Arzneimittel und Therapie

Nebenwirkung Demenz

Mit erhöhtem Risiko verbundene anticholinerge Wirkstoffklassen identifiziert

Dass Arzneimittel mit anticholinergen Eigenschaften eine Demenz­erkrankung begünstigen könnten, wird schon seit Längerem diskutiert. Eine großangelegte britische Fall-Kontroll-Studie hat nun einen weiteren Beleg zugunsten dieser Hypothese geliefert. Erstmalig konnten darin Unterschiede zwischen einzelnen Wirkstoffklassen gezeigt werden.

Arzneimittel mit anticholinergen Eigenschaften stehen unter Verdacht, die Kognition zu beeinträchtigen und bei regelmäßiger Einnahme das Risiko für die Entwicklung einer Demenzerkrankung langfristig zu erhöhen. Da die „anticholinerge Last“ einzelner Substanzen unterschiedlich ausgeprägt ist, liegt es nahe, dass verschiedene Wirkstoffklassen ein unterschiedliches Risiko besitzen. Daher hat das US-amerikanische Regenstrief Institute eine Klassifikation, die „Anticholinergic Cognitive Burden (ACB) Scale“, entwickelt, in der die Wirkstoffe nach dem Ausmaß ihrer anticholinergen Wirkung auf die Kognition in drei Gruppen eingeteilt werden. Dabei steht ein ACB-Score von 1 für einen möglichen anticholinergen Effekt aufgrund antagonistischer Wirksamkeit am Muscarin-Rezeptor in vitro (z. B. Cetirizin, Cimetidin oder Loperamid). Bei einem ACB-Score 2 wird der Effekt als klinisch relevant erachtet (z. B. Carbamazepin und Loxapin), und von Wirkstoffen mit einem ACB-Score 3 vermutet man, dass diese außerdem ein Delir auslösen können (z. B. Amitriptylin, Diphenhydramin oder Tolterodin).

Um das Demenzrisiko verschiedener Wirkstoffklassen anhand dieser Klassifikation genauer zu untersuchen, wurden die Daten von 40.770 Patienten im Alter von 65 bis 99 Jahren analysiert, die in britischen Hausarztpraxen behandelt worden waren. Sie hatten zwischen April 2006 und Juli 2015 die Diagnose Demenz erhalten. Man erfasste alle Anticholinergika, die zwischen vier und 20 Jahren vor der Diagnose verordnet worden waren, und gruppierte sie nach ihrem ACB-Score. Es handelte sich um Analgetika, Antidepressiva, Antipsychotika, Arzneimittel gegen gastrointestinale, kardiovaskuläre, respiratorische und uro­logische Erkrankungen sowie Mittel gegen Morbus Parkinson. Zur Vergleichsgruppe zählten 283.933 Patienten ohne Demenz, die ebenfalls Arzneimittel mit anticholinergen Eigenschaften erhalten hatten.

Anticholinerge Eigenschaften

Viele Arzneimittel, die bei Depressionen, Magen-Darm-Erkrankungen, Morbus Parkinson, Inkontinenz, Epilepsie oder Allergien eingesetzt werden, besitzen anticholinerge Eigenschaften. Dazu zählen periphere Wirkungen wie Mundtrockenheit oder Obstipation und zentrale Effekte wie Agitiertheit oder Halluzinationen. Da diese Nebenwirkungen insbesondere für ältere Patienten sehr gefährlich sein können, wird in verschiedenen Empfehlungen wie beispielsweise der PRISCUS-Liste geraten, die Substanzen im höheren Lebensalter mit besonderer Vorsicht einzusetzen oder ganz auf sie zu verzichten.

Verordnungen mit Folgen

14.453 Demenzpatienten (35%) und 86.403 Patienten der Vergleichsgruppe (30%) war während der Expositionsperiode mindestens ein Anticholinergikum mit ACB-Score 3 verordnet worden. Die Auswertung ergab einen signifikanten Zusammenhang zwischen dem Auftreten von Demenz und einer Verordnung von Antidepressiva wie Amitriptylin, Dothiepin oder Paroxetin (adjustierte Odds Ratio [aOR] 1,11; 95%-Konfidenzintervall [KI] 1,08 – 1,14), Antiparkinsonmitteln (aOR 1,29; 95%-KI 1,11 – 1,50) und spasmolytischen Urologika wie Oxybutynin und Tolterodin (aOR 1,18; 95%-KI 1,13 – 1,23). Für Antidepressiva und Spasmolytika war das Risiko auch dann noch erhöht, wenn die Verordnung bereits 15 bis 20 Jahre vor der Diagnose erfolgt war. Andere Wirkstoffe mit einem ACB-Score von 3, z. B. gegen gastrointestinale oder respiratorische Erkrankungen, waren hingegen nicht mit einem erhöhten Risiko assoziiert. Zu Wirkstoffen mit einem ACB-Score von 2 waren die Aussagen nicht eindeutig, da hier nur wenige Verordnungen vorlagen. In der Gruppe mit ACB-Score 1 zeigte sich lediglich für Antidepressiva ein po­sitiver Zusammenhang (aOR 1,25; 95%-KI 1,20 – 1,30).

Demenzrisiko berücksichtigen

Trotz einiger Limitationen der Studie (z. B. Patienten der Vergleichsgruppe könnten ebenfalls unter Demenz oder kognitiven Einschränkungen gelitten haben, fehlende Daten zur Adhärenz, keine Angaben zur Selbstmedikation)kann die Empfehlung gegeben werden, dass bei der Verordnung von Medikamenten mit anticholinergen Eigenschaften die mögliche langfris­tige Verschlechterung der kognitiven Funktionen bis hin zu einer Demenz berücksichtigt werden sollte. |

Quelle

Richardson K et al. Anticholinergic drugs and risk of dementia: case-control study. BMJ 2018;361:k1315

Holt S et al. PRISCUS-Liste potenziell inadäquater Medikation für ältere Menschen. www.priscus.net; Abruf am 03. Juli 2018

Apothekerin Dr. Claudia Bruhn

Das könnte Sie auch interessieren

Langzeitanwendung von Anticholinergika mit erhöhtem Demenzrisiko assoziiert

Gedächtnisfunktion in Gefahr

Anticholinergika bei Alzheimer-Demenz

Gefährliche Komedikation

Wenn der Geist die Spur verlässt

Gefürchtetes Delir

Der Weg zu einer adäquaten Pharmakotherapie

Schritt für Schritt

Sind Parkinson-Patienten besonders gefährdet?

Kognitive Einschränkung durch Anticholinergika

H1-Antihistaminika der ersten Generation können kleine Patienten gefährden

Risiko für Krampfanfälle bei Kindern erhöht

0 Kommentare

Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.