Arzneimittel und Therapie

„Ketamin wird das Problem nicht lösen“

Prof. Dr. Gerhard Gründer ordnet den Einsatz des Nasensprays bei Depressionen kritisch ein

rr | Auf dem 31. Kongress des International College of Neuropsychopharmacology (CINP), der Mitte Juni in Wien stattfand, wurden die Phase-3-Studien zum Esketamin-Nasenspray erstmals auf europä­ischem Boden vorgestellt. Vor Ort war auch Prof. Dr. Gerhard Gründer. Das Thema Ketamin wurde heiß diskutiert, verdient aber eine Abkühlung.
Prof. Dr. Gerhard Gründer

DAZ: Herr Professor Gründer, ist Ket­amin wirklich der Durchbruch in der Behandlung therapieresistenter Depressionen?

Gründer: In der Psychopharmakotherapie fehlt es schon seit vielen Jahren, ja Jahrzehnten, an Substanzen mit grundlegend neuem Wirkmechanismus. Die Forschung konzentriert sich derzeit vor allem auf neue Optionen bei Therapieresistenz. Ketamin ist definitiv eine sehr interessante Entwicklung. Auch psychedelische Substanzen wie Psilocybin und LSD werden bei Therapieresistenz geprüft. Ihre Wirksamkeit wirft Fragen auf, deren Antworten wesentlich zum Verständnis der Erkrankung beitragen würden. Wann ist ein Patient therapieresistent? Wie kommt er überhaupt dahin? Beruht die antidepressive Wirkung allein auf neurobiologischen Veränderungen oder lässt sie sich – im Falle der Psychedelika – auf eine spirituelle Erfahrung, die diese induzieren, zurückführen? Ketamin ist nicht mehr weit entfernt von einer breiten Anwendung. Man neigt in dieser Hinsicht zu Euphorie, die jedoch unbedingt gebremst werden muss.

DAZ: Warum genau?

Gründer: Vielen Patienten kann Ket­amin sicherlich Hoffnung schenken, aber es ist kein Wundermittel. Auch hier gibt es genügend Non-Responder. Ketamin wird ganz sicher nicht das Problem lösen, das wir mit Depressionen haben. In den USA werden bereits 12% aller Menschen über zwölf Jahre permanent mit einem Antidepressivum behandelt. Die Suizidraten nehmen in den letzten Jahren wieder zu, ganz besonders bei Mädchen und jungen Frauen. Diese Entwicklungen kann man nicht mit Ketamin stoppen. Aber es handelt sich um eine wichtige Innovation, die zum Nachdenken anregt und neue Strategien in der Behandlung eröffnet.

DAZ: Würde eine Zulassung des Esketamin-Nasensprays die Psychopharmakotherapie dennoch bereichern?

Gründer: Die Zulassung wird kommen, da bin ich sicher. In den USA früher als in Europa. Selbstverständlich freue ich mich über eine neue Option in der Behandlung therapieresistenter Depressionen. In Deutschland wird sich Janssen aber noch dem AMNOG-Prozess stellen müssen, der über die Rolle, die Esketamin in der Praxis spielen wird, entscheidet. Hierfür fehlen noch Studien, in denen es sich einer sogenannten zweckmäßigen Vergleichstherapie überlegen zeigt. Alle bisherigen Studien wurden gegen Placebo geführt. Studien gegen das Benzodiazepin Midazolam sind in dieser Hinsicht nicht hilfreich.

DAZ: Welche Vergleichstherapie bieten sich Ihrer Meinung nach an?

Gründer: Das ist tatsächlich eine schwierige Frage. In der Behandlung der Depression gibt es Therapiealgorithmen mit Dosissteigerungen, Wechsel und Kombination von Antidepressiva. Irgendwann ist ein Augmentieren mit Lithium angezeigt. Wenn das nicht ausreicht, versucht man es mit nicht-pharmakologischen Maßnahmen wie Elektrokonvulsionstherapie. Die Firma Janssen ist sicherlich schon im Gespräch mit dem Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA), wie eine zweckmäßige Vergleichstherapie in diesem Kontext auszusehen hat. Fachgesellschaften sollten mit ihrer Expertise unbedingt in den Prozess eingebunden werden. Leider findet eine solche Diskussion derzeit noch nicht statt.

DAZ: Bisher gibt es kein Arzneimittel, dessen Einsatz bei unmittelbarer Suizidgefahr zugelassen ist. Kann Ket­amin hier eine Lücke schließen?

Gründer: Es gibt eine ganze Reihe von Studien mit Ketamin, die gezielt die Wirkung auf die Suizidalität untersuchten. Und tatsächlich zeigte Es­ketamin eine akut suizidalitätsreduzierende Wirkung. Ich kann mir aber kaum vorstellen, dass die Zulassungsbehörden Suizidalität alleine mit einer klassischen Diagnose wie Depression oder Alzheimer gleichsetzen werden. Suizidalität ist ein Verhalten, das im Rahmen verschiedener Erkrankungen auftritt, aber keine Indikation. Nichtsdestotrotz sollte man es bei diesen Patienten einsetzen, auch wenn es höchstwahrscheinlich nicht explizit in der Fachinformation stehen wird.

DAZ: Was halten Sie von der Hoffnung der American Psychiatric Association, Esketamin zukünftig zur Überbrückung der Latenzzeit von konventionellen Antidepressiva einzusetzen?

Gründer: Hier ist meiner Meinung nach große Zurückhaltung angebracht. Die Zulassung von Esketamin wird sich auf die Behandlung von Patienten beschränken, die unter zwei, drei oder mehr Therapieoptionen keine Besserung erfahren haben. Für den Einsatz von Ketamin bei Erst­erkrankung, auch wenn aufgrund einer schweren Symptomatik akuter Handlungsbedarf besteht, fehlen die Daten zur Wirksamkeit und Sicherheit. Hier droht Off-label-Use im großen Stil, der ohne Erfahrungen nicht gerechtfertigt ist.

DAZ: Auch jetzt schon wird Ketamin i.v. in der Akutbehandlung suizidgefährdeter depressiver Patienten off-label eingesetzt. Sehen Sie das ebenfalls kritisch?

Gründer: Nein, das sind zwei Paar Schuhe. Hier geht es um Patienten, die schon mehrere Therapieversuche hinter sich haben. Bei den meisten von ihnen hat auch eine Elektrokonvulsionstherapie versagt. Ketamin könnte ihnen möglicherweise helfen. Kritisch sehe ich allerdings die Entwicklung, dass immer mehr private Arztpraxen Ketamin-Infusionen anbieten. Hier steckt ein Geschäftsmodell dahinter, vor dem dringend gewarnt werden muss. Die Therapie gehört noch immer in den Klinikbereich und in die Hände von erfahrenen Psychiatern.

DAZ: Herr Professor Gründer, haben Sie vielen Dank für das Gespräch!

Prof. Dr. med. Gerhard Gründer, Leiter der Abteilung für Molekulares Neuroimaging, Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (ZI), Mannheim

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