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Ethnopharmakologie

Ein alternativer Weg zu neuen Wirkstoffen

Aktuelle ethnopharmakologische Forschung in Westafrika

Verschiedene Statistiken zeigen, dass ein Viertel bis ein Drittel aller in den letzten Jahrzehnten zugelassenen Medikamente auf Naturstoffen basieren bzw. von ihnen abgeleitet sind. Bei den Zytostatika und Antibiotika ist es sogar deutlich über die Hälfte. Naturstoffe weisen häufig eine enorme Wirksamkeit auf, da sie in Jahrmillionen für ihre jeweiligen Zwecke evolutiv entwickelt und optimiert wurden. Dennoch wurde ihr Potenzial für die Wirkstoffentwicklung jahrelang vernachlässigt. Die Ethnopharmakologie hilft, dieses Potenzial zu erschließen. | Von Andreas Hensel und Verena Spiegler

Die Ethnopharmakologie nutzt einen translationalen Forschungsansatz, indem sie mit validierten, standardisierten Methoden die traditionelle Medizin in definierten Kulturkreisen erforscht und vielversprechende Heilpraktiken einschließlich der dabei angewendeten Arzneipflanzen wissenschaftlich untersucht. So kann sie beurteilen, ob eine traditionelle Anwendung nach dem derzeitigen Stand der Wissenschaft gerechtfertigt ist und ob sie sogar das Potenzial für eine gezielte Arzneimittelentwicklung besitzt. Erfolgreiche Beispiele dafür gibt es in Südamerika, Afrika und Asien. Selbst in Europa gibt es solche Projekte. So erfasst eine Forschungsgruppe der Universität Wien die Medizinalflora des nördlichen Alpenraums in ihrem kulturellen Kontext.

Heiler in Ghana

Eine unglaubliche Biodiversität und ein in der Bevölkerung sehr tief verankertes Wissen zur Anwendung von Heilpflanzen finden sich in Westafrika, wo auch die Autoren dieses Beitrags forschen. Der hohe Stellenwert, den traditionelle Heiler dort genießen, beruht einerseits auf dem Erfahrungsschatz, der von Generation zu Generation weitergegeben wird. Andererseits haben die Patienten oft keine Wahl, denn moderne Fertigarzneimittel sind oft gar nicht oder nicht preiswert erhältlich. Während die nächste Apotheke oder der nächste Arzt z. B. 40 km entfernt ist, wohnt ein traditioneller Heiler meistens im Ort.

Allerdings bedroht die Landflucht die traditionellen Strukturen. Wenn ein Heiler sein Geschäft aufgibt und keine Schüler mehr ausbildet, bricht die oft jahrhundertealte Wissenskette ab. Durch die gezielte Abfrage, Dokumentation und Publikation kann das Wissen der Heiler bewahrt werden. Ein sehr wichtiges Medium hierfür ist das Journal of Ethnopharmacology.

Das Institut für Pharmazeutische Biologie und Phytochemie der Universität Münster führt seit etwa zehn Jahren in Kooperation mit der Kwame Nkrumah University in Kumasi (Ghana) ethnopharmakologische Studien durch, wobei Wissenschaftler der Universität in Kumasi zuerst traditionelle Heiler befragen und ghanaische Nachwuchswissenschaftler in Münster danach deren Angaben phytochemisch und präklinisch evaluieren.

Für die aktuelle Befragung der Heiler wurde ein Bezirk (Bosomtwi-Atwima-Kwanwoma, Ashanti-Region, Zentralghana) im Regenwaldgürtel ausgewählt, der sowohl ländliche als auch urbane Strukturen aufweist und für eine ausgeprägte traditionelle Heilkunst bekannt ist. Dabei stellte sich auch die Frage nach dem geistigen Eigentum (Intellectual Properties). In Zusammenarbeit mit der Ghana Association of Traditional Medicine (GHAFTRAM) trafen wir mit 76 Heilern eine Absprache, dass wir das von ihnen mitgeteilte Wissen wissenschaftlich auswerten, aber nicht kommerziell verwenden werden. Den meisten Heilern war es wichtig, dass ihr Wissen dokumentiert und publiziert wird und dadurch für nachfolgende Generationen erhalten bleibt. Diese Einstellung ist umso höher zu bewerten, als dieses Wissen für die Heiler die Grundlage ihrer wirtschaftlichen Existenz bildet.

An den Interviews nahmen neben einem Pharmazeuten auch ein Übersetzer für die lokale Sprache und ein Botaniker für die Identifizierung der angewendeten Pflanzen teil (Abb. 1). Erstaunt waren die Autoren sowohl über die Kenntnistiefe der traditionellen Heiler als auch über ihre berufliche Organisation GHAFTRAM, die z. B. jährliche Fortbildungstreffen veranstaltet.

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Abb. 1: Traditionelle Heiler in der Regenwaldregion von Ghana.

Da bei diesem Projekt Pflanzenmaterial aus dem Ursprungsland (Ghana) zur weiteren Untersuchung in ein anderes Land (Deutschland) gebracht wurde, war zudem das Nagoya-Protokoll zu beachten, welches seit 2010 die Rechte an genetischen Ressourcen regelt (Nagoya Protocol on Access to Genetic Resources and the Fair and Equitable Sharing of Benefits Arising from Their Utilization). Wichtig war allen Beteiligten, dass eine „Win-win-Situation“ entsteht, die weder Heiler noch Wissenschaftler benachteiligt.

Medizinalpflanzen zur Wundheilung

Im aktuellen Projekt lag der Fokus auf Medizinalpflanzen, die zur Wundheilung eingesetzt werden – in Westafrika ein ganz wichtiges Indikationsfeld. Die interviewten Heiler hatten 104 Pflanzenarten aus 89 Genera und 47 Familien genannt. Bei der Recherche in Publikationen konnten nur für 26 der genannten Arten Berichte zur Anwendung bei Hauterkrankungen gefunden werden. Diese Arten haben wir nicht weiter evaluiert. Die verbliebenen 78 Pflanzenarten wurden aufgrund der Häufigkeit ihrer Anwendung in drei Gruppen eingeteilt, wobei 18 Pflanzen über 57% der Nennungen ausmachten. Im nächsten Schritt wurde die medizinisch-chemische Literatur über die 78 Pflanzenarten ausgewertet. Einige Arten wurden nicht weiter untersucht, da ihre Inhaltsstoffe starke Nebenwirkungen erwarten ließen.

Die (wässrigen oder 50% ethanolischen) Extrakte von elf Pflanzen wurden nachfolgend an humanen Hautzellen (Keratinozyten und Fibroblasten) in vitro getestet. Bei den Keratinozyten wurde die mitochondriale Stoffwechselaktivität getestet, denn nur bei hochregulierter Aktivität können sie stärker proliferieren und zu Barrierezellen differenzieren.

In den Tests zeigten sich drei Pflanzen als signifikant wirksam: Phyllanthus muellerianus, Pycnanthus angolensis und Combretum mucronatum.

Weitere Untersuchungen an diversen Zellmodellen zeigten teilweise sehr überzeugende Effekte sowohl auf den Stoffwechsel dermaler Fibroblasten, die die Hauptmasse der Dermis bilden, als auch auf die Proliferation und Differenzierung der Keratinozyten, die die Epidermis ausbilden.

Ellagitannine in Phyllanthus muellerianus

Aus Blättern von P. muellerianus (Euphorbiaceae) wurden hydrolysierbare Gerbstoffe vom Ellagitannintyp isoliert und als Hauptkomponenten Geraniin, Corilagin und Furosin bestimmt (Abb. 2). Die Strukturaufklärung von Geraniin erwies sich als schwierig, da die Substanz in einem Isomerengleichgewicht vorliegt (1a und 1b); sie konnte erst nach ihrer Derivatisierung zu einem Phenazinimin (1c) identifiziert werden. In einem In-vitro-Zellassay erwies sich Geraniin als potenter Induktor der Keratinozytenproliferation. Zusätzlich stimuliert es die dermalen Fibroblasten, extrazelluläre Matrix zu bilden (bestimmt über die Kollagenbildungsrate).

Abb. 2: Ellagitannine in Phyllanthus muellerianus: Geraniin liegt als 1:1-Gemisch zweier Isomere (1a und 1b) vor, deren Struktur nach ihrer Derivatisierung zu einem Phenazinimin (1c) aufgeklärt wurde. Durch Hydrolyse des Geraniins bilden sich Corilagin (2) und Furosin (3).

Etwa zur gleichen Zeit publizierten andere Arbeitsgruppen weitere Effekten von Geraniin, das sie aus anderen Pflanzen isoliert hatten. Demnach wirkt Geraniin relativ stark anti­inflammatorisch, indem es TNFα und die NO-Bildung hemmt und die Phagozytoseaktivität von Makrophagen stimuliert. Außerdem wirkt Geraniin antimikrobiell. Zusammenfassend kann der Einsatz wässriger Extrakte aus P. muellerianus wie folgt beschrieben werden:

  • Stimulation der Viabilität von Keratinozyten und dermalen Fibroblasten, einhergehend mit verbesserter Geweberegeneration,
  • Induktion der terminalen Differenzierung von Keratinozyten zu funktionsfähigen Barrierezellen,
  • Induktion der Kollagenbildung, dadurch verbesserter Aufbau der dermalen extrazellulären Matrix und Remodellierung des Gewebes,
  • Reduktion von oxidativem Stress in verletztem, entzündetem Gewebe,
  • antimikrobielle und leicht antivirale Effekte von Geraniin bei Wundinfektion.

Demnach ist der Einsatz von Extrakten aus P. muellerianus zur Wundheilung sinnvoll. Während bis zum Zeitpunkt der oben geschilderten Untersuchungen praktisch kein Wissen über diese Pflanze verfügbar war, sind nun gezielte Untersuchungen in Planung, um vor Ort in Ghana die entsprechende klinische Evidenz zu generieren. Hierfür sind weitere Voraussetzungen notwendig, nämlich die Lieferung von Pflanzenmaterial in definierter Qualität, die Herstellung von klinischen Prüfmustern nach GMP und die rechtlichen Voraussetzungen (Ethikvotum, Prüfgenehmigung für klinische Studien).

Zur Qualitätssicherung des Pflanzenmaterials sollte sein Gehalt an Geraniin dienen. Für die Analytik wurde eine HPLC-Methode entwickelt, die nach den derzeit geltenden Richtlinien ICH Q2(R1) der International Conference on Harmonization validiert wurde. Darauf wurde systematisch untersucht, wann das Pflanzenmaterial optimal gesammelt werden kann und wie stabil die Ellagitannine während der Lagerung im tropischen Klima sind. Zurzeit laufen Vorarbeiten zur galenischen Entwicklung von Wundsalben mit einem P.-muellerianus-Extrakt, die wegen des Kontakts mit offenen Wunden steril sein müssen. Da das Endprodukt aufgrund der Sensitivität der Ellagitannine nicht hitzesterilisiert werden kann, muss die Herstellung aseptisch erfolgen. Wenn diese und noch weitere Probleme gelöst sind, folgt die klinische Prüfung des Produkts und im Idealfall die Zulassung als Arzneimittel, möglicherweise auch in den Industrienationen. Von der Produktion und Vermarktung würde auch die ghanaische Wirtschaft profitieren. Dabei wäre auch zu diskutieren, wie die traditionellen Heiler wirtschaftlich beteiligt werden können.

Oligomere Proanthocyanidine in Combretum mucronatum

Die Liane Combretum mucronatum (Combretaceae) ist in der Ghana Herbal Pharmacopoeia monografiert, wobei als Anwendungsgebiete u. a. Wunden und Wurmerkrankungen genannt werden. Die präklinischen Untersuchungen von Extrakten aus den Blättern zeigten keine Effekte auf dermale Fibroblasten, wohl aber auf Keratinozyten: Deren mitochondriale Stoffwechselaktivität wurde hochreguliert, aber ihre Zellproliferation ging signifikant zurück. Dieser etwas irritierende Befund konnte mit nachfolgenden Untersuchungen leicht geklärt werden: Der Extrakt triggert die terminale Differenzierung der Keratinozyten zu Barrierezellen des Stratum granulosum und des Stratum corneum der Epidermis, die nicht mehr proliferieren und u. a. unlösliche Strukturproteine im Zytosol einlagern, vor allem die Keratine K1 und K10 sowie Involucrin.

Die Hochregulierung der Synthese von Involucrin und Keratin K1 konnte in zellbiologischen Untersuchungen gezeigt werden (Abb. 3 und 4). Als hierfür verantwortliche Inhaltsstoffe des Extraktes wurden durch Bioassay-geleitete Frak­tionierung oligomere Proanthocyanidine identifiziert, die wahrscheinlich als Gerbstoffe wirken und an Oberflächenproteine der Keratinozyten binden. Somit beeinflussen C.-mucronatum-Extrakte eher die späten Stadien der Wundheilung, nicht aber die frühen Phasen, in denen die Ausbildung neuer, regenerativer Keratinozyten erwünscht ist.

Scan: Hensel
Abb. 3: Einfluss von 1 µg/ml bzw. 10 µg/ml eines wässrigen Extraktes (AE) von C. mucronatum auf die Expression des Strukturproteins Involucrin in primären humanen Keratino­zyten nach sieben Tagen Inkubation (C und D); Vergleich mit Negativkontrolle (A) und 2 mM CaCl2 (B). Aufnahmen mit konfokalem Laser-Scanning-Mikroskop. Balkenlänge 47,62 μm.
Scan: Hensel
Abb. 4: Einfluss von 1 µg/ml bzw. 10 µg/ml eines wässrigen Extraktes (AE) von C. mucronatum auf die Expression des Strukturproteins Keratin K1 in primären humanen Keratino­zyten nach sieben Tagen Inkubation (C und D); Vergleich mit Negativkontrolle (A) und 2 mM CaCl2 (B). Aufnahmen mit konfokalem Laser-Scanning-Mikroskop. Balkenlänge 47,62 μm.

Auch die Anwendung von C. mucronatum bei Wurmerkrankungen wurde experimentell geprüft. Dabei zeigten sich hochsignifikante nematozide Effekte des Extrakts gegen Helminthen des Darms, die ebenfalls auf die oligomeren Proanthocyanidine zurückgeführt werden konnten.

Stiftung „Plants for Health“

Eine der großen Herausforderungen unserer Zeit ist die Identifizierung neuer hochpotenter Wirkstoffe zur Arzneimittelentwicklung, z. B. gegen Diabetes, vernachlässigte Tropenerkrankungen, Malaria und resistent gewordene Krankheitserreger. Da die Lebewesen, vor allem die Pflanzen, im Rahmen der Evolution komplexe Strategien zur Bildung unzähliger Sekundärstoffe entwickelt haben, bieten sie ein riesiges Reservoir an potenziellen Arzneistoffkandidaten, die in den letzten Jahrzehnten wiederholt zu internationalen Arzneimittelzulassungen geführt haben.

Die internationale Gesellschaft für Arzneipflanzen- und Naturstoff-Forschung (GA) hat die Stiftung „Plants for Health“ geschaffen, um hochmotivierte Forschungsgruppen, innovative Projektideen und vielversprechende Entwicklungen zu unterstützen. Die Stiftung „Plants for Health“ garantiert höchste Ansprüche und wissenschaftliche Unabhängigkeit. Ihre Ziele sind laut Satzung wie folgt definiert: Stärkung der Forschung im Bereich der Heilpflanzen und Naturstoffe, Unterstützung talentierter Forscher, Ausbau und Entwicklung eines Forschungsnetzwerkes, Ermöglichen wissenschaftlicher Kooperationen, Bereitstellung von Stipendien für innovative Projekte, Finanzierung von „Proof-of-Concept“-Studien.

Das bisherige Stiftungsvermögen wurde überwiegend durch die GA selbst zur Verfügung gestellt, aber auch großzügige Sponsoren vermehren das Grundkapital für dieses sehr langfristige Projekt. Hier einige Beispiele, was eine Zustiftung bewirken kann:

Für 100.000 bis 150.000 Euro kann ein komplettes Forschungsprojekt durchgeführt werden; mit 25.000 Euro kann einem jungen Forscher ein einjähriges Stipendium gewährt werden; für 3000 Euro werden Kurzaufenthalte zum Er­lernen neuer wissenschaftlicher Methoden gewährt; 1000 Euro dienen als Publikationskostenzuschuss zur Verbreitung innovativer neuer Daten.

Auch Zustiftungen aus der Ärzte- und Apothekerschaft helfen diesen Projekten.

Nähere Informationen unter: www.ga-online-org/plants-for-health/index.html

Fazit

Ethnopharmakologische Studien können einen wichtigen Beitrag zur Naturstoffforschung leisten. Wo Kulturen medizinisches Wissen bewahren, weitergeben und evolutionär entwickeln, ist dessen Evaluierung auch für die moderne Arzneimittelentwicklung interessant. Entsprechende Stu­dien sollen immer den soziokulturellen Hintergrund berücksichtigen und dürfen niemals zur einseitigen kommerziellen Nutzung durch die evaluierenden Wissenschaftler oder gar Wirtschaftsunternehmen führen. Ihre Publikation verhindert eine spätere Patentierung des traditionellen evaluierten Wissens. Eine intensive und vor allem vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftlern und traditionellen Heilern soll den westafrikanischen Gesellschaften die Nutzung und ökonomische Verwertung der zu entwickelnden Präparate erleichtern. In solche lokalen Projekte müssen auch die modernen Aspekte der Arzneimittelentwicklung und -herstellung integriert werden, d. h. GMP, GCP und standardmäßige Qualitätssicherung. |

Autoren

Prof. Dr. Andreas Hensel studierte Pharmazie an der Universität Regensburg. Seit 2004 Geschäftsführender Direktor des Instituts für Pharmazeutische Biologie und Phytochemie der Universität Münster. Hauptarbeitsgebiete: Phytochemie, Glykobiologie, antiadhäsive Naturstoffe gegen Pathogene, Naturstoffe und Arzneipflanzen zur Wundheilung.


Dr. Verena Spiegler studierte Pharmazie an der Universität Münster. 2016 Promotion über die „Anthelminthische Aktivität von Procyanidinen aus westafrikanischen Pflanzen“, seither Postdoktorandin am Institut für Pharmazeutische Biologie und Phytochemie der Universität Münster. 2017 erhielt sie den Nachwuchsförderpreis der Deutschen Gesellschaft für Phytotherapie.

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