Foto: altanaka – stock.adobe.com

Hintergrund

Ein anderer Blick auf die Welt

Wie Autismus sich auf soziale Interaktionen, die Kommunikation und das Verhalten auswirkt

Probleme im sozialen Umgang und beim Aufbau von Beziehungen, Auffälligkeiten in der Kommunikation, eingeschränkte Interessen und stereotype Verhaltensweisen – das sind wesentliche Merkmale bei Menschen mit Autismus. Die Ausprägung ist vielgestaltig. Da Autismus-Subtypen oft nicht eindeutig zu differenzieren sind, wird mittlerweile von einer Autismus-Spektrum-Störung als Oberbegriff für alle autistischen Störungen gesprochen. | Von Christine Vetter

Beim Autismus handelt es sich um eine komplexe neurologische Entwicklungsstörung. Sie hat zur Folge, dass die Betroffenen soziale und emotionale Signale anderer Menschen oft nur schwer erkennen und einschätzen und ihrerseits solche auch kaum aussenden können. „Die Reaktionen auf Gefühle anderer Menschen oder Verhaltensanpassungen an soziale Situationen sind daher oft nicht angemessen“, so eine Erklärung des Vereins „Autismus Deutschland“ e. V., der sich als „Bundesverband zur Förderung von Menschen mit Autismus“ engagiert. Autisten haben Probleme damit, eigene Gefühle wahrzunehmen und zu äußern. Sie können Wutgefühle nicht angemessen ausdrücken und suchen keinen Trost wenn sie traurig sind, was den sozialen Umgang mit ihnen erheblich erschweren kann. Formal unterschieden wird zwischen

  • dem frühkindlichen Autismus (Kanner-Syndrom), bei dem die Kinder schon um das dritte Lebensjahr herum auffällig werden und alle drei diagnostischen Kriterien (soziale Interaktion, Kommunikation, stereotypes und repetitives Verhalten) erfüllen,
  • dem Asperger-Syndrom, das durch Autismus-spezifische Auffälligkeiten bei den sozialen Interaktion sowie im Bereich des stereotypen und repetitiven Verhaltens einschließlich Sonderinteressen charakterisiert ist, sowie
  • dem atypischen Autismus, bei dem die autistischen Störungen später, erst nach dem dritten Lebensjahr, auftreten oder nicht alle Symptome gezeigt werden.

Allerdings gibt es Übergänge zwischen den Unterformen, sodass diese häufig nicht scharf gegeneinander abzugrenzen sind. Geprägt wurde der Begriff „Autismus“ (griech.: autos = selbst; ismos = Zustand/Orientierung) im Jahr 1911 durch den Schweizer Psychiater Eugen Bleuler. Er war der Meinung, dass Autisten unter einer stark selbstbezogenen Schizophrenie leiden. Erst 1943 beschrieb der US-Psychiater Leo Kanner den Autismus als eigenständige Störung, die in der Kindheit ihren Anfang nimmt. Außerdem definierte der österreichische Kinderarzt Hans Asperger ebenfalls Mitte der 1940er-Jahre eine leichter ausgeprägte Form des Autismus, bei der das Sprachvermögen weniger beeinträchtigt ist, als sogenanntes Asperger-Syndrom. Erst seit den 1980er-Jahren ist der Autismus als eigenständige Störung und als medizinische Diagnose anerkannt.

Aussagen zur Häufigkeit der Autismus-Spektrum-Störung sind nur schwer zu treffen, da sich die Klassifikationssysteme und die Kriterien für eine Diagnose im Laufe der Zeit verändert haben. Das diagnostische Konzept der Störung wurde kontinuierlich erweitert, so dass zunehmend auch mildere oder subklinische Verlaufsformen bei Kindern mit durchschnittlicher Intelligenz erkannt werden. In der S3-Leitlinie zur Diagnostik der Autismus-Spektrum-Störungen im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter geht man von einer Prävalenz von 0,9 bis 1,1% aus. Auch zur Inzidenz sind nur schwer Aussagen möglich, da nur wenige Studien verfügbar sind. Insgesamt wird ein Aufwärtstrend dokumentiert. Eine Untersuchung aus Großbritannien berichtete 2004 von einem zehnfachen Anstieg der Inzidenz der Erst­diagnosen von „tiefgreifenden Entwicklungsstörungen“, zu denen Autismus-Spektrum-Störungen gezählt werden, zwischen 1988 – 1992 und 2000 – 2001. Was die Geschlechterverteilung angeht, so sind die Daten konsistent: Alle epidemiologischen Studien zeigen ein deutliches Überwiegen des männlichen Geschlechts. Nach neueren Ergebnissen geht man von einem Verhältnis von ca. 2 bis 3 : 1 aus. Es wird vermutet, dass weibliche Betroffene häufiger unerkannt bleiben und auch später diagnostiziert werden als männliche Betroffene.

Stereotypes Verhalten

Menschen mit Autismus fallen unter anderem dadurch auf, dass sie alltägliche Aufgaben starr und routiniert ausführen, bestimmte Verhaltensmuster stereotyp wiederholen und scheinbar unbedeutende Handlungsabläufe ritualisiert absolvieren. Das mündet nicht selten in der ständig sich wiederholenden Beschäftigung mit komplexen Daten wie zum Beispiel Fahrplänen, Stadtplänen, Listen von Telefonnummern oder ähnlichem. Autisten zeigen in ihrem Verhalten meist wenig Initiative, Spontanität und Kreativität. Sie haben zudem „Schwierigkeiten, Entscheidungen zur Bewältigung einer Aufgabe zu treffen, auch wenn die Aufgabe kognitiv zu bewältigen wäre“, so die Angaben des Bundesverbands „Autismus Deutschland“.

Auch motorisch haben autistische Menschen oft ungewöhnliche Verhaltensweisen. Sie sind nicht selten in stereotypen Bewegungen verhaftet, zum Beispiel im Schaukeln mit dem Oberkörper, Wedeln der Arme oder ähnlichen Bewegungsabläufen. Autisten haben zudem oft Schwierigkeiten im Umgang mit neuen Situationen und können sich nur schwer auf Veränderungen einstellen. Sie haben Probleme vorherzusehen, was sich ereignen wird, sodass jede Veränderung für sie erhebliche Unsicherheiten mit sich bringt. Sie sehen die Welt mit anderen Augen und das Leben erscheint ihnen oft wie ein Chaos. Sie ziehen eine stets gleich ablaufende Tagesstruktur vor und neigen dazu, sich zurückzuziehen.

Oft fallen Autisten auf, weil sie Schwierigkeiten haben, Blickkontakt zu halten. Oder weil sie sich in einer bestimmten Situation unangemessen verhalten, also zum Beispiel in Jogginghose zum Galadinner gehen oder weil sie auf ihre Mitmenschen „irgendwie anders bis seltsam“ wirken. Sie haben zudem oft Probleme, sich verbal und auch non-verbal mitzuteilen, verstehen Anspielungen und Ironie nicht als solche, sondern nehmen jede Äußerung ernst. Das hat nicht selten Missverständnisse und Frustrationen zur Folge. Auch davon abgesehen haben Autisten ein vermindertes Interesse an sozialen Kontakten und ein geringes Verständnis für soziale Situationen.

Reizüberflutung – Sensory Overload

Menschen mit Autismus weisen zudem häufig psychische Begleitstörungen auf, zum Beispiel überstarke Befürchtungen, Phobien, Schlaf- und Essstörungen und ein oftmals herausforderndes Verhalten in Form von Wutausbrüchen und fremd- oder selbstverletzenden Verhaltensweisen, so der Bundesverband. Die so manchen Außenstehenden zunächst unverständlichen Reaktionen autistischer Menschen sind durch deren veränderte Wahrnehmung und Verarbeitung von Umwelt- und Sinnesreizen bedingt. Das kann sehr leicht zu einer massiven Reizüberflutung und einem für Beobachter unangemessenen Verhalten führen, wie es eindrucksvoll in dem Video „Sensory Overload“ auf youtube dargestellt wird. Geben Sie in die Suchfunktion auf DAZ.online den Webcode Q3JY8 ein und Sie gelangen direkt zu dem Video.

Das Asperger-Syndrom

Eine besondere Situation liegt beim Asperger-Syndrom vor, das sich von anderen Autismus-Spektrum-Störungen unterscheidet. Man spricht beim Asperger-Syndrom gelegentlich auch von einem vergleichsweise leichten Autismus, was der Problematik aber nicht gerecht wird. Zwar liegt im Allgemeinen kein Entwicklungsrückstand zum Beispiel in der Sprache oder der Kognition vor und die meisten Betroffenen weisen eine normale Intelligenz auf, dennoch gibt es Auf­fälligkeiten im Sozialverhalten. Die Beziehung zu anderen Menschen ist gestört, doch normalerweise weniger tiefgreifend als beim frühkindlichen Autismus. Trotz der geschilderten Merkmale und Veränderungen sollte beim Autismus nicht zwangsläufig nur von sozialen und kog­nitiven Behinderungen ausgegangen oder den Betroffenen eine verminderte Intelligenz unterstellt werden. Denn zumindest in Teilbereichen zeigen vor allem Menschen mit Asperger-Syndrom sogar eine besonders hohe Intelligenz. Sie fallen oft schon im Vorschulalter auf, weil sie sich Zahlen oder andere Daten besonders gut merken können und komplexen Zusammenhängen oftmals akribisch genau auf den Grund gehen.

Autismus im Erwachsenenalter

Beim Autismus handelt es sich um eine lebenslange Störung, eine definitive Heilung ist nicht möglich. Allerdings können einzelne Symptome erfolgreich therapiert werden. Erfolgt eine adäquate Frühförderung betroffener Kinder, so können diese deutliche Fortschritte machen und möglicherweise sogar ein annähernd „normales Leben“ führen.

So unterschiedlich die Merkmale autistischer Störungen sind, so unterschiedlich kann aber auch die weitere Entwicklung beim Erwachsenwerden der Kinder sein. Der Autismus bleibt im Erwachsenenalter bestehen, kann sich aber verändern und zum Beispiel abschwächen. Denn die mit der Entwicklungsstörung einhergehenden Defizite können von vielen Betroffenen im Laufe der Zeit weitgehend besser kompensiert werden. Das erklärt, warum man bei einigen Betroffenen den Autismus kaum bemerkt, andere aber möglicherweise lebenslang auf Hilfe und Unterstützung angewiesen sind. Autisten können durch ihre Stärken in der logischen Analyse und systematischen Arbeitsweise, mit ihrer Detailgenauigkeit und überdurchschnittlich hohen Konzentrationsfähigkeit aber auch für spezielle Bereiche in der Mustererkennung und in der komplexen Softwareentwicklung prädestiniert sein. So setzt der IT-Konzern SAP seit 2013 gezielt auf Menschen mit einer autistischen Störung als Mitarbeiter und beschäftigt sie unter anderem als Software­tester, Programmierer und Spezialisten für Datenqualitätssicherung. |

Literatur

Autismus-Spektrum-Störungen im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter. Teil 1: Diagnostik. Interdisziplinäre S3-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e.V. (DGKJP) und der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) sowie der beteiligten Fachgesellschaften, Berufsverbände und Patientenorganisationen. Stand 23. Februar 2016, AWMF-Registernummer: 028-018

Autismus Deutschland e. V., Bundesverband zur Förderung von Menschen mit Autismus, www.autismus.de

Neurologen und Psychiater im Netz, www.neurologen-und-psychiater-im-netz.org.

Autorin

Christine Vetter hat Biologie und Chemie studiert und arbeitet seit 1982 als Medizinjournalistin.

0 Kommentare

Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.