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Arzneimittel und Therapie
Schnelle Hilfe bei Suizidgefahr
Bringt Ketamin den lang ersehnten Durchbruch?
Das Suizidrisiko ist bei depressiv Erkrankten etwa 30-mal höher als in der Allgemeinbevölkerung. Im Rahmen der Therapie sollte dieses Thema deshalb nicht verschwiegen, sondern im Gegenteil direkt und regelmäßig angesprochen werden, empfiehlt die aktuelle Leitlinie „Unipolare Depression“. Nur so könne das gegenwärtige Risiko abgeschätzt werden. Frühere Suizidversuche, Abschiedsvorbereitungen, Gefühle von großer Hoffnungslosigkeit, fehlende Zukunftsvorstellungen, zunehmender sozialer Rückzug – hier sollten die Alarmglocken schrillen. Statistisch gesehen ist das Risiko bei Männern über 70 Jahre, die alleinstehend und arbeitslos sind und unter einer chronischen körperlichen Erkrankung leiden, besonders hoch. Doch all diese Faktoren zusammengenommen, ergeben keine Checkliste: Die Prädiktion von Suizidversuchen ist und bleibt extrem schwer.
Mehren sich die Anzeichen, gilt es, die Notwendigkeit akuter psychopharmakotherapeutischer Maßnahmen abzuwägen. Zur speziellen akuten Behandlung der Suizidalität sollten Antidepressiva laut Leitlinie nicht zum Einsatz kommen. Bei selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI) besteht wegen ihrer antriebssteigernden Wirkung sogar die Gefahr, dass auch noch letzte Hemmschwellen eingerissen werden. Dafür kommen Benzodiazepine zur Sedierung und Antipsychotika bei gleichzeitig bestehenden psychotischen Symptomen in Betracht. Ein zugelassenes Notfallmedikament für Patienten mit hohem Suizidrisiko gibt es nicht.
Lichtblick Ketamin
In dieser Hinsicht lässt das als dissoziatives Anästhetikum bekannte Ketamin aufhorchen: Es soll einige Patienten innerhalb von Stunden aus einer schweren Depression holen und von Selbstmordgedanken befreien können.
Ketamin ist ein nicht kompetitiver NMDA-Rezeptorantagonist. Es verhindert die Bindung von Glutamat an den Rezeptor und hemmt die NMDA-abhängige Freisetzung von Acetylcholin. Zudem blockiert es den neuronalen Calcium-Einstrom und zeigt darüber hinaus eine schwache agonistische Wirkung an Opioid-Rezeptoren. Das S-Enantiomer (Esketamin) hat dabei eine höhere Affinität zu NMDA-Rezeptoren als das R-Enantiomer (s. Abbildung).
Wie genau Ketamin antidepressiv wirkt – und vor allem so schnell –, ist eine brennende Frage unserer Zeit. Fakt ist: Anders als die üblichen Antidepressiva greift es nicht in das Monoamin-Neurotransmittersystem ein. In tierexperimentellen Studien fördert Ketamin die Neuroplastizität, das heißt, es bewirkt, dass neue synaptische Verbindungen geknüpft werden. Traditionelle Antidepressiva können das zwar auch, nur wesentlich langsamer. Die schnelle Wirkung von Ketamin kann mit einer schlagartigen Freisetzung von BDNF (Brain Derived Neurotropic Factor) erklärt werden. Hohe Plasma-BDNF-Spiegel sind mit einer reduzierten Depressionssymptomatik assoziiert. Depressionen sind jedoch ein komplexes soziales Verhalten. Fraglich bleibt, ob allein die Neuroplastizität ausreicht, um sie zu erklären.
Off-label wird Ketamin bereits seit Jahren in der Akutbehandlung therapieresistenter und suizidgefährdeter depressiver Patienten eingesetzt, auch in Deutschland (siehe DAZ.online-Serie „Ketamin zur Therapie schwerer Depressionen“ [6]). Zur Verfügung stehen Injektionslösungen (z. B. Ketamin Inresa), eigentlich zugelassen zur Einleitung und Durchführung einer Vollnarkose, zur örtlichen Betäubung, zur Behandlung des therapieresistenten Status asthmaticus sowie zur Analgesie.
Die pharmazeutische Industrie arbeitet derzeit mit Hochdruck an einer handlicheren Lösung für die ambulante Therapie: der intranasalen Applikation.
Ein Sprühstoß in der Not
Die Arbeitsgruppe um Daly, beauftragt von Janssen Research, ist nach eigenen Angaben die erste, die die Wirksamkeit und Sicherheit eines Esketamin-Nasensprays untersucht hat. Im Rahmen einer Phase-2-Studie erhielten 67 therapierefraktäre Patienten mit Major Depression, die zuvor mehr als zwei Antidepressiva erfolglos ausprobiert hatten, entweder Placebo, Esketamin 28 mg, 56 mg oder 84 mg jeweils zweimal pro Woche (Randomisierung 3:1:1:1). Die bisherige antidepressive Therapie wurde beibehalten. Aus der Placebo-Gruppe wurden nach einer Woche 28 Patienten mit moderaten bis schweren Symptomen erneut randomisiert und einem der vier Behandlungsarme (1:1:1:1) zugeordnet. Patienten mit leichter Symptomatik blieben bei Placebo. 60 Patienten beendeten die zweiwöchige doppelblinde Behandlungsphase. Ab Tag 15 konnte die Behandlung unverblindet fortgeführt werden, wobei die Dosierung zunächst auf einmal wöchentlich, dann auf alle zwei Wochen reduziert wurde. Anschließend wurden die Patienten acht Wochen nachbeobachtet. Primärer Endpunkt war die Änderung des Montgomery-Åsberg-Depression-Rating-Scale (MADRS)-Gesamtscores während der doppelblinden Behandlungsphase. Das Ergebnis klingt vielversprechend: Die Esketamin-Behandlung war mit einer ausgeprägten Dosis-Wirkungs-Beziehung Placebo überlegen (28 mg: − 4,2, p = 0,02; 56 mg: − 6,3, p = 0,001; 84 mg: − 9,0, p < 0,001). Die Verbesserung der depressiven Symptome hielt bis zu zwei Monate nach Therapieende an.
Wenig später wurden die Ergebnisse der Arbeitsgruppe um Canuso veröffentlicht, die sich näher für die Wirksamkeit des Esketamin-Nasensprays bei Patienten mit unmittelbarer Suizidgefahr interessierte. 66 Probanden wurden neben der Standardtherapie über einen Monat zweimal wöchentlich entweder mit 84 mg Esketamin oder Placebo via intranasaler Gabe behandelt. Sowohl vier Stunden nach Applikation als auch einen Tag später war die depressive Symptomatik gemessen am MADRS in der Esketamin-Gruppe signifikant besser als unter Placebo, nicht aber nach 25 Tagen. Das Suizidrisiko war ebenfalls nach vier Stunden niedriger, allerdings bereits nicht mehr nach 24 Stunden.
Dissoziative Effekte – ein Problem?
Das Esketamin-Nasenspray wurde in den Studien gut vertragen. Die häufigsten Nebenwirkungen waren Übelkeit, Schwindel, Geschmacksstörungen und Kopfschmerzen. Der transient erhöhte Blutdruck war wegen der bekannten Catecholamin-Freisetzung unter Ketamin nicht überraschend. Er pegelte sich nach zwei Stunden wieder auf seinen Ausgangswert ein. Sorgen macht man sich eher wegen der psychotropen Nebenwirkungen: Menschen erleben unter Ketamin oft Halluzinationen oder dissoziative Zustände, bei denen sich Körper und Geist zu trennen und wieder neu zusammenzusetzen scheinen. Unter Szenenamen wie Special K, Vitamin K und Kate wird Ketamin auch als Partydroge missbraucht. Das Abususpotenzial wird von Kritikern als Gegenargument für eine breite therapeutische Anwendung ins Feld geführt. In klinischen Studien sind die dissoziativen Effekte schwer zu maskieren, sodass ein gewisser Grad der Aufhebung der Verblindung nicht auszuschließen ist. In der Studie von Canuso erreichten die Symptome nach 40 Minuten ihren Höhepunkt und waren nach zwei Stunden wieder verschwunden.
An der Charité Berlin wurden schon mehr als 100 Patienten mit Ketamin-Infusionen behandelt. Die Erfahrungen sprechen dafür, dass die psychotischen Erscheinungen kein Problem darstellen. Einen großen Nachteil sieht man aber darin, dass einige Patienten zwar schnell aus der Depression befreit werden, aber gleichzeitig eine hohe Rückfallwahrscheinlichkeit haben.
Zulassung in Sicht
Das Phase-3-Studienprogramm zum Esketamin-Nasenspray läuft auf Hochtouren. Erste Ergebnisse wurden im Mai auf einem Kongress in New York vorgestellt und lassen Janssen auf eine Zulassung noch in diesem Jahr hoffen. Immerhin gewährte die FDA ein beschleunigtes Verfahren, indem sie Esketamin den Status „Break Through Therapy“ zuerkannte, zunächst in der Indikation therapieresistente Depression, später auch zur Behandlung der Major Depression mit unmittelbarer Suizidgefahr. Die American Psychiatric Association (APA) sieht in Esketamin das Potenzial, zukünftig die Zeit bis zum Wirkeintritt der konventionellen Antidepressiva überbrücken zu können.
Auch in Europa wird die Zulassung angestrebt. Dass diese noch 2018 erteilt wird, glaubt Prof. Dr. Gerhard Gründer, Leiter der Abteilung Molekulares Neuroimaging am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (ZI) in Mannheim, jedoch nicht. Im unten stehenden Interview warnt er auch im Namen der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) vor zu großer Euphorie in Hinblick auf Ketamin. |
Literatur
[1] Statistik der Weltgesundheitsorganisation zu Suizidalität. www.who.int; Abruf am 10. Juli 2018
[2] SSRI und Suizidalität? Bekanntgabe der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) von 2004. www.akdae.de; Abruf am 10. Juli 2018
[3] Daly EA et al. Efficacy and Safety of Intranasal Esketamine Adjunctive to Oral Antidepressant Therapy in Treatment-Resistant Depression. JAMA Psychiatry.2018;75(2):139-148
[4] Canuso CM et al. Efficacy and Safety of Intranasal Esketamine for the Rapid Reduction of Symptoms of Depression and Suicidality in Patients at Imminent Risk for Suicide: Results of a Double-Blind, Randomized, Placebo-Controlled Study. Am J Psychiatry 2018;175(7):620-630
[5] Murrough JW et al. Ketamine for rapid reduction of suicidal ideation: a randomized controlled trial. Psychol Med 2015;45:3571–3580
[6] DAZ.online-Serie „Ketamin zur Therapie schwerer Depressionen“ vom 04. bis 06.12.2018. www.deutsche-apotheker-zeitung.de; Abruf am 10. Juli 2018
[7] New Phase 3 Data Show Esketamine Nasal Spray Demonstrated Rapid Improvements in Depressive Symptoms in Patients with Treatment-Resistant Depression. Pressemitteilung von Janssen Pharmaceutical Companies of Johnson & Johnson vom 5. Mai 2018. www.janssen.com; Abruf am 10. Juli 2018
[8] Study shows fast-acting benefits of ketamine for depression and suicidality. Pressemitteilung der American Psychiatric Association (APA) vom 16. April 2018. www.psychiatry.org; Abruf am 10. Juli 2018
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