Arzneimittel und Therapie

Cave Kieferknochennekrose

Wann Arzneimittel gefährlich werden können

Kieferknochennekrosen stellen eine seltene, aber schwere Nebenwirkung von antiresorptiven Osteoporosetherapeutika und einigen in der Tumortherapie eingesetzten Angio­genesehemmstoffen dar. Das Auftreten von Kieferknochen­nekrosen wird maßgeblich von der gewählten Dosis und Applikationsroute beeinflusst. So ist das Risiko bei Tumorpatienten höher als bei Patienten mit Osteoporose. Durch Kenntnis der individuellen Risikofaktoren und der entsprechenden Präventionsmaßnahmen lässt sich die Gefahr minimieren.
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Durch regelmäßige Inspektion der Mundhöhle kann eine Kieferknochen­nekrose frühzeitig erkannt werden.

Arzneimittelinduzierte Kiefer­knochennekrosen (KKN) oder Osteonekrosen des Kiefers (ONJ) treten eher selten auf, sind jedoch mit einer erheblichen – zum Teil dauerhaften – Einschränkung der Lebensqualität der betroffenen Patienten verbunden [1, 2]. Mögliche Symptome einer Kiefer­knochennekrose umfassen Schmerz, Schwellung, Eiterherde und Schleimhautulzerationen im Mund-Kieferbereich, sowie Zahnverlust. Neben kosmetischen Problemen können Kieferknochennekrosen dauerhaft erheb­lichen Einfluss auf die Nahrungsaufnahme, das Sprechen und die Dentalhygiene haben.

Der genaue pathophysiologische Mecha­nismus für die Entstehung von Kieferknochennekrosen ist bislang unbekannt. Möglicherweise stellt sich der Kieferknochen aufgrund seiner hohen Rate des Knochenumbaus und seiner hohen Exposition oral aufgenommener Keime als besonders vulnerabel für diese Störwirkung durch anti­resorptive und die Angiogenese beeinflussende Arzneistoffe dar [3].

Welche Arzneistoffe sind ­riskant?

Arzneistoffe, für die ein Risiko für das Auftreten von Kieferknochennekrosen beschrieben wurde, umfassen Bisphosphonate, den antiresorptiven Antikörper Denosumab sowie einige Hemmstoffe der Angiogenese (s. Tabelle). Das Risiko ist bei parenteraler Applikation höherer Dosen, wie sie in der Tumor­therapie gebräuchlich sind, am größten.

Tab.: Arzneistoffe, die mit einem erhöhten Risiko für das Auftreten von Kieferknochennekrosen (KKN) verbunden sind
Arzneistoff
Applikationsroute / Dosis
Indikation
Risiko für KKN*
Verordnungs-häufigkeit#
(in Mio. DDD)
Bisphosphonate
oral
Alendronat
70 mg / Woche, 10 mg / Tag
Osteoporose
selten
100,7
Ibandronat
150 mg / Monat
Osteoporose
sehr selten
4,4
Risedronat
35 mg / Woche
Osteoporose
nicht bekannt
24,6
i. v.
Ibandronat
3 mg / 3 Monate
Osteoporose
sehr selten
13,7
6 mg / 3 – 4 Wochen
Tumorerkrankungen
sehr selten
0,02
Pamidronat
15 – 90 mg / 4 Wochen
Tumorerkrankungen
nicht bekannt
0,06
Zoledronat
5 mg / Jahr
Osteoporose
nicht bekannt
5,1
4 mg / 3 – 4 Wochen
Tumorerkrankungen
gelegentlich
0,12
RANKL-Antagonist
Denosumab
s. c., 60 mg / 6 Monate
Osteoporose
selten
47,0
s. c., 120 mg / 4 Wochen
Tumorerkrankungen
häufig
0,23
Angiogenese-Hemmstoffe
Bevacizumab
i. v., 5 – 15 mg / kg /2 – 3 Wochen
Tumorerkrankungen
nicht bekannt
2,9
Sunitinib
oral, 12,5 – 50 mg / Tag
Tumorerkrankungen
gelegentlich
0,49
Aflibercept
i. v., 4 mg / kg / 2 Wochen
Tumorerkrankungen
gelegentlich
0,13

* Risiko aus aktuell gültiger Fachinformation entnommen: häufig (≥ 1/100 bis < 1/10), gelegentlich (≥ 1/1000 bis < 1/100), selten (≥ 1/10.000 bis < 1/1000), sehr selten (< 1/10.000), nicht bekannt (Häufigkeit auf Grundlage der verfügbaren Daten nicht abschätzbar). # Nach Arzneiverordnungs-Report 2018 (DDD, defined daily dose [definierte Tagesdosis])

Orale Bisphosphonate wie Alendronat oder Risedronat, die Mittel der ersten Wahl zur Behandlung der postmenopausalen und senilen Osteoporose, besitzen ein sehr geringes Risiko von im Durchschnitt einem Fall pro 1000 bis 10.000 behandelten Patienten.

Intravenös applizierte Bisphosphonate wie Zoledronat oder Ibandronat weisen – im Dosisbereich der Osteo­porosetherapie – ein ähnliches Risiko wie die oralen Vertreter auf [1, 3].

Aufgrund ihrer osteoklastenhemmenden Wirkung sind einige intravenös verabreichbare Bisphosphonate wie Zoledronat, Ibandronat und Pamidronat auch zur Prävention von Knochenmetastasen bei vorliegenden Tumorerkrankungen wie Prostata-, Mamma- und Lungenkarzinom sowie zur Behandlung des multiplen Myeloms und der tumorinduzierten Hypercalcämie zugelassen. Da hier deutlich höhere kumulative Dosen zur Anwendung kommen als bei der Therapie der Osteo­porose (z. B. 5 mg pro Jahr vs. 4 mg alle drei bis vier Wochen für Zole­dronat), ist auch das Risiko entspre­chend erhöht (≥ 1/1000 bis < 1/100). Da aktuelle Leitlinien einen Einsatz von Bisphosphonaten zur adju­vanten Therapie des Mammakarzinoms empfehlen, ist von einer Zunahme der Fälle von Kieferknochennekrosen auszugehen [4, 5].

Neben diesen indikationsbedingten Unter­schieden in Dosis und Applikationsart ist bei allen Bisphosphonaten gleichermaßen ihre sehr lange Wirksamkeit am Knochen (Halbwertszeit: rund zehn Jahre) zu beachten. Diese klinisch für die Osteoporose günstige Eigenschaft, die zu prospektiv knochenprotektiven Effekten selbst bei mehrjähriger Therapiepause (zwei bis sieben Jahre) führt, könnte theoretisch auch das KKN-Risiko langfristig er­höhen. Auch wenn hierzu bisher keine aussagekräftigen Daten vorliegen, konnte eine Zunahme des Risikos in Abhängigkeit von der Therapiedauer gezeigt werden. Hier lag das Risiko für orale Bisphosphonate im Rahmen der Osteoporosetherapie bei einer Behandlungsdauer von weniger als vier Jahren bei 0,04%, wohingegen das Risiko auf 0,21% anstieg, wenn mehr als vier Jahre behandelt wurde [6].

Ein weiteres für die Osteoporose­therapie und zur Behandlung tumorassoziierter Skelettkomplikationen zuge­lassenes Pharmakon mit einem doku­mentierten Risiko für Kiefer­knochennekrosen ist der monoklonale Antikörper Denosumab. Dieses Biologikum neutralisiert das für die Differenzierung von Osteoklasten essenzielle Zytokin RANKL (Receptor activator of nuclear factor kappa-Β ligand) und gilt in der Osteroporosetherapie neben Bisphosphonaten als Mittel der ersten Wahl. Im Gegensatz zu den Bisphosphonaten kann Denosumab auch bei Patienten mit Niereninsuffizienz ein­gesetzt werden. Das KKN-Risiko für Deno­sumab in der Osteoporose­therapie (60 mg s. c. alle sechs Monate) liegt im Bereich des Risikos der oralen Bisphosphonate (≥ 1/10.000 bis < 1/1000) [7].

Wichtig davon abzugrenzen ist jedoch der Einsatz von Denosumab bei tumor­assoziierten Indikationen. Hierbei werden deutlich höhere kumulative Dosen (120 mg s. c. pro Monat) eingesetzt, und die Kieferknochennekrose gilt hier als eine häufige Nebenwirkung. Das heißt konkret, dass statistisch betrachtet 1% bis 10% der behandelten Patienten diese schwere Nebenwirkung entwickeln werden. Im Gegen­satz zu den Bisphosphonaten scheint die Wirkung und somit auch das Nebenwirkungsrisiko von Denosumab aber nur bis zu sechs Monate anzuhalten [2].

Neben den dargestellten antiresorptiv wirksamen Arzneistoffen wurden Osteo­nekrosen des Kiefers gelegentlich (≥ 1/1000 bis < 1/100) auch bei mit Beva­cizumab, Sunitinib oder Aflibercept behandelten Tumorpatienten beobachtet. Diese Arzneistoffe unterbinden die Bildung neuer Blutgefäße durch Störung der entsprechenden Angio­genese-Signalkaskade und beeinflussen so möglicherweise nachteilig den Kieferknochenstoffwechsel. Häufig werden die Patienten zuvor oder begleitend mit intravenösen Bisphosphonaten behandelt. Dadurch scheint das isolierte Risiko zusätzlich anzusteigen (0,2% Monotherapie vs. 0,9% in Kombination) [8]. Die Fachinformationen mahnen ­daher in jedem Fall zur Vorsicht, wenn intravenöse Bisphosphonate entweder zuvor, gleichzeitig oder nachfolgend zu Angiogenesehemmstoffen gegeben werden.

Individuelle ­Risikofaktoren

Anamnestische Faktoren

  • Tumorerkrankungen (>> Osteoporose)
  • Zahnextraktionen
  • dentogene oder parodontale Entzündungen
  • schlechtsitzende Zahn­prothesen
  • Komorbiditäten: Anämie, Diabetes mellitus, HIV-Infektion

Arzneimittelbezogene Faktoren

  • Parenterale Gabe hoher Dosen von Bisphosphonaten oder Denosumab (tumorbedingt)
  • lange Therapiedauer
  • duale Therapie von Antiresorptiva und Angiogenesehemmstoffen
  • Co-Medikation mit Gluco­corticoiden und Immunsuppressiva (Azathioprin, Methotrexat, Sirolimus, Everolimus, Temsirolimus)

[Quelle: 1 – 3, 9 – 12]

Welche Patienten sind gefährdet?

Laut aktueller S3-Leitlinie über „Antiresorptiva-assoziierte Kiefernekrosen“ lassen sich zusammenfassend folgende Risikogruppen definieren [1]:

  • niedriges Risiko (0% bis 0,5%): Patienten mit Osteoporose, die mit Bisphosphonaten (oral oder i. v.) oder Denosumab (60 mg s. c. alle sechs Monate) behandelt werden
  • mittleres Risiko (0,5% bis 1%): Patienten mit zusätzlichen Risikofaktoren oder i. v.-Therapie mit Bisphosphonaten im Anwendungs­gebiet der Prävention skelettbezogener Komplikationen bei Tumorerkrankungen
  • hohes Risiko (1% bis 21%): Patienten mit onkologischen Indikationen (z. B. Knochenmetastasen) und monatlicher Gabe von Bisphosphonaten (i. v.) oder Denosumab (120 mg s. c.)

Wie kann man vorbeugen?

Weitere wichtige und arzneimittelunabhängige Risikofaktoren stellen das Tragen von Prothesen (Druckstellen­risiko), Entzündungen der Mundhöhle und Zahnextraktionen nach Beginn der beschriebenen Arzneimitteltherapie dar [1 – 3]. So hat bei rund 50% bis 60% der Patienten mit Kieferknochennekrose bei bestehender Risikomedikation im Vorfeld eine Zahnextraktion stattgefunden [9, 10]. Interessanterweise kann eine antibiotische Prophylaxe das Risiko von etwa 60% auf nahezu null Prozent reduzieren [10]. Prothesendruckstellen scheinen das Risiko für eine Kieferknochennekrose zu verdoppeln [10]. In 71% bis 84% der KKN-Fälle liegen dento­gene oder parodontale Entzündungen vor [10].

Das Wichtigste auf ­einen Blick

  • Kieferknochennekrosen sind eine schwere unerwünschte Wirkung eini­ger Osteoporose- und Tumor­therapeutika.
  • Eine Behandlung mit hohen Dosen von Bisphosphonaten (i. v.) oder Denosumab (s. c.) im Rahmen der Tumortherapie ist mit dem höchsten Risiko für das Auftreten von Kieferknochennekrosen verbunden.
  • Die orale Anwendung von Bisphosphonaten ist dagegen mit einem vergleichsweise geringen Risiko asso­ziiert.
  • Patienten sollten vor Therapie­beginn über die potenzielle Nebenwirkung und deren Symptome sowie Maßnahmen zur Risikoreduktion (z. B. Dentalhygiene, regelmäßiger Zahnarztbesuch) aufgeklärt werden.

Eventuell notwendige Zahnsanierungen oder operative Eingriffe am Kiefer­knochen sollten somit vor Beginn einer Therapie mit den in der Tabelle zusammengefassten Arzneistoffen durchgeführt werden, da dies nachweislich das Risiko für Kieferknochennekrosen senken kann [1, 10]. Aus demselben Grund sind zahnärztliche Inspektionen der Mundhöhle (inkl. Röntgen) auch bei Symptomfreiheit vor und während (halbjährlich) entsprechender Therapien angeraten [10, 11]. Zudem sollten schlecht­sitzende Zahnprothesen angepasst werden, um risikoreiche Druckstellen zu vermeiden.

Des Weiteren sollten Patienten im Vorfeld eines entsprechenden Therapie­regimes über das Risiko (s. Kasten „indi­viduelle Risikofaktoren“) und die möglichen Symptome einer Kiefer­knochennekrose aufgeklärt werden. Zusätz­lich sollten auch individuelle Schritte zur Risikoreduktion wie konsequente Dentalhygiene, reduzierter Alkoholkonsum und Rauchstopp besprochen werden [1 – 3, 10]. Sollten während bestehender Therapie mit Bisphosphonaten invasive zahnärzt­liche Interventionen erforderlich sein, werden eine Therapiepause von zwei Monaten vor dem entsprechenden Eingriff und zusätzlich eine konsequente Antibiose empfohlen [2, 3, 10]. |

Literatur

[1] S3-Leitlinie Antiresorptiva-assoziierte ­Kiefernekrosen (AR-ONJ). AWMF-Register-Nr. 007-091. Stand 12/2018

[2] Ruggiero SL at al. American Association of Oral and Maxillofacial Surgeons position paper on medication-related osteonecrosis of the jaw--2014 update. J Oral Maxillofac Surg 2014;72(10):1938-1956

[3] Zebic L et al. Preventing medication-related osteonecrosis of the jaw. BMJ 2019;365:l1733

[4] National Institute for Health and Care Excellence (NICE). Early and locally advanced breast cancer: diagnosis and treatment ­(clinical guideline CG80). Stand 2017. www.nice.org.uk

[5] S3-Leitlinie Supportive Therapie bei onkologischen PatientInnen. AWMF-Register-Nr. 032/054OL. Stand 04/2017

[6] Lo JC et al. Prevalence of osteonecrosis of the jaw in patients with oral bisphosphonate exposure. J Oral Maxillofac Surg 2010;68(2):243-253

[7] Papapoulos S et al. The effect of 8 or 5 years of denosumab treatment in postmenopausal women with osteoporosis: results from the FREEDOM Extension study. Osteoporos Int 2015;268(12):2773-2783

[8] Guarneri V et al. Bevacizumab and osteonecrosis of the jaw: incidence and association with bisphosphonate therapy in three large prospective trials in advanced breast cancer. Breast Cancer Res Treat 2010;122(1):181-8

[9] Saad F et al. Incidence, risk factors, and outcomes of osteonecrosis of the jaw: integrated analysis from three blinded active-controlled phase III trials in cancer patients with bone metastases. Ann Oncol 2012;23(5):1341-1347

[10] Poxleitner P et al. The Prevention of Medication-related Osteonecrosis of the Jaw. Dtsch Arztebl Int 2017;114(5):63-69

[11] Beth-Tasdogan NH et al. Interventions for managing medication-related osteonecrosis of the jaw. Cochrane Database Syst Rev 2017;10:CD012432

[12] Gaudin E et al. Occurrence and risk indicators of medication-related osteonecrosis of the jaw after dental extraction: a systematic review and meta-analysis. J Clin Periodontol 2015;42(10):922-932

Autor

PD Dr. Stefan Oswald, ­Gruppenleiter am Institut für Pharmakologie der Universitätsmedizin Greifswald

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