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Toxikologie

Starke Analgesie zu einem hohen Preis

Oxycodon: ein schmaler Grat zwischen Therapie und Abhängigkeit

Zu unrühmlicher Bekanntheit gelangte in den letzten Jahren der Wirkstoff Oxycodon aus der Wirkstoffklasse der Opioide. Er wird mitverantwortlich gemacht für die in die Höhe geschnellte Zahl der Opioid-Abhängigen und Drogentoten in den Vereinigten Staaten. Das aggressive Marketing eines 1995 in den USA zugelassenen Oxycodon-haltigen Arzneimittels und eine unkritische Verschreibungspraxis führten dazu, dass sehr viele Schmerzpatienten damit behandelt und teilweise in die Abhängigkeit getrieben wurden. | Von Ulrich Schreiber

Das Opioid Oxycodon (Abb. 1) wurde erstmals 1916 von deutschen Chemikern aus dem Opiat Thebain, einem natürlichen Alkaloid des Schlafmohns Papaver somniferum,

abgeleitet und halbsynthetisch dargestellt [1]. In den folgenden Jahren kam es mit der Bezeichnung Eukodal® als Antitussivum und Analgetikum zum Einsatz und diente als Alternative für Morphin und Codein. Bereits wenige Jahre darauf wurden Fälle von Missbrauch und Abhängigkeit als „Eukodalismus“ oder „chronische Eukodalvergiftung“ beschrieben. Betroffene zeigten typische Symptome, die bereits von Morphinisten bekannt waren [2]. Auf dem deutschen Arzneimittelmarkt ist Oxycodon mit dem Schmerzmittel Oxygesic® sowie Generika vertreten.

Abb. 1: Opioide. Die Opioidrezeptor-Agonisten Diamorphin (Heroin) und Oxycodon sind strukturell von Alkaloiden des Schlafmohns, wie Morphin, abgeleitet, ebenso der Antagonist Naloxon. Das Fentanyl wird vollsynthetisch gewonnen und weist keinerlei strukturelle Ähnlichkeit mit diesen Substanzen auf, dafür aber eine über 100-fach höhere Potenz als Morphin.

Die hauptsächlichen Opioid-Wirkungen

Opioide aktivieren beim Menschen drei verschiedene G-Protein-gekoppelte Rezeptortypen (μ, κ und δ), deren endogene Liganden sogenannte Opioidpeptide aus den drei „Familien“ der Endorphine, Enkephaline und Dynorphine sind. Alle Opioidpeptide besitzen am N-Terminus die gleiche Aminosäurensequenz (Tyr-Gly-Gly-Phe) [3].

Da sich Opioidrezeptoren sowohl in peripheren Organen als auch im zentralen Nervensystem befinden, existiert ein breites Wirkungsspektrum der Opioidpeptide. So beeinflussen sie das Schmerz- und das Hunger-Empfinden und die Produktion von Sexualhormonen.

Endorphine werden besonders in Stress- und Schmerzsituationen ausgeschüttet. Die Wirkungen kommen über die Hemmung der Adenylylcyclase, die Öffnung von K+-Kanälen und die Deaktivierung von Ca2+-Kanälen zustande. Außerdem aktivieren sie Phospholipasen und MAP-Kinasen.

Viele therapeutisch angewendete Opioide wie Morphin (Abb. 1) oder auch Oxycodon wirken in erster Linie an den μ-Rezeptoren (μ1 und μ2) als Agonisten [4]. Dadurch rufen sie Wirkungen wie Euphorie, Analgesie, Sedierung, Anxiolyse, Atem­depression, Miosis, Bradykardie, Hypotonie, Obstipation und Harnverhalt hervor. Auch die antitussive Wirkung, Emesis, Muskelrigidität und Krämpfe werden von μ-Rezeptoren vermittelt.

Die Bindungsaffinität von Oxycodon zu den μ-Rezeptoren ist zwar geringer als die von Morphin, seine analgetische Potenz ist jedoch höher. Hier spielt der aktive Metabolit Oxymorphon mit einem deutlich stärkeren analgetischen Effekt eine Rolle. Er wird durch O-Demethylierung von Oxycodon durch das Leberenzym CYP2D6 gebildet [5]. Daher ist bei einer Oxycodon-Anwendung die zusätzliche Gabe von CYP2D6-Inhibitoren (z. B. Fluoxetin, Chinidin, Sertralin [6]) zu vermeiden.

Ein Vorteil von Oxycodon gegenüber Morphin ist die etwa dreimal höhere orale Bioverfügbarkeit. Indikationen sind mittelstarke bis starke akute oder chronische Schmerzen, etwa nach einer Operation oder im Verlauf einer Krebserkrankung. Klinische Studien konnten auch seine Effektivität bei osteoarthritischen Schmerzen, postzosterischer Neuralgie und diabetischer Polyneuropathie nachweisen [5].

Hohes Suchtpotenzial

Wie andere Opioide auch, ist Oxycodon dafür bekannt, eine starke Abhängigkeit auslösen zu können. Bei regelmäßigem Gebrauch kommt es zu einer schnellen Gewöhnung an die Effekte und zur Ausbildung einer Toleranz durch Desensibilisierung und Internalisierung der Rezeptoren [4], die eine ständige Steigerung der Dosis notwendig machen. Die Toleranzbildung ist jedoch nicht für alle Wirkungen gleich. Besonders stark ist sie bei den zentral dämpfenden Effekten wie Atemdepression, Sedierung, Euphorie und Analgesie. Kaum zu beobachten ist sie dagegen bei peripheren Wirkungen wie etwa der Obstipation.

Bereits einige Wochen Opioid-Gebrauch können ausreichen, um nach dem Absetzen körperliche Symptome ähnlich denen einer schweren Grippe hervorzurufen. Betroffene leiden unter Muskelschmerzen, Übelkeit und Erbrechen, Darmkrämpfen, Schweißausbrüchen, Gänsehaut („cold turkey“), Hyperalgesie, Tachykardie, Hypertonie, Hyperthermie, Tremor und Schlaflosigkeit. Außerdem kann es zu Angstzuständen, Depressionen, Reizbarkeit und Rastlosigkeit kommen. In einzelnen Fällen kann ein akutes Entzugssyndrom lebensgefährliche Konsequenzen haben [7].

Neben den physischen Symptomen kommt es zu einer psychischen Abhängigkeit, die auch nach Jahren der Abstinenz bestehen bleibt und mit einem starken Craving, dem unüberwindbaren Verlangen nach der Einnahme von Opioiden, einhergeht. Für die Entstehung einer psychischen Abhängigkeit spielen psychosoziale Faktoren eine wichtige Rolle.

Die auftretenden Entzugssymptome sind der Gegensatz der Opioid-Wirkungen, da es zu einer Überaktivität der zuvor gehemmten Adenylylcyclase kommt. Bei einer Entzugstherapie von Patienten mit chronischem Opioid-Gebrauch ist daher auf ein Ausschleichen der Dosierung zu achten. Nach einem plötzlichen Absetzen der Opioid-Therapie durch den behandelnden Arzt kann das beschriebene Entzugssyndrom auftreten, was den Patienten unter Umständen dazu verleitet, auf Opioide aus anderen Quellen zurückzugreifen. Umfragen unter Heroin-Abhängigen ergaben, dass viele von ihnen zuerst von verschreibungspflichtigen Schmerzmitteln wie Oxycodon abhängig geworden waren, bevor sie auf das günstigere Heroin (Diamorphin; Abb. 1) umstiegen [8]. Dieser illegal und unkontrolliert gehandelte „Stoff“ bringt zusätzliche Gefahren mit sich, denn er kann mit schädlichen Streckmitteln versetzt sein, und sein genauer Wirkstoff­gehalt ist unbekannt.

Opioid-Epidemie

Seit einigen Jahren befinden sich in den USA vermehrt die Derivate des Fentanyls (Abb. 1), eines synthetischen Opioids mit über 100-fach höherer Potenz als Morphin und enger therapeutischer Breite, im Umlauf. Daher kann es bei der illegalen Anwendung leicht zu einer gefährlichen Überdosierung mit einer tödlichen Atemdepression kommen. Bei etwa 33.000 (63%) der gut 52.000 Drogentoten in den USA im Jahre 2015 war ein Opioid involviert [9]. In den letzten Jahren war hier ein stetiger Aufwärtstrend erkennbar. Auch das Sinken der Lebenserwartung in den USA wird mit dieser Opioid-Epidemie in Zusammenhang gebracht, weshalb 2017 der nationale Notstand ausgerufen wurde.

In Deutschland standen „nur“ 742 (56%) der 1333 Drogen­toten des Jahres 2016 in Zusammenhang mit Opioiden [10]. Bei vielen dieser Todesfälle spielten zusätzlich andere zentral dämpfende Substanzen, wie Benzodiazepine oder Alkohol, eine Rolle.

Antidote

Zur Behandlung einer Überdosis können Opioidrezeptor-Antagonisten wie Naloxon (Narcan®, Narcanti®; Abb. 1) oder das länger wirksame Naltrexon (Nemexin®) gegeben werden. Naloxon steht z. B. als Nasenspray zur Verfügung und hebt die Opioid-Wirkung sofort auf. Es ist jedoch zu beachten, dass die Abhängigen dadurch plötzlich auftretende Entzugssymptome erleiden können.

Ein ernstzunehmendes Problem ist außerdem das neonatal abstinence syndrome (NAS). Bei Kindern, deren Mütter während der Schwangerschaft regelmäßig Opioide konsumiert haben, tritt einige Stunden bis Tage nach der Geburt ein akutes Entzugssyndrom auf, das durch Schwitzen, Zittern, Krämpfe und Reizbarkeit gekennzeichnet ist. In solchen Fällen ist eine Substitutionstherapie gleich nach der Geburt, z. B. mit Methadon (Eptadone®, L-Polamidon®) oder Buprenorphin (Subutex®), erforderlich.

Erfolgsgeschichte von OxyContin

Oxycodon ist der Wirkstoff des Arzneimittels OxyContin®, das von Purdue Pharma entwickelt und 1995 von der FDA zugelassen wurde. OxyContin ist eine Arzneiformulierung zur oralen Anwendung mit verzögerter Wirkstofffreisetzung (Extended Release, ER): Es soll den Wirkstoff über einen Zeitraum von zwölf Stunden gleichmäßig freisetzen [11], um eine länger dauernde Analgesie zu gewährleisten, was etwa die Schlafqualität bei chronischen Schmerzen verbessern kann. Außerdem wird durch ein langsameres Anfluten die euphorisierende Wirkung des Wirkstoffs reduziert. Im Vergleich zur Immediate-Release-Form (IR) enthält OxyContin mehr Wirkstoff [12].

In den Vereinigten Staaten ist die Werbung für verschreibungspflichtige Medikamente erlaubt. Deshalb war es Purdue Pharma möglich, nach Einführung des Medikaments die Verkaufszahlen durch eine aggressive Werbekampagne und Herunterspielen der Risiken in die Höhe zu treiben [13]. In diesem Zusammenhang wurden sogar Artikel renommierter Fachzeitschriften falsch zitiert [14]. Im Jahr 2010 lag OxyContin auf Platz 5 der in den USA am meisten verkauften Arzneimittel und brachte dem Unternehmen einen Umsatz von über 3,5 Milliarden Dollar ein [15].

Strategien zur Eindämmung des Missbrauchs …

Abhängige versuchten, die langsame Freisetzung des Wirkstoffs durch ein Zerkauen der OxyContin-Tabletten zu umgehen. Zermahlene Tabletten wurden außerdem geschnupft oder in Wasser gelöst und intravenös verabreicht. Auf diese Weise wird die Bioverfügbarkeit erhöht, was ökonomisch interessant ist und außerdem durch das schnellere Anfluten des Oxycodons einen stärkeren euphorischen „Kick“ verursacht. Um derartigen Missbrauch einzudämmen, wurde OxyContin 2010 in einer neuen Formulierung eingeführt.

Die Tabletten sind nun durch die Intac®-Technologie widerstandsfähiger gegen mechanische Bearbeitung und können kaum zu einem Pulver zermahlen werden. Ein ungiftiges, wasserlösliches Polyethylenglycol (PEG), das ab einer Molekularmasse von etwa 600 fest ist, wird mittels Heiß-Schmelz-Extrusion mit dem Wirkstoff vermengt und in Form gebracht. Beim Hinzufügen von Flüssigkeit zur fertigen Tablette bildet sich ein dickflüssiges Gel, das sich nicht einfach in eine Spritze ziehen und injizieren lässt [12, 16]. Diese Technologie wird sowohl bei der IR- als auch bei der ER-Form von OxyContin angewandt und erweist sich als bioäquivalent zur ursprünglichen Formulierung [17].

Eine weitere Möglichkeit, den Missbrauch von Oxycodon zu vermeiden, stellt seine fixe Kombination mit Naloxon dar (Targin®). Naloxon besitzt aufgrund eines starken First-pass-Metabolismus eine niedrige orale Bioverfügbarkeit von etwa 2% [18]. Bei bestimmungsgemäßer, oraler Anwendung von Targin kann das Oxycodon also seine Wirkung entfalten. Lediglich die Opioidrezeptoren des Darms werden blockiert, was das Ausbleiben der unerwünschten Obstipation zur Folge hat. Wird Targin jedoch parenteral verabreicht, kommt der Antagonist Naloxon zur vollen Wirkung und verhindert auch die zentralen Effekte des Oxy­codons. Bei Patienten oder Abhängigen mit chronischem Opioid-Gebrauch kann es dadurch zu einem akuten Entzugssyndrom kommen.

… nur begrenzt erfolgreich

Der Erfolg der Reformulierung von OxyContin war von begrenzter Dauer. Zwar nahm der Missbrauch zunächst ab, doch viele Abhängige wichen auf den oralen Konsum aus oder stiegen ganz auf andere Opioide, etwa Heroin, um [19]. Eine andere Folge der Reformulierung war das Absinken des Umsatzes von OxyContin. Purdue Pharma und andere beteiligte Unternehmen sahen sich zudem mit zahlreichen Klagen verschiedener Städte und US-Bundesstaaten konfrontiert und wurden zu Strafen von mehreren hundert Millionen Dollar aufgrund der Falschinformation von Ärzten und Patienten und falscher Kennzeichnung des Medikaments verurteilt [20, 21]. Auch in Deutschland hat die Verschreibung von starken Opioiden in den letzten Jahren zugenommen [22]; ein Ausmaß und Missbrauch wie in den USA ist jedoch bisher nicht absehbar. |

Literatur

[1] Freund M, Speyer E. J Prakt Chem 1916;94:135

[2] Menninger E, Bachem C. Sammlung von Vergiftungsfällen 1932;3:173

[3] Freissmuth M, Offermanns S, Böhm S. Pharmakologie & Toxikologie. Von den molekularen Grundlagen zur Pharmakotherapie, 2. Aufl., 2016

[4] Brunton LL, Goodman LS, Gilman A, Chabner BA (eds). Goodman & Gilman‘s the pharmacological basis of therapeutics. McGraw-Hill Medical, New York 2011

[5] Kalso E. Journal of pain and symptom management 2005;29:S47-56

[6] Tod M, Goutelle S, Clavel-Grabit F, Nicolas G, Charpiat B. Clinical pharmacokinetics 2011;50:519

[7] a) Gangahar D. American journal on addictions 2015;24:400; b) Spadotto V, Zorzi A, Elmaghawry M, Meggiolaro M, Pittoni GM. European heart journal – Acute cardiovascular care 2013;2:84

[8] Mars SG, Bourgois P, Karandinos G, Montero F, Ciccarone D. International journal on drug policy 2014;25:257

[9] Gostin LO, Hodge JG, Noe SA. JAMA 2017;318:1539

[10] Drogentote in Deutschland nach Todesursache bis 2016; https://de.statista.com/statistik/daten/studie/187669/umfrage/drogentote-in-deutschland-nach-todesursache

[11] Aquina CT, Marques-Baptista A, Bridgeman P, Merlin MA. Postgraduate medicine 2009;121:163

[12] Fletcher J, Tsuyuki R. Canadian Medical Association journal 2013;185:107

[13] Dyer O. BMJ (Clinical research ed) 2014;349:g6605

[14] a) Porter J, Jick H. N Engl J Med 1980;302:123; b) van Zee A. American journal of public health 2009;99:221

[15] Pharmaceutical Sales 2010; www.drugs.com/top200.html

[16] Bartholomäus J, Schwier S, Brett M, Stahlberg H-J, Galia E, Strothmann K. Drug Development & Delivery 2013;13

[17] INTAC® technology is different; www.intac.com/about-intac/intac-technology

[18] Leppert W. Current Drug Targets 2014;15:124

[19] Cicero TJ, Ellis MS. JAMA psychiatry 2015;72:424

[20] Guilty Plea, OxyContin Maker to Pay $600 Million. New York Times, 11. Mai 2007

[21] McCarthy M. BMJ (Clinical research ed) 2015;351:h7018

[22] A Werber, M Schiltenwolf. Dtsch Arztebl 2015;112(3):A-87

Autor

Ulrich Schreiber, Berlin, B. Sc. Chemie, erworben an der Wilhelms-Universität Münster, M. Sc. Toxikologie, erworben an der Charité Berlin.

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