Geriatrie

Schritt für Schritt

Der Weg zu einer adäquaten Pharmakotherapie

Von Beate Mussawy | Sie versorgen ein Pflegeheim und machen eine Medikationsanalyse für die Bewohnerin Frau W. Es liegt Ihnen der Medikationsplan vor, den die Abb. 1 zeigt, als Diagnosen sind in der Akte von Frau W. aufgeführt:

  • arterielle Hypertonie
  • Herzinsuffizienz
  • koronare Herzkrankheit (KHK)
  • Harninkontinenz
  • Verdacht auf beginnende Demenz
Abb. 1: Der Medikationsplan von Frau W.

Folgende Schritte für das weitere Vorgehen sind möglich:

Plausibilitätscheck: Prüfen der Medikation mittels MAI (Medication Appropriateness Index)

Durchsicht der Medikation in Bezug auf PIM (potenziell inadäquate Medikation) z. B. mittels der Priscus- und der Forta-Liste

Durchsicht der Medikation in Bezug auf anticholinerge (Neben-)Wirkungen,

dazu stehen zahlreiche Werkzeuge wie beispielsweise die ARS (Anticholinergic Risk Scale) oder ACB (Anticholinergic Cognitiv Burden Scale) zur Verfügung [26, 27], s. Tab. 1

Tab. 1: Anticholinerge Last. Ergebnisse der Durchsicht der Medikation in Bezug auf anticholinerge (Neben-)Wirkungen.
Arzneistoff
Anticholinergic Risk Scale (ARS)
Anticholinergic Cognitiv Burden Scale (ACB)
ASS 100 mg
nicht bewertet
0
Clopidogrel 75 mg
nicht bewertet
0
Furosemid 20 mg
nicht bewertet
nicht bewertet
Enalapril 20 mg
nicht bewertet
0
L-Thyroxin 50 µg
nicht bewertet
nicht bewertet
Pantoprazol 40 mg
nicht bewertet
0
Oxybutynin 5 mg
3
3
Simvastatin 40 mg
nicht bewertet
0
Lorazepam 1 mg
nicht bewertet
1

Ausarbeitung möglicher Vorschläge zur Verbesserung der AMTS

Kommunikation der Vorschläge an den Arzt

Mögliche Ergebnisse des Plausibilitätschecks

Indikation: Gibt es eine Indikation für das Arzneimittel? (Recherche in den Leitlinien und Fachinformationen). Im Fall von Frau W. findet man folgende Arzneimittel ohne angege­bene Diagnose:

  • L-Thyroxin
  • Pantoprazol
  • Lorazepam bei Bedarf
  • Clopidogrel (klären, ob und wenn ja wann die Patientin z. B. einen Stent bekommen hat, Indikation in Kombination mit ASS weiterhin gegeben?)

Diagnosen: Gibt es Diagnosen, für die keine oder eine nicht vollständige Arzneimitteltherapie besteht?

  • Betablocker bei KHK und Herz­insuffizienz ist nicht angeordnet.

Effektivität: Ist das Arzneimittel wirksam für die verordnete Indikation? (Recherche in Fachinformationen, Leitlinien, Beschlüssen des G-BA, Arzneimittelbrief und PubMed).

  • Die Arzneimittel sind wirksam für die verordneten Indikationen.

Dosierung: Stimmt die Dosierung?

(Recherche in Fachinformationen, Leitlinien und auf www.dosing.de)

  • Die Dosierungen scheinen plausibel. Für eine möglicherweise notwendige Anpassung an die Nierenfunktion wären Kenntnisse über die aktuelle glomeruläre Filtrationsrate (GFR) nötig.

Richtigkeit der Arzneimitteleinnahme und -anwendung: Sind die Einnahmevorschriften z. B. bezüglich Applikationsmodus, Einnahmefrequenz, Einnahmezeit, Relation zu den Mahlzeiten korrekt? (Recherche in Fachinformationen und auf www.pharmatrix.de)

  • L-Thyroxin sollte morgens nüchtern mindestens eine halbe Stunde vor dem Frühstück eingenommen werden.
  • Simvastatin sollte am Abend eingenommen werden.

Interaktionen: Gibt es klinisch relevante Interaktionen mit anderen Arzneimitteln?

(Recherche in Fachinformationen und Interaktionsdatenbanken)

  • Clopidogrel und Pantoprazol wird von uptodate/Lexicomp® Drug Interactions als relevante Interaktion eingestuft. In der Fachinformation von Clopidogrel (z. B. Iscover® [28]) findet sich allerdings die Angabe, dass Clopidogrel wohl zusammen mit Pantoprazol angewendet werden kann.
  • ASS und Clopidogrel können durch eine pharmakodynamische Interaktion zu einem erhöhten Blutungsrisiko und einer Verlängerung der Blutungszeit führen.
  • Furosemid kann gemäß uptodate/Lexicomp®Drug Interactions die antihypertensive Wirkung sowie die nephrotoxischen Effekte von Enalapril erhöhen (pharmakodynamischer Synergismus).
  • Der Langzeitgebrauch von Protonenpumpeninhibitoren (PPI) wie Pantoprazol kann zu einer Hypomagnesiämie führen. Das Risiko ist in Kombination mit Diuretika (Furosemid) gemäß www.drugs.com erhöht.

Interaktionen: Gibt es klinisch relevante Interaktionen mit anderen Krankheiten/Zuständen?

(Recherche in Fachinformationen, Forta-Liste und ABDA-Datenbank)

  • Für Oxybutynin sind anticholinerge Wirkungen auf das Zentralnervensystem beschrieben. Gegebenenfalls besteht ein Zusammenhang mit der Diagnose „Verdacht auf beginnende Demenz“. Für Lorazepam sind ebenfalls leichte anticholinerge Wirkungen beschrieben.
  • Furosemid könnte möglicherweise die Harninkontinenz negativ beeinflussen.

Praktikabilität: Sind die Anwendungsvorschriften für den Patienten praktikabel?

  • Es bestehen zwei feste Einnahmezeitpunkte pro Tag sowie bei Bedarf eine Tablette zur Nacht. Die Anwendungs­vorschriften scheinen praktikabel. Eine Einnahme von L-Thyroxin eine halbe Stunde vor dem Frühstück wäre wünschenswert.
  • Die Oxybutynin-Tabletten müssen geteilt werden, praktikabler für die Patientin wäre möglicherweise die Einnahme von Oxybutynin 2,5 mg 1-0-1.

Doppelverordnungen: Wurden unnötige Doppelverordnungen vermieden? (Recherche in Leitlinien)

  • Gegebenenfalls besteht bei ASS und Clopidogrel eine möglicherweise nicht mehr indizierte Doppelverordnung.

Therapiedauer: Ist die Dauer der medikamentösen Therapie (seit wann verordnet) adäquat? (Recherche in Fachinformationen und Leitlinien)

  • Die Verordnungsdauer von Clopido­grel und Pantoprazol gilt es zu überprüfen.

Wirtschaftlichkeit: Wurde die kostengünstigste Alternative vergleichbarer Präparate ausgewählt? (Recherche in den Arzneimittelrichtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses [G-BA] und den Festbetragsgruppen)

  • Die verordneten Substanzen sind alle recht kostengünstig.
  • Möglicherweise kann durch den Einsatz von Generika (soweit ver­fügbar) eine Kostenersparnis erzielt werden.

Ergebnisse der Durchsicht der Medikation in Bezug auf PIM

Auf der Priscus-Liste ist Oxybutynin (unretardiert) zu finden. Lorazepam wäre erst in einer Dosierung > 2 mg/Tag ein PIM gemäß Priscus-Liste.

Von Forta wird Oybutynin (unretardiert) mit D bewertet, Benzodiazepine (zu denen Lorazepam zählt) werden ebenfalls mit D bewertet.

Tabelle 1 zeigt die Ergebnisse der Durchsicht der Medikation in Bezug auf anticholinerge (Neben-)Wirkungen. Frau W. hat folglich gemäß der Anticholinergic Risk Scale eine anticholinerge Last von 3 Punkten und gemäß der Anticholinergic Cognitiv Burden Scale (ACB) eine Last von 4 Punkten. Ein Punktwert von < 3 wäre erstrebenswert. Ein Punktwert ≥ 3 kann klinisch relevante Folgen haben.

Zusammenfassung

Tabelle 2 zeigt einen zusammenfassenden Überblick über die Medikation von Frau W. Im Gespräch mit dem Arzt könnten die Indikationen für Clopidogrel, L-Thyroxin, Pantoprazol und Lorazepam hinterfragt und mögliche Anpassungen vorgeschlagen werden. Des Weiteren könnte hinterfragt werden, warum Frau W. keinen Betablocker bekommt. Möglicherweise liegt eine Unverträglichkeit vor? Für L-Thyroxin und Simvastatin könnten die Einnahmezeiten hinterfragt werden. Insbesondere ist es sicherlich sinnvoll, die Gabe von unretardiertem Oxybutynin zu hinterfragen. Möglicherweise findet sich eine bessere Alternative und Frau W. profitiert auch in Bezug auf ihren kognitiven Status von einer Umstellung. Bezüglich der Harn­inkontinenz sollte auch überdacht werden, ob die diuretische Therapie optimierbar ist.

Tab. 2: Zusammenfassung der Ergebnisse der Medikationsanalyse für Frau W.
Arzneistoff
Indikation
PIM?
anticholinerges Potenzial
Vorschläge zur Verbesserung der AMTS
ASS
KHK
Clopidogrel
fraglich
Ist die Indikation (noch) gegeben?
Furosemid
Hypertonie, (Herzinsuffizienz)
Gegebenenfalls Umstellung auf Torasemid mit längerer Halbwertszeit möglich? „Harninkontinenz-Problematik“ beachten
Enalapril
Hypertonie, Herzinsuffizienz, KHK
L-Thyroxin
fraglich
Indikation gegeben? Einnahme eine halbe Stunde vor dem Frühstück anstreben
Pantoprazol
fraglich
Indikation gegeben? Gegebenenfalls Absetzen möglich?
Oxybutynin
Harninkontinenz
ja
ja
PIM und anticholinerge Wirkung, die gegebenenfalls auch die Diagnose „Verdacht auf beginnende Demenz“ bedingt, Umstellen erwägen, gegebenenfalls wären Fesoterodin oder Trospiumchlorid besser geeignete Alternativen
Simvastatin
KHK
Einnahme auf abends verschieben?
Lorazepam
fraglich
gegebenenfalls
etwas
Indikation? Gegebenenfalls ein besser geeignetes Sedativum wie Melatonin oder Zopiclon niedrig­dosiert wählen?

Für eine weitere Bewertung der Medikation und eventuell nötige Dosisanpassungen wären beispielsweise Kenntnisse über die aktuelle Nierenfunktion (GFR) wichtig. |

Literatur

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[3] Von Renteln-Kruse W, Frilling B, Neumann L. Arzneimittel im Alter. De Gruyter, Berlin/Boston 2014

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[28] Fachinformation Iscover® 75 mg und 300 mg, Stand 12/2016

Autorin

Dr. Beate Mussawy studierte Pharmazie an den Universitäten in Marburg und Kuopio (Finnland); Promotion zum Dr. rer. nat. im Gebiet Klinische Pharmazie zum Thema „Potentiell inadäquate Medikation für Ältere“ an der Universität Hamburg; Fachapothekerin für Klinische Pharmazie und Geriatrische Pharmazie; seit 2011 als Apothekerin in der Klinikapotheke des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf im Bereich Arzneimittelversorgung; Apothekerin auf Station im Dienste der Erhöhung der Arzneimitteltherapie­sicherheit.

Im November 2017 ist ihr Buch „Arzneimittel im Alter – Strategien für eine optimale Pharmakotherapie“ bei der Wissenschaftlichen Verlags­gesellschaft Stuttgart erschienen.

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