Seltene Erkrankungen

Hoffnungsträger Edaravone

Zulassungsantrag für neues ALS-Medikament bei der EMA eingereicht

Die Erkrankung des britischen Astro­physikers Stephen Hawking und die Spendenaktion „ALS Ice Bucket Challenge“ haben der amyotrophen Lateralsklerose (ALS) viel Aufmerksamkeit beschert. Die Behandlungsmöglichkeiten dieser seltenen und zurzeit unheilbaren Erkrankung sind jedoch nach wie vor begrenzt. Bislang gab es nur ein Medikament, das den krankheits­bedingten Verfall der motorischen Funktionen verzögern konnte. Mit dem Wirkstoff Edaravone, der in Zukunft auch in Europa zugelassen werden könnte, gibt es für Ärzte, Patienten und ihre Angehörigen neue Hoffnung.

Mit einer Inzidenzrate von zwei bis drei Neuerkrankungen pro 100.000 Menschen pro Jahr zählt die amyotrophe Lateralsklerose zu den seltenen Krankheiten. Dennoch versterben jedes Jahr weltweit etwa 30.000 Menschen an dieser bislang unheilbaren Erkrankung. In Deutschland leben ca. 8000 ALS-Patienten, jedes Jahr kommen etwa 2250 dazu. Männer sind eineinhalb bis zweimal so häufig betroffen wie Frauen. Der Ausbruch der Krankheit erfolgt meistens zwischen dem 40. und 70. Lebensjahr. Frühe Symptome wie Muskelschwäche oder leichte Ermüdbarkeit der Muskulatur werden häufig nicht als ALS-Symptome erkannt. Deshalb vermutet man einen viel früheren Krankheitsbeginn.

Ice Bucket Challenge

Foto: imago/ZUMA Press

Die „ALS Ice Bucket Challenge“ (Eiswasserkübel-Herausforderung) war eine Spendenaktion zugunsten von Patienten mit amyotropher Lateralsklerose, die Mitte 2014 in den USA initiiert wurde. Sie verbreitete sich rasch über die sozialen Medien und war nach wenigen Wochen auch in Europa angekommen. Wer sich dieser Herausforderung stellen wollte, musste sich einen mit eiskaltem Wasser und Eiswürfeln gefüllten Eimer über den Kopf gießen oder gießen lassen, davor oder danach auf die Spendenaktion hin­weisen sowie selbst etwas spenden. Anschließend nominierte er oder sie eine oder mehrere Personen, innerhalb von 24 Stunden die gleiche Prozedur durchzuführen. Die Idee hinter dem Eiswasserguss war, dass der Kandidat dadurch für einige Sekunden das Gefühl der Lähmung spüren sollte, unter dem ALS-Betroffene nach Ausbruch der Erkrankung mehrere Jahre leiden müssen. Häufig wurde der Kandidat gefilmt und das Video auf facebook oder YouTube veröffentlicht. Die Aktion bescherte vielen ALS-Kliniken, Verbänden und Patientenorganisationen weltweit umfangreiche finanzielle Mittel. Auch die ALS-Ambulanz an der Charité Berlin registrierte in dieser Zeit ein wesentlich höheres Spendenaufkommen als üblich: Innerhalb eines Jahres kamen dort ca. 1,6 Millionen Euro an Spendengeldern zusammen.

Progredienter Verlauf

Die genaue Pathogenese der amyotrophen Lateralsklerose ist noch nicht geklärt. Zu den Ursachen existieren verschiedene Hypothesen, beispielsweise Autoimmunreaktionen, Virusinfektionen oder Umweltgifte. Daneben werden auch ein Überschuss des exzitatorischen Neurotransmitters Glutamat, oxidativer Stress, Entzündungsreaktionen oder eine abnorme Speicherung bestimmter Proteine in Gehirn und Rückenmark für die Pathogenese verantwortlich gemacht. Letztendlich kommt es durch die Degeneration der motorischen Nervenzellen (Motoneurone, s. Abb.) zum fortschreitenden Verlust der willkürlichen Muskelfunktion, zu Muskelzucken (Faszikulieren), Spastik und Lähmungen. Innere Organe sowie die kognitiven Fähig­keiten der Patienten sind nicht direkt betroffen. In den meisten Fällen tritt drei bis fünf Jahre nach der Diagnose der Tod durch Atemlähmung ein.

Abb.: Degeneration von Motoneuronen Als obere Motoneuronen werden die motorischen Nervenzellen im Gehirn bezeichnet, die die Auslösung willkürlicher Bewegungen verantworten. Ihre Signale werden an untere Motoneuronen im Rückenmark weitergeleitet, die die Signale an den Muskel übertragen. Bei der amyotrophen Lateralsklerose sind beide Neuronen degeneriert, wodurch die willkürliche Steuerung der Muskulatur je nach Stadium eingeschränkt oder nicht möglich ist.

Wenige Behandlungsoptionen

Die Behandlung der ALS ist komplex, da die Methoden flexibel an die Bedürfnisse der Patienten angepasst werden müssen. Als beste Versorgungsform gilt die Betreuung durch eine ALS-Spezialambulanz, in der die verschiedenen Behandlungen wie Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie, Ernährungs- und Beatmungstherapie gut koordiniert werden können. Medikamentös kann die amyotrophe Lateralsklerose neuroprotektiv oder symptomatisch behandelt werden. Bisher war Riluzol (Rilutek® und Generika) das einzige Medikament, das das Fortschreiten der Erkrankung nachweislich zu verzögern vermochte. Riluzol erhöhte in Studien dosisabhängig die Wahrscheinlichkeit, das erste Therapiejahr zu überleben, um rund sechs bis 12%. Der genaue Wirkmechanismus von Riluzol ist noch nicht geklärt; man vermutet eine Hemmwirkung auf die glutamaterge Erregungsleitung. Zur symptomatischen bzw. palliativen Behandlung der amyotrophen Lateralsklerose werden verschiedene Wirkstoffe eingesetzt (s. Tab.).

Tab.: Wirkstoffe zur symptomatischen Behandlung der ALS (Auswahl). Ziel der symptomatischen Therapie ist die Linderung der Beschwerden und damit die Erhaltung der Lebensqualität. Einige Wirkstoffe werden zusätzlich zu nichtmedikamentösen Maßnahmen eingesetzt. So sind bei der Thromboseprophylaxe Krankengymnastik und Stützstrümpfe erste Wahl.
Symptom/Anwendungsgebiet*
Wirkstoffe
respiratorische Insuffizienz
chronische Phase: Mukolytika, Theophyllin (bei Obstruktion), nicht-kardioselektive Betablocker (z. B. Propranolol)Terminalphase: Morphin s.c.
Dyspnoe (akut)
Fentanyl (Nasenspray)
Angstzustände/Panikattacken
Lorazepam, Midazolam, Diazepam (auch als Suppositorien), SSRI (z. B. Paroxetin)
Pneumonieprophylaxe
N-Acetylcystein, Guaifenesin, Betablocker (Metoprolol oder Propranolol), Anticholinergika (Ipratropium) oder Theophyllin
Hypersalivation
Scopolamin (TTS), Amitriptylin, Atropin (1% Tropfen), Botulinumtoxin A oder B
Thromboseprophylaxe
niedermolekulare Heparine
Depression
Amitriptylin, SSRI
pseudobulbäre Affektstörung (pathologisches Lachen und Weinen)
Amitriptylin, eventuell SSRI (z. B. Fluvoxamin)Dextromethorphan + Chinidin (als Nuedexta® in Europa seit 2013 zugelassen, in Deutschland noch nicht im Markt)
Schmerzen
initial NSAR, später Opioide nach WHO-Schema
Muskelkrämpfe/Faszikulationen
Magnesium, Chininsulfat, Carbamazepin
Spastik
Antispastika, bei der PLS** auch L-Dopa;Botulinumtoxin A, Tetrahydrocannabinol (THC) + Cannabidiol als Oromukosalspray

* nicht extra gekennzeichnet: Einige Wirkstoffe werden bei der ALS off label eingesetzt.

**PLS: primäre Lateralsklerose; nur das obere Motoneuron ist betroffen

Hoffnungsträger Edaravone

Riluzol war bereits 1996 zur ALS-Behandlung zugelassen worden. Nach rund 20 Jahren steht nun mit dem Wirkstoff Edaravone in einigen Ländern eine neue Option zur Verfügung. Seit 2015 ist er unter dem Handels­namen Radicut® in Japan und Süd­korea verfügbar. Im Mai 2017 wurde Edaravone als Radicava® in den USA zugelassen. Bei der europäischen Zulassungsbehörde EMA ist seit Juni diesen Jahres ein Zulassungsantrag für Edaravone in der Bearbeitung, der von der Firma Mitsubishi Tanabe Pharma Europe Ltd eingereicht wurde. Bereits 2015 hatte die EMA den Orphan-Drug-Status erteilt. Bis Edaravone in Deutschland verfügbar ist, kann Radicut® über internationale Apotheken aus Japan importiert werden. Die gesetzlichen und privaten Krankenversicherungen übernehmen auf Antrag die Kosten der Behandlung.

Nicht für alle ALS-Patienten geeignet

Die Zulassungen von Edaravone in Japan, Südkorea und den USA beruhen auf zwei klinischen Studien aus Japan. In der Studie MCI-186-16 war Edara­vone in der Gesamtpopulation der eingeschlossenen ALS-Patienten nicht wirksam. In einer Subgruppenanalyse ergab sich, dass der Wirkstoff das Fortschreiten der Erkrankung nur bei Vorliegen bestimmter klinischer Merkmale verlangsamen kann. Dazu zählen unter anderem eine Erkrankungsdauer von weniger als zwei Jahren, eine gute Atemfunktion und eine geringe bis mittlere Krankheitsprogression. In einer zweiten klinischen Studie (MCI-186-19) waren diese Merkmale als Einschlusskriterien definiert worden. Innerhalb einer 24-­wöchigen Behandlung zeigte sich eine statistisch signifikante Verlangsamung der Krankheitsprogression in der Edaravone-Gruppe (n = 68) im Vergleich zur Placebo-Gruppe (n = 66) um etwa 30%, ermittelt mithilfe der ALS Functional Rating Scale (ALS-FRSr). ALS-FRSr ist eine international etablierte Skala zur Erfassung der ALS-­Erkrankungsschwere, in der zwölf motorische Funktionen (Subskalen) bewertet werden, die typischerweise bei der amyotrophen Lateralsklerose beeinträchtigt sind. Die häufigsten Nebenwirkungen von Edaravone waren Blutergüsse, Gangstörungen und Kopfschmerzen. Außerdem sind nach Beendigung der Infusion lebensbedroh­liche allergische Reaktionen auf den Wirkstoff oder den Hilfsstoff Natriumbisulfit mit Symptomen wie Urtikaria, Schwellungen in den Atemwegen und Atemnot möglich.

Nutzen-Risiko-­Abwägung

Edaravone wird einmal täglich als 60-minütige Infusion verabreicht. Die Behandlung von ALS-Patienten erfolgt in vierwöchigen Therapiezyklen. Im ersten Behandlungszyklus sind 14 Tage lang einmal täglich eine Infusion vorgesehen, gefolgt von 14 Tagen Therapiepause. Ab dem zweiten Behandlungszyklus, der ebenfalls 28 Tage umfasst, erhalten die Patienten nur in den ersten zehn Tagen eine Edaravone-­Infusion. Bei der erstmaligen Applikation muss der Patient in einer tagesklinischen oder stationären Einrichtung kontinuierlich überwacht werden. Der sich daraus ergebende zeitliche und logistische Aufwand stellt für Patienten mit krankheits­bedingt geringen körperlichen und psychischen Ressourcen eine starke Belastung dar. Deshalb sind die Ärzte gehalten, Nutzen und Risiken einer Behandlung mit Edaravone sorgfältig gegeneinander abzuwägen.

Orale Edaravone-Darreichnungsform in der Entwicklung

Das private Biotec-Unternehmen Treeway in den Niederlanden entwickelt derzeit eine orale Darreichungsform von Edaravone. In einer randomisierten Phase-I-Crossover-Studie mit 18 gesunden Probanden zeigte sich, dass sich mit dem Prüfmedikament TW001 mit einer Dosis von 140 mg eine größere Bioverfügbarkeit erzielen ließ als mit einer einstündigen Infusion von 60 mg Radicava®. Treeway plant derzeit eine Phase-III-Studie mit oralem Edaravone.

Ein weiterer potenzieller Wirkstoff zur ALS-Behandlung ist der Protein-Kinase-Inhibitor (PKI) Masitinib. Er ist bereits als Tierarzneimittel zur Therapie von Mastzelltumoren bei Hunden zugelassen. Als Wirkmechanismus postuliert man eine Hemmung von Mikrogliazellen, die bei einer amyotrophen Lateralsklerose wahrscheinlich eine pathologische Bedeutung haben. In einer 48-wöchigen Phase-II/III-Studie wurde Masitinib in Kombination mit Riluzol gegen Placebo plus Riluzol erfolgreich getestet. Diese Studie ist bereits abgeschlossen, weitere Untersuchungen sollen folgen. |

Literatur

Amyotrophe Lateralsklerose (Motoneuron­erkrankungen). Leitlinie der Deutschen ­Gesellschaft für Neurologie (DGN), vollständig überarbeitet, Stand 1. Juni 2014, gültig bis 31. Mai 2019

Fachinformation Rilutek® 50 mg Filmtabletten, Stand Dezember 2013

Informationen der Deutschen Gesellschaft für Muskelkranke e.V. (DGM), www.als-selbsthilfe.de, Abruf am 24. Juli 2018

Doble A. The pharmacology and mechanism of action of riluzole. Neurology 1996;47:233-241

Bryson HM et al. Riluzole. A review of its pharmacodynamic and pharmacokinetic properties and therapeutic potential in ALS. Drugs 1996;52(4):549-563

Applications for new human medicines under evaluation by the COMP. EMA/382940/2018 - Corr, www.ema. europa.org, Abruf am 24. Juli 2018

Edaravone bei der ALS – Update. Handlungsempfehlung für die Therapie mit Edaravone. www.als-charite.de/edaravone-bei-der-als-update/, Abruf am 24. Juli 2018

Treeway Announces Promising Data from Phase I Clinical Trial of Lead Program TW001 for ALS. Pressemitteilung von Treeway vom 29. Mai 2018, www.treeway.nl

Fachinformation Radicava® for intravenous use. Mitsubishi Tanabe Pharma Corporation, Stand August 2017

Petrov D et al. ALS Clinical Trials Review: 20 years of failure. Are we any closer to registering a new treatment? Front Aging Neurosci 2017;9:68, doi: 10.3389/fnagi.2017.00068

Public summary of opinion on orphan designation. Edaravone for the treatment of amyotrophic lateral sclerosis, Pressemitteilung des COMP vom 23 Februar 2015, EMA/COMP/744271/2014, www.ema.europa.eu, Abruf am 23. Juli 2018

AB Science announces positive top-line results of final analysis from study AB10015 of masitinib in amyotrophic lateral sclerosis (ALS). Pressemitteilung der AB Science vom 20. März 2017, www.ab-science.com Abruf am 23. Juli 2018

Apothekerin Dr. Claudia Bruhn

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