- DAZ.online
- DAZ / AZ
- DAZ 24/2019
- Happy Birthday, Lochkarte...
Feuilleton
Happy Birthday, Lochkarte!
Vor 50 Jahren wurde die ABDA-Lochkarte geboren
Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts waren zahlreiche von der pharmazeutischen Industrie hergestellte Fertigarzneimittel, sogenannte Spezialitäten, auf den Markt gekommen und hatten das Warensortiment der Apotheke gravierend verändert. Die Überwachung des zunehmend durch Spezialitäten geprägten Arzneimittellagers wurde zu einer wichtigen Aufgabe in der Apotheke, insbesondere die Nachbestellung von Fehl- und Minderbeständen. Eine erste Erleichterung ermöglichte das um die Jahrhundertwende eingeführte Defekturbuch, in dem die fehlenden Arzneimittel aufgeführt wurden. In den 1950er- und 1960er-Jahren stieg die Anzahl der Fertigarzneimittel weiter an und stellte die Mitarbeiter der Apotheke vor große Aufgaben [1]. So umfasste das Sortiment einer Apotheke mit durchschnittlichem Umsatz 1969 zwischen 12.000 und 14.000 Einzelpositionen, die verwaltet werden mussten [2]. Bereits in den 1950er-Jahren hatte die von Diplomvolkswirt Josef Lauer (1900 – 1989) aus Fürth gegründete Firma die Lauer’sche Blitztaxe in die Apotheken eingeführt. Sie bestand aus DIN-A4-Blättern, auf welche die von Lauer zur Verfügung gestellten Preise und Preisnachträge aufgeklebt wurden [3]. Zwar erwies sich diese Taxierhilfe für Fertigarzneimittel als umständlich, erleichterte aber dennoch das Taxieren der Rezepte und die Abrechnung mit den Krankenkassen. Ab 1972 wurde die Schnelltaxe durch Mikrofiches abgelöst.
Das Arzneibüro der ABDA, das 1956 aus der „Preiskommission für Arzneispezialitäten“ hervorgegangen war, gab die „Große Deutsche Spezialitätentaxe LAUER-Taxe“ heraus, zu der beispielsweise zwischen dem 1. September 1956 und dem 31. August 1957 24 Nachträge erschienen. Für die Bestellung der Fertigarzneimittel sollte sich indes ein Kärtchensystem als besonders geeignet erweisen. Ein solches Kärtchensystem hatte zunächst der erste Doktorand des Marburger Pharmaziehistorikers Rudolf Schmitz (1918 – 1992), Hans Dadder (1931 – 2003), in Bad Ems aufgrund des Hollerithverfahrens entwickelt; es konnte sich allerdings nicht durchsetzen.
Baldige Verbreitung fand hingegen das von Apotheker Rolf Meess aus Donaueschingen 1961 vorgestellte Kärtchensystem. Die jeweiligen Kärtchen befanden sich in kleinen Rähmchen oder Kunststofftaschen, die am Regal- oder Schubladenfach des Artikels befestigt waren. Sie enthielten die Standardbezeichnung, Einkaufs- und Verkaufspreise, Angaben zur Rezeptpflicht, zur Mindestlagermenge sowie zu tatsächlichen Bestellmengen beim Defektieren. Außerdem gab es Hinweise auf die Großhandlung, bei der bestellt werden sollte. Die Weitergabe des Auftrages an den Großhändler erfolgte jedoch fast immer über das Telefon, wobei solche Anrufe aufwändig waren. Für einen Auftrag von 60 Zeilen benötigte man zwischen 12 und 17 Minuten. Gleichwohl wies das „Meess’sche Kärtchensystem“ bereits den richtigen Weg zu einer rationellen Bestellung. Hierzu mussten jedoch die Kärtchen so gestaltet werden, dass sie maschinenlesbar waren.
Die damals vorhandenen Klarschriftleser erwiesen sich als zu teuer und zudem als technisch noch nicht ausgereift, sodass sie nicht infrage kamen. Eine Alternative bot indes die „Kleinlochkarte“. Hierfür fehlten allerdings noch entsprechende Geräte, die in der Lage waren, die Kleinlochkarten zu lesen und die Daten an den Großhandel zu übermitteln. Noch 1961 war eine Datenübertragung nur zwischen größeren Städten in Europa möglich. Für eine Datenleitung von Frankfurt am Main nach München betrug zudem die monatliche Miete 9.000 DM. Die Firmen IBM, SEL (Standard-Elektrik-Lorenz) und Siemens hatten Ende der 1960er-Jahre Eingabegeräte als sogenannte „Parallelabtaster“ entwickelt, die gelochte Kleinkarten zu lesen und über das Siemens-Modem an die Zentralstation bei einem Großhändler zu übertragen vermochten. Inzwischen hatte der „Technische Arbeitskreis“ der ABDA gemeinsam mit praktischen Apothekern unter Beteiligung des pharmazeutischen Großhandels, der Apothekeneinrichter und Gerätehersteller einige der im Handel befindlichen Kärtchenformen geprüft und die neue einheitliche „ABDA-Lochkarte“ entwickelt, die 1969 vorgestellt wurde. Zugleich wurde die Online-Übertragung von allen Marktbeteiligten unter Führung der DATEG („Datenfernübertragungs-Gerätegesellschaft“) standardisiert und verabschiedet.
Eine neue Art der Bestellung
Die neuen „ABDA-Kärtchen“ für die Bestellungen bestanden aus Kunststoff und besaßen die Maße 24,4 × 50,8 mm, waren 0,4 mm stark und passten in die vorhandenen Rähmchen. Das verwendete Terminal ähnelte äußerlich einem Dia-Projektor. Wenn eine Apotheke Arzneimittel bestellen wollte, musste zunächst die Kundenstammkarte in das Magazin eingelegt werden, damit die Großhandlung erkennen konnte, welche Apotheke der Besteller war. Anschließend steckte man ein Mengenkärtchen in das Magazin, das die Bestellmenge für alle nachfolgenden Artikelkärtchen festlegte. Die Bestellmenge galt nun so lange, bis man ein anderes Mengenkärtchen in das Magazin einfügte, das dann die neue Bestellmenge für die nachfolgenden Artikelkärtchen festlegte. Bestellungen eines Arzneimittels erfolgten immer dann, wenn man einen bestimmten Artikel aus dem Regal oder der Schublade genommen hatte und eine Fehlmenge feststellte. Umgehend entnahm dann der Apothekenmitarbeiter das Bestellkärtchen aus der Kunststofftasche am Regal- oder Schubladenfach und steckte es in das Magazin in den entsprechenden Bestellbereich. Die Apotheke wurde vom Großhändler angerufen und um Auftragsübermittlung gebeten. Daraufhin musste der Apotheker oder sein Mitarbeiter das Modem aktivieren, das Magazin in den Kartenleser einführen und den Startknopf drücken. Die Steuerung erfolgte dann durch die Zentralstation des Großhändlers, und die Übermittlungszeit sank im Vergleich zur früheren telefonischen Auftragsvergabe auf vier bis fünf Minuten. Besonders verdient um die Verbreitung des Kärtchensystems machte sich der Inhaber der Spitzholz-Apotheke in Sindelfingen, Paul Schaber (1915 – 1997), der 1972 über erste Erfahrungen mit dem Lochkärtchen berichtete:
„Die ersten eigentlichen Erfahrungen in einer öffentlichen Apotheke beginnen am 7. Oktober 1969 in der Bahnhof-Apotheke in Reutlingen. Die hier zuerst verwendeten 800 Lochkärtchen hatte die Firma Blezinger in Schwäbisch Hall noch handgefertigt. Diese Lochkärtchen umfaßten lauter gängige Artikel und machten etwa 50% der dort getätigten Bestellungen aus.“ [4]
Ende 1969 lieferte die Firma Fahrenberger aus Meckenheim einen Basissatz mit 10.000 Lochkarten, der von dem Großhändler Ferdinand Schulze & Co. überprüft und mit einer sehr geringen Fehlerzahl als sehr gut befunden wurde. Paul Schaber berichtet weiter:
„In der Spitzholz-Apotheke in Sindelfingen wurde dieser 10000er Basissatz eingebaut, und Ende März 1970 beginnt man hier erstmals, mit ‚vollem Sortiment‘ zu bestellen. Über 75% dieses Satzes konnten verwendet werden. Was noch interessanter ist: Mit diesen ersten Lochkärtchen konnten schon über 90% der Arzneimittel automatisch bestellt werden.“
[4]
Der Vater der Lochkarte
Paul Schaber, Inhaber der Spitzholz-Apotheke in Sindelfingen, wurde am 3. Februar 1915 als Sohn eines Missionars in Australien geboren. 1934 bestand er das Abitur in Freudenstadt und begann 1935 die Praktikantenzeit in der Stadt-Apotheke in Dornstetten. Von 1937 bis 1940 studierte er Pharmazie in Tübingen, Innsbruck und München. Nach dem Krieg, den Paul Schaber teilweise als Heeresapotheker in Russland mitmachte, verwaltete er die Apotheke am Markt in Herrenberg sowie die Dr. Magersche Apotheke in Winnenden. 1950 pachtete er die Löwen-Apotheke in Leonberg. Infolge des „Karlsruher Urteils“ konnte er 1964 die Löwen-Apotheke in Sindelfingen eröffnen, doch familiäre Schwierigkeiten zwangen ihn 1964 nochmals zu einem Neuanfang in der Spitzholz-Apotheke. Seit 1948 war Schaber Mitglied des erweiterten Vorstandes der „Württembergischen Apothekerschaft“ und leistete in der Helferinnenausbildung Pionierarbeit. 1966 wurde er Mitglied der Vollversammlung der „Landesapothekerkammer Baden-Württemberg“, der er bis zu seiner Ernennung zum Pharmazierat 1971 angehörte; außerdem war er Vorsitzender des „Rationalisierungsausschusses des Apothekervereins Württemberg“. Schaber kann als „geistiger Vater“ der automatischen Bestellweise gelten; er war ein „schwäbischer Tüftler“. Wo immer über Rationalisierung, Lochkarten und EDV gesprochen wurde, fiel auch sein Name. Am 4. Mai 1980 wurde Schaber für seine Verdienste bei der Rationalisierung in der Apotheke mit der „Ehrennadel der Deutschen Apotheker“ geehrt. Neben seinen Aktivitäten auf dem Gebiet der Bestell- und Computertechnik interessierte sich Schaber insbesondere für die Botanik des Mittelmeerraumes. Am 9. November 1997 verstarb er in seinem Geburtsland Australien [7, 8].
Verbreitung der Lochkarte
1970 schlossen sich weitere Apotheken aus Schwenningen, Heidelberg, Heppenheim, Worms, Speyer und Stuttgart dieser Bestellweise an, wie Schaber berichtet:
[4]
Nach den anfänglichen Versuchen setzte sich das System schnell durch. 1971 arbeiteten bereits 3.500 Apotheken, das entsprach 35%, und 1978 11.000, das waren 70% aller Betriebe, mit diesem System. Eine weitere Optimierung ermöglichten dann elektronische Bestellterminals, die bereits in Richtung der Entwicklung eines eigenen Apothekencomputers wiesen. An der Standardisierung und Normierung der sogenannten ABDA-Lochkarte hatten die jeweiligen Leiter des Arzneibüros Heinz Glück (1913 – 1990) sowie Lothar Hempel (1935 – 2018) und Apotheker Theo Blezinger aus Schwäbisch Hall, der die ersten handgefertigten Lochkärtchen herstellte, mitgewirkt.
Zur Einführung der ABDA-Lochkarte fanden in den 1970er-Jahren Informationsveranstaltungen für Apotheker in allen Bundesländern statt, zunächst vor allem in Baden-Württemberg und dem südlichen Rheinland-Pfalz [5]. Die 1972 erschienene 38-seitige Broschüre „Die Apotheke von heute“ von Paul Schaber und Walter Dambier informierte firmenneutral über das Kärtchensystem sowie die automatische Bestellweise. Das Kärtchensystem, auch als POR-System bezeichnet, behielt bis in die 1980er-Jahre Gültigkeit und prägte somit den Apothekenalltag. Danach wurde es durch ein elektronisch gestütztes vollautomatisches Bestellsystem (POS-System), das auch die Warenlagerung regelte, abgelöst.
Die ABDA-Lochkärtchen ermöglichten zudem eine erhöhte Umschlaggeschwindigkeit des Warenlagers, die im Bundesdurchschnitt zunächst 7-fach war und nun auf das 10- bis 15-Fache erhöht werden konnte [6], was den Apothekern eine Einsparung von Lagerkapazität und Geld gestattete. |
Literatur
[1] Christoph Friedrich, Wolf-Dieter Müller-Jahncke: Geschichte der Pharmazie. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart (Geschichte der Pharmazie / R. Schmitz; 2). Eschborn 2005,959f.
[2] Christoph Friedrich: „Es wird an uns liegen, diesem Namen Inhalt zu geben“. Die Geschichte der ABDA von 1950 bis 2000. Eschborn 2000,152-154.
[3] Christoph Friedrich: Zukunft im Rückspiegel: 60 Jahre LAUER-FISCHER. Teil 2. In: primo. Die Kundenzeitschrift der ARZ Haan AG. H. 3 (2010),18-21.
[4] Paul Schaber: ABDA-Lochkarte und automatische Bestellweise. Rückblick – heutiger Stand – Ausblick. In: Deutsche Apotheker Zeitung 1972;112:721.
[5] Wolf-Dieter Müller-Jahncke (Bearb.): Die Geschichte des Landesapothekerverbands Baden-Württemberg. Hrsg. v. Landesapothekerverband Baden-Württemberg. Hamburg 2014,361-363.
[6] Paul Schaber, Walter Dambier: Die Apotheke von heute. Frankfurt/M. 1972.
[7] Horst Spegg: Pharmazierat Paul Schaber, Sindelfingen, 60 Jahre. In: Deutsche Apotheker Zeitung 1975;115:163 f.
[8] Else Zeller: Zum Tod von Pharmazierat a.D. Paul Schaber. In: Deutsche Apotheker Zeitung 1997;137:4436.
1 Kommentar
Lochkarten
von Gudrun Carius am 15.06.2019 um 13:15 Uhr
» Auf diesen Kommentar antworten | 0 Antworten
Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.