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Arzneimittel und Therapie
Statine – wann für wen?
Primärprävention kardiovaskulärer Ereignisse wird unterschiedlich bewertet
Mit zweifelloser Evidenz ist der Einsatz von Statinen in der Sekundärprävention von Herz-Kreislauf-Erkrankungen belegt. Hier wird die Lipidsenkung aufgrund des hohen Risikos für Folgeereignisse bei Patienten, die bereits ein kardiovaskuläres Ereignis erlitten haben, von allen Leitlinien und unabhängig vom Alter unterstützt. Zielwert ist in der Regel ein LDL-Cholesterol von < 70 mg/dl. Die deutsche S3-Leitlinie zur Sekundärprophylaxe nach Schlaganfall nennt in der Indikation ischämischer Schlaganfall den Zielwert < 100 mg/dl [1]. Der Trend in der klinischen Forschung geht allerdings derzeit zu immer niedrigeren LDL-Cholesterol-Zielwerten.
Risiko bestimmt Therapiebedarf
Wie aber ist es um die Primärprävention, also die Behandlung von Patienten ohne durchlebtes kardiovaskuläres Ereignis, bestellt? Generell ist die Empfehlung dann abhängig vom kardiovaskulären Risiko, das sich anhand verschiedener Rechner ermitteln lässt (z. B. PROCAM, Framingham/arriba, SCORE). Bei älteren Patienten wird allerdings oft argumentiert, dass die zu erwartende Lebenserwartung den Einsatz von Statinen nicht mehr rechtfertigt. Andererseits beträgt sie in den meisten Industrienationen für 65-Jährige noch ungefähr 20 Jahre, und das Risiko nimmt mit steigendem Alter deutlich zu.
Diskrepanz zwischen Leitlinien
Mortensen et al. beschäftigen sich daher mit der Frage, wie die Leitlinien fünf großer Fachgesellschaften aus England (NICE), Europa (ESC/EAS), Kanada (CCS) und den USA (ACC/AHA und USPSTF) die Evidenz für den Einsatz von Statinen bei „gesunden“ Patienten – also jene ohne durchlebte kardiovaskuläre Ereignisse – in der Gesamtbevölkerung [2] bzw. in Abhängigkeit vom Alter [3] einschätzen. Zunächst einmal zeigte sich, dass sich die bei vielen Praktikern bestehende Vielfältigkeit der Empfehlungen auch in den Leitlinien widerspiegelt. Dazu wurden Daten einer bevölkerungsbasierten Kohorte, nämlich der Copenhagen General Population Study, ausgewertet, die kardiovaskulär Gesunde zwischen 40 und 75 Jahren ohne Statin-Therapie bei Beobachtungsbeginn umfasste [2]. Extrapoliert auf die dänische Modell-Kohorte sähen die verschiedenen Leitlinien 44% (CCS), 42% (ACC/AHA), 40% (NICE), 31% (USPSTF) und 15% (ESC/EAS) der Patienten als behandlungsbedürftig mit einem Statin an. Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass diese unterschiedlichen Empfehlungen bei leitliniengerechter Statin-Dosierung (≥ 50%iger Reduktion des LDL-Cholesterols) nach 10 Jahren Therapie im besten Fall der kanadischen Leitlinie 34% der kardiovaskulären Ereignisse verhindert hätte, nach den europäischen Leitlinien aber nur 13%.
Europäische Leitlinie nutzt veralteten Risikorechner
Da die Nebenwirkungen und Kosten einer Statin-Therapie kaum relevant sind, sollten die europäischen Leitlinien aus dem Jahr 2016 möglicherweise nicht mehr befolgt werden, was vor allem an dem veralteten Risikorechner (SCORE) und der angesetzten Risikogrenze liegt. Der SCORE betrachtet nach wie vor das Risiko für tödliche kardiovaskuläre Ereignisse: Der Grenzwert für einen Behandlungsbeginn liegt damit bei umgerechnet rund 20% für ein beliebiges (also auch nicht-tödliches) kardiovaskuläres Ereignis. Die anderen Leitlinien empfehlen hingegen basierend auf starker Evidenz eine Therapie bereits ab einem 7,5%igen Risiko.
Risikorechner (Auswahl)
- Die arriba-Software nutzt die Framingham-Formel und wird oft von Hausärzten zur Erstellung einer individuellen Risikoprognose für Herzinfarkt oder Schlaganfall eingesetzt. „arriba“ steht für: Aufgabe gemeinsam definieren, Risiko subjektiv, Risiko objektiv, Information über Präventionsmöglichkeiten, Bewertung der Präventionsmöglichkeiten und Absprache über weiteres Vorgehen.
[Quelle: www.arriba-hausarzt.de/]
- Der PROCAM-Test beruht auf neun Risikofaktoren, die in der „Prospective Cardiovascular Münster Study“ (PROCAM-Studie) identifiziert wurden, und berechnet das Risiko für einen Herzinfarkt oder Schlaganfall in den nächsten zehn Jahren.
[Quelle: www.assmann-stiftung.de/procam-studie/procam-tests/]
- Die europäische Gesellschaft für Kardiologie empfiehlt das Internet-basierte Programm HeartScore für die Abschätzung des kardiovaskulären Risikos in der klinischen Praxis, das auf den „Systematic COronary Risk Evaluation (SCORE)“-Risikotabellen basiert und das 10-Jahresrisiko für kardiovaskulär bedingten Tod berechnet.
[Quelle: www.heartscore.org/de_DE/access]
Empfehlungen für Ältere besonders wichtig
Für die ältere Bevölkerung wird eine getrennte Analyse vorgenommen. Hier sind Empfehlungen aufgrund des hohen kardiovaskulären Risikos eigentlich auch besonders relevant. Obwohl inzwischen einige Daten für ältere Patienten vorliegen [4], bilden die Leitlinien diese aber erneut sehr unterschiedlich ab. Die Diskrepanz zwischen der europäischen und den anderen Leitlinien ist wiederum besonders hoch. Während der SCORE-Risikorechner der europäischen Leitlinie nur Daten bis 65 Jahre enthält und so auch nur Empfehlungen für Jüngere geben kann, berücksichtigt die NICE-Leitlinie Daten bis 75 Jahre und extrapoliert bis 84 Jahre. Da das Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse in diesem Alter automatisch die Empfehlungsgrenze überschreitet und es unwahrscheinlich ist, dass Statine ab einer gewissen Altersgrenze plötzlich ihre Wirkung verlieren, rät die NICE-Leitlinie bei allen Patienten über 85 Jahren zu Atorvastatin 20 mg/Tag. Zwar liegen auch den US-amerikanischen und den kanadischen Risikorechnern nur Daten bis 75 Jahre zugrunde, aber Mortensen et al. fragen zu Recht, wieso man denn bei steigendem Risiko für arteriosklerotische Gefäßerkrankungen aus mathematischen Gründen eine Therapie absetzen sollte, die bei niedrigerem Risiko wirksam ist. Folgerichtig würde im höheren Alter die Anzahl der Patienten, die behandelt werden muss, um ein Ereignis zu verhindern (number needed to treat, NNT), sinken.
Fraglicher Nutzen bei Älteren?
Zu gänzlich anderen Ergebnissen kommt Huesch in einer allerdings retrospektiven Analyse zum Nutzen von Statinen in der Primärprävention bei Älteren basierend auf den Daten der „Systolic Blood Pressure Intervention Trial (SPRINT)“-Studie [5]. In seiner statistischen Auswertung wurden nur kardiovaskulär gesunde Studienteilnehmer > 70 Jahre eingeschlossen. Bei den entsprechenden 3054 Patienten verglich Huesch unter Berücksichtigung verschiedener Ausgangsparameter die kardiovaskuläre Ereignisrate bei Patienten mit bzw. ohne Statin-Therapie und fand keinen signifikanten Unterschied. Patienten mit Statin-Therapie hatten allerdings ein niedrigeres per Framingham-Score berechnetes Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse, höhere Glucose-Spiegel und einen höheren Body-Mass-Index.
Diskussionen um Primärprävention gehen weiter
Während die Studien von Mortensen et al. Orientierung bei den Leitlinienaussagen geben, dürften die Ergebnisse von Huesch ohne nennenswerte Auswirkungen auf die Praxis bleiben, unterstützen allerdings das Lager der Statin-Gegner in der Primärprävention. Bis zur Auswertung der noch einige Jahre laufenden kontrollierten Studien mit Statinen bei sehr alten Patienten dürfte die Kontroverse um den Beginn einer Statin-Therapie in der kardiovaskulär gesunden Bevölkerung daher weiter anhalten. |
Quelle
[1] Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF). S3-Leitlinie Teil 1 (Langversion) Schlaganfall: Sekundärprophylaxe ischämischer Schlaganfall und transitorische ischämische Attacke. 2015. www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/030-133.html, Abruf am 28. Dezember 2017
[2] Mortensen MB, Nordestgaard BG. Comparison of Five Major Guidelines for Statin Use in Primary Prevention in a Contemporary General Population. Ann Intern Med 2018;168:85–92
[3] Mortensen MB, Falk E. Primary Prevention With Statins in the Elderly. J Am Coll Cardiol 2018;71:85–94
[4] Gurwitz JH et al. Statins for Primary Prevention in Older Adults: Uncertainty and the Need for More Evidence. JAMA 2016;316:1971–2
[5] Huesch MD. Association of Baseline Statin Use Among Older Adults Without Clinical Cardiovascular Disease in the SPRINT Trial. JAMA Intern Med 2018;doi:10.1001/jamainternmed.2017.7844
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