesetzt wären. Die Kaiserliche Verordnung war laut dem Gericht also „mit dem Grundgesetz vereinbar“ [4]. Dieser Beschluss erkannte demnach die Apothekenpflicht auch für rezeptfreie Arzneimittel als verfassungsmäßige Rechtsnorm an.
Eine „kaisertreue“ Apothekerschaft?
Die Kaiserliche Verordnung galt vorerst weiter, bis 1969 zwei im Arzneimittelgesetz vorgesehene Rechtsverordnungen Freiverkäuflichkeit und Apothekenpflicht regelten [5]. Auch diese Verordnungen folgten zu wesentlichen Teilen dem bekannten Listenprinzip. Doch der Weg bis zu ihrem Erlass war konfliktreich, da hier abermals die verschiedenen Interessen auszugleichen waren, die bereits vor dem Arzneimittelgesetz von 1961 die Gerichte auf den Plan gerufen hatten. Der Streit wurde bis in die Laienpresse getragen. So berichtete der Spiegel 1968 in seiner gewohnt flapsigen Art, die Apotheker würden „lieber ihrem Kaiser treu bleiben“ [6]. Als die Rechtsverordnungen 1969 ergingen, berücksichtigten sie auch jene Probleme, die vor Gericht verhandelt wurden – mit Nachwirkungen bis heute. Teile der beiden Verordnungen von 1969 finden sich in den heutigen Regelungen zur Apothekenpflicht wortwörtlich wieder. |
Quelle
[1] BGHZ 23, S. 184. Der BGH hatte bereits am 16.11.1956 in einem ähnlichen Fall geurteilt, dass die Kaiserliche Verordnung grundgesetzkonform sei und weitergelte (BGHZ 22, S. 167). Allerdings ging dieser Fall nicht bis vor das Bundesverfassungsgericht.
[2] RGBl. 1901, S. 380.
[3] RGBl. 1933, Teil I, S. 721.
[4] BVerfGE 9 (1959), S. 73. Die Verfahrensakten des BVerfG: Bundesarchiv, B 237/89948, 89949.
[5] BGBl. 1969, Teil I, S. 1651–1661, 1662–1666.
[6] „Angst vor der Liste“, Der Spiegel, Nr. 4/1968.
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