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Kongresse
Immunsystem auf Abwegen
Rund 900 Apotheker trafen sich beim Pharmacon in Meran
Autoimmunerkrankungen – dieses komplexe Thema war eines der Highlights in Meran. Von einer (oder mehreren) der 80 bis 100 bekannten Erkrankungen sind rund fünf bis acht Prozent der Bevölkerung betroffen. Unterschiedlich in ihrer Erscheinungsform ist Psoriasis, Morbus Crohn, Colitis ulcerosa und Co. doch eines gemein: Das empfindliche Gleichgewicht zwischen Toleranz (gegenüber körpereigenen Molekülen) und Immunreaktion (gegenüber fremden Strukturen) ist aus der Balance geraten, wie Dr. Ilse Zündorf, Frankfurt am Main, anschaulich erläuterte.
Doch wie kommt es dazu, dass B- und T-Zellen des adaptiven Immunsystems nicht mehr zuverlässig zwischen „fremd“ und „selbst“ unterscheiden? Die Ursachen sind in einem Zusammenspiel von genetischer Prädisposition, Umwelteinflüssen und mikrobiellen Faktoren zu suchen. Ein wichtiger, beeinflussbarer Faktor ist Zigarettenrauch: Ein Zusammenhang gilt bei vielen Autoimmunerkrankungen als gesichert. Unter Umständen kann der Nicotin-Verzicht sogar ebenso effektiv sein wie eine medikamentöse Therapie. Alkohol – wohlgemerkt in moderaten Mengen – scheint im Gegensatz dazu eher protektiv zu wirken. „Gute Nachrichten für das Gläschen Wein heute Abend“, meinte Zündorf.
„Donor-Superheld“ gesucht
Ein weiterer Faktor, der in letzter Zeit immer stärker in den Fokus gerückt ist, ist die veränderte Darmflora bei Patienten mit Autoimmunerkrankungen. So hat sich der fäkale Mikrobiomtransfer – besser bekannt als „Stuhltransplantation“ – bei Patienten mit chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen (CED) als vielversprechend erwiesen. Ganz überzeugt ist Prof. Dr. Thomas Weinke, Potsdam, von der unspezifischen Zufuhr Tausender von Mikroorganismen jedoch noch nicht. Er sieht das Verfahren als „Übergangslösung“ hin zu einem gezielteren Ansatz. Dazu müsse man aber erst einmal verstehen, was einen Menschen zu einem „Donor-Superhelden“ mache.
Keine Wundermittel
Zur Behandlung des Morbus Crohn und der Colitis ulcerosa steht mittlerweile eine Vielzahl an altbewährten Substanzen und modernen Biologika zur Verfügung. Mit Tumornekrosefaktor(TNF)α-Inhibitoren wie Infliximab, Adalimumab, Certolizumab und Golimumab sind bei einzelnen Patienten zwar sehr gute Erfolge zu erzielen, doch „Allheilmittel, die alle Probleme lösen“, seien sie sicherlich nicht, so Weinke: Etwa ein Drittel der Patienten spricht gar nicht erst auf die Therapie an, bei rund 20 Prozent ist nach etwa einem Jahr ein Wirkverlust zu verzeichnen. Dann bleibt nichts anderes übrig, als zu einer anderen Therapie zu wechseln. Um trotz der Limitationen dennoch einen größtmöglichen Therapieerfolg zu erzielen, ist eine gute Compliance essenziell. Hier können die Apotheker einen wichtigen Beitrag leisten, so Weinke.
Unter Immunsuppressiva sind Lebendimpfstoffe tabu
Erhalten Patienten eine immunsuppressive Therapie, sollten sie auf das erhöhte Infektionsrisiko hingewiesen werden. Treten immer wieder Infekte auf, ist gegebenenfalls ein häufigerer Arztbesuch angezeigt. Auch bei Reisen in ferne Länder ist Vorsicht geboten: Fremde Erreger, Parasiten oder Tuberkulose können dann schnell zur großen Gefahr werden. Und auch wer sich durch eine Impfung schützen möchte, sollte sich gut informieren. Lebendimpfstoffe (z.B. gegen Gelbfieber) sind zu meiden. Mit Totimpfstoffen kann zwar geimpft werden, ob jedoch unter Immunsuppressiva eine adäquate Schutzwirkung erzielt werden kann, ist für Weinke unklar.
Völlige Erscheinungsfreiheit bei Psoriasis möglich
Im Gegensatz zu CED ist eine (fast) völlige Erscheinungsfreiheit bei Psoriasis heutzutage keine reine Wunschvorstellung mehr. Mit monoklonalen Antikörpern wie Secukinumab, Ixekizumab, Brodalumab gegen Interleukin(IL)17A bzw. dessen Rezeptor und Guselkumab gegen IL23 ist dies bei einem beachtlichen Teil der behandelten Psoriasis-Patienten erreichbar, wie Prof. Dr. Claudia Pföhler, Homburg/Saar eindrücklich darstellte. Doch die teuren Therapien sind nicht für jeden geeignet, sondern bleiben ganz bestimmten Patienten mit schwerem Erkrankungsverlauf vorbehalten. Welche Behandlung gewählt wird, ist allerdings nicht nur vom klinischen Erscheinungsbild und weiteren Patientenfaktoren (Alter, Komorbiditäten, Unverträglichkeiten etc.) abhängig, auch das Bundesland spielt eine Rolle. Grund dafür sind die unterschiedlichen Vorgaben der kassenärztlichen Vereinigungen: So müssen Ärzte in Baden-Württemberg beispielsweise erst alle „alten“ Therapieoptionen ausschöpfen, bevor sie ein Biologikum verordnen dürfen, so Pföhler.
Ohne Nebenwirkungen geht es natürlich auch bei den hochwirksamen Biologika nicht: So kann es unter IL-17-Antikörpern zu teils sehr heftigen Candidosen kommen. Diese sind jedoch gut behandelbar, sofern sie rechtzeitig erkannt werden. Daher sind die Schleimhäute während und vor der Therapie regelmäßig zu kontrollieren. Insbesondere Patienten mit schlechtem Zahnstatus oder Diabetes sind gefährdet. Was bei Psoriasis-Patienten ebenfalls beachtet werden muss: Betablocker und ACE-Hemmer können eine Schuppenflechte auslösen!
Unheilbar optimistisch
Passend zum Welt-MS-Tag am 30. Mai ging es in Meran auch um die entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems, die häufig schubförmig verläuft und Menschen zwischen dem 15. und 45. Lebensjahr betrifft. Jährlich kommt es in Europa pro 100.000 Einwohner zu rund 80 Neuerkrankungen mit Multipler Sklerose (MS). Der Erkrankungsgipfel liegt um das 30. Lebensjahr, und Frauen sind 2-3 mal häufiger betroffen als Männer. Zu den Frühsymptomen zählen Sensibilitätsstörungen, Entzündungen des Sehnervs sowie chronische Erschöpfung. Prof. Dr. Sebastian Rauer von der Uniklinik Freiburg zeigt in seinem Vortrag auf, dass man neben der genetischen Prädisposition davon ausgeht, dass Viren vom Typ Varizella-Zoster oder Epstein-Barr sowie ein Vitamin-D-Mangel, Rauchen und vermehrter Kochsalzkonsum für MS verantwortlich sind. Während der akute Schub meistens mit hochdosierten Steroiden behandelt wird, soll die langfristige Immunprophylaxe den neuronalen Schaden verlangsamen oder sogar stoppen. Regenerative Ansätze sind bisher noch nicht marktreif. Zur Behandlung milder bzw. moderater MS-Verläufe zählen die folgenden Immuntherapeutika: Interferon-Beta, Glatirameracetat (Copaxone®, Clift®), Dimethylfumarat (Tecfidera®) und Teriflunomid (Aubagio®). Für die Behandlung hochaktiver MS-Formen stehen die folgenden Immuntherapeutika zur Verfügung: Fingolimod (Gilenya®), Natalizumab (Tysabri®), Alemtuzumab (Lemtrada®) und Ocrelizumab (Ocrevus®). Rauer sieht vor allem in Ocrelizumab eine wichtige und fortschrittliche Therapieoption, da mit dem monoklonalen Antikörper auch seltene, dafür schwerere, nicht schubförmige MS-Erkrankungen behandelt werden können. Die Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) startete den diesjährigen Welt-MS-Tag unter dem Motto: „Unheilbar optimistisch“.
Sind alle Interferone gleich?
Hinsichtlich der Wirksamkeit bei Multipler Sklerose unterscheiden sich die einzelnen Interferone nicht, sagt Apotheker Kai Girwert im Rahmen seines Mittagsseminars beim Pharmacon, wo er die Patientenberatung bei Multipler Sklerose vorstellt. Die umgangssprachliche „eierlegende Wollmilchsau“ gäbe es auch bei Interferonen nicht, mit einem Vorteil kaufe man sich in anderen Bereichen gleichermaßen Nachteile ein. So müssen Avonex®, Rebif® und Plegridy® im Kühlschrank gelagert werden, während Betaferon® und Extavia® auch bei Raumtemperatur stabil sind. Klingt doch gut – allerdings: Greift man bei den Kühl-Interferonen lediglich nach einem Fertigpen oder einer Fertigspritze, wollen die Raumtemperatur-Interferone Betaferon® und Extavia® zunächst noch zubereitet werden, denn nur die Separation von Lösungsmittel und Wirkstoff erlaubt die Lagerung auch bei Temperaturen außerhalb des Kühlschranks. Durch das Zubereiten der Interferonspritzen setze sich der Patient unweigerlich intensiver mit seiner neurologischen Erkrankung auseinander, gibt Girwert zu bedenken.
Hinsichtlich der Applikationshäufigkeit scheint Avonex® den Raumtemperatur-Interferonen überlegen zu sein: Avonex® wird nur einmal pro Woche verabreicht. Allerdings wird die einmal wöchentliche Gabe auch nur möglich durch eine intramuskuläre Injektion. Das heißt, die Nadel ist deutlich länger als die für eine subcutane Applikation. Auch das kann für manche Patienten wiederum zum Problem werden. Die Pegylierung von Interferon, wie sie Biogen in Plegridy® realisiert, schafft sogar ein noch patientenfreundlicheres Dosierintervall: Hier genügt es, wenn MS-Patienten den Fertigpen oder die Fertigspritze alle zwei Wochen subcutan applizieren – was tatsächlich hinsichtlich der Konfrontation mit der Erkrankung durch die Anwendung des Arzneimittels ein Fortschritt ist. |
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