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Arzneimittel und Therapie
Onkologika ohne Nutzen?
Benefit neu zugelassener Krebsmittel wird infrage gestellt
In der vergangenen Dekade ist die Zahl der in der EU zugelassenen Zytostatika stetig gestiegen. Doch ist dieser Zuwachs auch mit einem für den Patienten relevanten Nutzen verbunden, und auf welchen Daten beruhen die Zulassungen durch die EMA? Diese Fragen tauchen vermehrt auf, da mitunter Surrogatparameter (wie etwa eine biologische Aktivität des neuen Arzneistoffs) bestimmt werden, die aber keine Auswirkung auf das Überleben und die Lebensqualität des Patienten zeigen. Dies beschäftigte auch eine britische Forschergruppe, die erstmals systematisch alle innerhalb der EU in einem bestimmen Zeitraum erteilten Zulassungen auswertete. Die Grundlage hierfür waren alle öffentlich zugänglichen regulatorischen und wissenschaftlichen Unterlagen, auf denen die Zulassung von Onkologika im Zeitraum zwischen 2009 und 2013 (anschließend wurden Post-Marketing-Studien ausgewertet) durch die EMA beruhte. Dies waren Zulassungsstudien und Post-Marketing-Studien unter Berücksichtigung deren Aufbaus (u.a. Randomisierung, Verblindung, Vergleichsarme, Endpunkte) sowie Informationen zum Gesamtüberleben und der Lebensqualität zum Zeitpunkt der Zulassung und nach der Markteinführung. In den ausgewerteten Studien waren neue Wirkstoffe mit anderen Therapieoptionen, Placebo oder als Add-on-Therapie verglichen worden. Das Ausmaß des klinischen Nutzens der Krebsmedikamente erfolgte mithilfe der ESMO-MCBS-Skala (ESMO-MCBS: European Society for Medical Oncology Magnitude of Clinical Benefit).
Zwischen 2009 und 2013 wurden durch die EMA 48 Onkologika für 68 Indikationen zugelassen. Eine Betrachtung der Studienarten, Indikationen und Studienergebnisse (vor und nach der Zulassung) führte unter anderem zu folgenden Aussagen:
Charakterisierung der Studien
Die Zulassung für 68 Indikationen beruhte auf 72 klinischen Studien. Die Zulassung für acht Indikationen beruhte lediglich auf der Basis einer einarmigen Studie. Nur bei rund einem Viertel der Zulassungsstudien war das Gesamtüberleben der primäre Studienendpunkt. Bei keiner Studie war die Lebensqualität der primäre Studienendpunkt. Nicht in allen Zulassungsstudien wurden Gesamtüberleben oder Lebensqualität als sekundäre Endpunkte ermittelt. Das heißt also, dass die für den Patienten wichtigsten Parameter Überleben und Lebensqualität in den meisten Studien nur eine untergeordnete Rolle spielten.
Benefit für den Patienten
Zum Zeitpunkt der Markteinführung konnte bei einem guten Drittel der Indikationen (bei 24 von 68; 35%) eine signifikante Verlängerung des Gesamtüberlebens festgestellt werden. Das Ausmaß der Verlängerung lag zwischen einem und 5,8 Monaten und betrug im Schnitt 2,7 Monate. Zum Zeitpunkt der Zulassung wurde bei sieben von 68 Indikationen (10%) eine Verbesserung der Lebensqualität festgestellt werden. Das heißt also, dass bei der Zulassung für die Mehrzahl der Onkologika kein evidenter Beweis vorlag, dass diese das Überleben oder die Lebensqualität des Patienten verlängerten. Von den 44 Indikationen, für die zum Zeitpunkt der Zulassung keine Verbesserung des Gesamtüberlebens attestiert wurde, konnte in der folgenden Post-Marketing-Phase für drei Indikationen (7%) eine Verlängerung des Überlebens und für fünf (11%) eine bessere Lebensqualität ermittelt werden (Tab.).
Verlängerung des Gesamtüberlebens in der Post-Marketing-Phase |
verbesserte Lebensqualität in der Post-Marketing-Phase |
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Abirateron (Zytiga®)
metastasiertes kastrationsresistentes Prostatakarzinom (mCRPC) (+ Prednisolon) vor einer Chemotherapie
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Crizotinib (Xalkori®)
Zweitlinien-Therapie bei vorbehandeltem Anaplastische-Lymphom-Kinase(ALK)-positivem, fortgeschrittenem nicht kleinzelligem Lungenkarzinom (non small cell lung cancer, NSCLC)
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Panitumumab (Vectibix®)
bei metastasiertem kolorektalem Karzinom (mCRC) mit RAS-Wildtyp in der Erstlinien-Therapie in Kombination mit FOLFOX
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Erlotinib (Tarceva®)
Erstlinien-Therapie bei Patienten mit metastasiertem nicht-kleinzelligem Lungenkarzinom (NSCLC) mit aktivierenden EGFR-Mutationen
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Pemetrexed (Alimta®)
Erhaltungstherapie bei metastasiertem nicht-kleinzelligem Lungenkarzinom (non-sqaumös) nach einer Platin-basierten Chemotherapie
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Nilotinib (Tasigna®)
Behandlung neu diagnostizierter Philadelphia-Chromosom positiver chronischer myeloischer Leukämie (CML) in der chronischen Phase
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Ofatumumab (Arzerra®)
Behandlung der chronisch lymphatischen Leukämie (CLL) bei Patienten, die refraktär auf Fludarabin und Alemtuzumab sind
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Pazobanib (Votrient®)
Erstlinien-Behandlung bei fortgeschrittenem Nierenzellkarzinom
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Daraus kann der Schluss gezogen werden, dass sich Lebensdauer und Lebensqualität der Patienten auch nach der Markteinführung des Krebsmittels – das heißt über einen längeren Beobachtungszeitraum hinweg – nur in wenigen Fällen erhöhten.
Nach einer Nachbeobachtungsperiode von median 5,4 Jahren konnte von den 68 Indikationen nur bei der Hälfte (35 Indikationen, 51%) eine signifikante Verbesserung des Gesamtüberlebens (26 Indikationen) oder der Lebensqualität (bei neun Indikationen) erfasst werden, bei der anderen Hälfte (33 Indikationen, 49%) war dies ungewiss. Nur zwei (Enzalutamid und Trastuzumab-Emtansin) der 26 Wirkstoffe, die zu einem verlängerten Gesamtüberleben führten, verbesserten auch die Lebensqualität.Das heißt also, dass bei knapp der Hälfte der zwischen 2009 und 2013 von der EMA zugelassenen Onkologika selbst Jahre nach der Zulassung unsicher ist, ob diese das Leben verlängern oder die Lebensqualität verbessern. Von den 23 Wirkstoffen, deren Einsatz den ESMO-MCBS-Kriterien zufolge mit verbessertem Gesamtüberleben einherging, wurde nur knapp der Hälfte (11; 48%) ein klinisch relevanter Nutzen attestiert. |
Quelle
Davis C et al. Availability of evidence of benefits on overall survival and quality of life of cancer drugs approved by European Medicines Agency: retrospective cohort study of drug approvals 2009-13. BMJ 2017;359, doi: https://doi.org/10.1136/bmj.j4530
Neuzulassungen benötigen „Verfalldatum“!
Ein Gastkommentar von Dr. Dorothee Dartsch zum fehlenden Nutzennachweis neuer Onkologika
Die Studie von Davis et al. [1] wirft die dringende Frage auf, warum die Zulassung neuer Onkologika auf derart dünner Datengrundlage erfolgt, und ob vor diesem Hintergrund ein besserer Weg für die Bewertung und Zulassung benötigt wird.
Negative Folgen der Zulassung wirkungsloser Therapien sind nicht „nur“ die falschen Hoffnungen der Patienten und Angehörigen auf eine relevante Besserung und der Druck zur Verordnung, der unter Umständen von ihnen auf die Onkologen ausgeübt wird. Die an wenigen Patienten und über kurze Zeiträume getesteten Arzneimittel können darüber hinaus unerkannte Risiken für die Patienten bergen. Die Therapien sind zudem möglicherweise zu teuer bezahlt und kosten das Gesundheitssystem Ressourcen, die anderswo besser eingesetzt wären. Und nicht zuletzt können unzureichend geprüfte Wirkstoffe als Kontrollen in späteren klinischen Studien eingesetzt werden und, falls sie keine klinisch relevante Wirkung haben, die Messlatte für weitere Zulassungen tiefer legen.
„Es muss offenbar energisch dafür Sorge getragen werden, dass der Zustand der Ungewissheit nicht ewig anhält!“
Apothekerin Dr. Dorothee Dartsch
Warum also werden bei der Zulassung nicht höhere Anforderungen gestellt? Die Studie hat ergeben, dass gut die Hälfte der Erstzulassungen in den untersuchten Zeitraum bedingte und/oder Orphan-drug-Zulassungen waren. Hierfür gelten erleichterte Zulassungsbedingungen – aus gutem Grund, denn es gibt Erkrankungen, die selten sind (z. B. Krebserkrankungen mit definierten molekulargenetischen Besonderheiten oder festgelegten Vortherapien) oder bei denen ein herausragender medizinischer Bedarf vorliegt (z. B. solche mit hoher Mortalität, vor allem wenn noch keine gut wirksamen Therapieoptionen existieren). In solchen Fällen besteht
a) ein besonders hohes Interesse daran, möglichst schnell neue Therapieoptionen zur Verfügung zu haben, und b) ist die Durchführung klassischer Zulassungsstudien mit hohen Fallzahlen und relevanten Endpunkten schwierig bis unmöglich.
Erleichterungen können in der Akzeptanz von Studien mit geringen Fallzahlen und mit Surrogatparametern als primäre Endpunkte bestehen. Selbst unter den regulär zugelassenen Onkologika in der Davis-Studie hatte ein Drittel nur einen Surrogatparameter als primären Endpunkt. Der in einer Studie zu untersuchende Unterschied zwischen der Wirkung einer Kontroll- und einer neuen Therapie zeigt sich in Surrogatparametern (z. B. zytologisch, molekular oder radiologisch festgestelltes Ansprechen des Tumors oder progressionsfreies Überleben) in der Regel deutlich schneller als im Überleben und eindeutiger als bei der Lebensqualität, die beide „harte“, das heißt patientenrelevante Endpunkte sind. Auch die Verwendung von Surrogatendpunkten trägt also dazu bei, neue Therapien schnell verfügbar zu machen. Eine weitere Intention bei der Erleichterung des Studien- und Zulassungsaufwands war, für die Industrie die Entwicklung solcher Wirkstoffe attraktiver zu machen, die sich später voraussichtlich nur in einem kleinen Marktsegment absetzen lassen und darum wirtschaftlich uninteressant sind.
Insgesamt ist es also durchaus berechtigt, die Zulassungsanforderungen in manchen Bereichen zugunsten einer Chance auf Verbesserung der medizinischen Versorgung zu senken. Allerdings muss offenbar energisch dafür Sorge getragen werden, dass der Zustand der Ungewissheit nicht ewig anhält.
Schon jetzt besteht für bedingt zugelassene Arzneimittel eigentlich die Auflage, nach der Zulassung die fehlenden Daten zu erheben und vorzulegen. Die Davis-Studie zeigt jedoch, dass in der Nachzulassungsphase ein Nutzen in Bezug auf das Überleben oder die Lebensqualität nur für acht der zugelassenen Onkologika belegt wurde. Das British Medical Journal zitiert in einem Feature-Artikel [2] zu der Davis-Studie einen EMA-Mitarbeiter mit den Worten „niemand möchte zu einem Krebstherapeutikum ‚nein‘ sagen“. Das ist eine mögliche Erklärung für die Zurückhaltung in puncto Rücknahme der Zulassung aufgrund von Datenmangel, sie ist aber wegen der oben beschriebenen möglichen negativen Folgen für den Patienten und das Gesundheitssystem bei nüchterner Betrachtung nicht stichhaltig.
Keine gute Lösung wäre, allein darauf zu setzen, die Kosten unzureichend geprüfter Onkologika einzudämmen, indem die Erstattungsfähigkeit an den Nutzenbeleg gekoppelt wird. Da die Zulassung für „Qualität, Sicherheit und Wirksamkeit“ steht und stehen soll, ist verzweifelten Patienten und ihren Angehörigen kaum zu vermitteln, warum eine Therapie zugelassen ist, das Gesundheitswesen aber die Kosten nicht übernimmt. Diese Notlösung besteht in Großbritannien und führt dort regelmäßig zu Kritik und Unmut.
Besser ist es, die Zulassungsmodalitäten so zu verändern, dass mindestens bei länger zugelassenen Therapien der patientenrelevante Nutzen ohne Zweifel feststeht.
Es ist nicht einfach, den optimalen Zeitpunkt festzulegen, zu dem Onkologika einen Überlebens- oder Lebensqualitätsvorteil beweisen müssen, um (weiter) zugelassen zu werden. Der patientenrelevante Nutzen müsse bereits vor der Zulassung belegt sein, sagen die einen. Für Patienten mit selten vorkommenden Erkrankungen käme die Zulassung dann zu spät, sagen andere, diese Patienten brauchen frühen Zugang zu Wirkstoffen, die ihre letzte Chance bedeuten könnten. Dass der Nutzen niemals belegt wird, darf nicht sein, darüber herrscht Einigkeit. Eine Lösung könnte sein, eine bedingte Zulassung obligatorisch mit „Verfalldatum“ zu versehen sowie mit der Pflicht, die Daten jedes mit dem entsprechenden Arzneimittel behandelten Patienten zu dokumentieren. Sollte der Nutzennachweis aufgrund der gesammelten Patientendaten nach z. B. drei Jahren der klinischen Anwendung unter bedingter Zulassung nicht erbracht worden sein, würde die Zulassung automatisch erlöschen. Die Chance der Patienten, eine wirksame Therapie zu erhalten, bliebe auf diese Weise erhalten, und Ressourcen des Gesundheitssystems, die in Therapien mit unklarem Nutzen fließen, würden zumindest dem Erkenntnisgewinn und der langfristigen Verbesserung der Therapie sowie der gezielteren Allokation weiterer Ressourcen dienen. |
Literatur
[1] Davis C et al. Availability of evidence of benefits on overall survival and quality of life of cancer drugs approved by European Medicines Agency: retrospective cohort study of drug approvals 2009-13. BMJ 2017;359:j4530
[2] Cohen D. Cancer drugs: high price, uncertain value. BMJ 2017;359:j4543
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