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Arzneimittel und Therapie
Nachruf auf Protelos
Warum musste das Osteoporose-Mittel so früh von uns gehen?
Die Reaktionen auf die Geburt von Protelos® am 21. September 2004 waren gespalten. Auf der einen Seite freuten sich Therapeuten über die Zulassung einer neuen Behandlungsoption, so auch Prof. Dr. med. Andreas Kurth, Orthopäde an der Asklepios Klinik Birkenwerder und Vorsitzender des Dachverbands Osteologie e. V.: „Es gab ein umfangreiches Studienprogramm und schon früh sehr gute Daten für ältere Patienten, die den Großteil der an Osteoporose Erkrankten ausmachen. Wir waren froh, eine weitere Alternative zur Verfügung zu haben, wenn Antiresorptiva nicht infrage kommen.“ Für andere war es dagegen keineswegs ein freudiges Ereignis: „Angesichts der potenziell lebensbedrohlichen Risiken erachten wir die Nutzen-Schaden-Bilanz von Strontiumranelat als negativ. Uns ist nicht nachvollziehbar, warum das Mittel bei dieser Datenlage überhaupt zugelassen werden konnte“, kommentierte das Arznei-Telegramm damals gewohnt kritisch.
Anders als die anderen
Mittel der Wahl zur Behandlung der Osteoporose sind antiresorptiv wirkende Substanzen, die einer stark erhöhten Knochenabbaurate entgegenwirken, allen voran Bisphosphonate (z. B. Alendronsäure, Risedronsäure). Strontiumranelat hat einen völlig anderen Wirkmechanismus: In vitro konnte gezeigt werden, dass diese Verbindung sowohl den Knochenaufbau in Knochengewebskulturen, die Replikation der Präosteoblasten und die Kollagen-Synthese in Knochenzellkulturen steigert, als auch die Knochenresorption durch Verminderung der Osteoklasten-Differenzierung und deren Resorptionsaktivität hemmt. Dies führt zu einer Neueinstellung des Gleichgewichts des Knochenumsatzes zugunsten des Knochenaufbaus.
Die Idee, das Erdalkalimetall in der Osteoporose-Therapie einzusetzen, war nicht neu: Bereits in den 1950er-Jahren wurden die Betastrahler Strontium-89 und Strontium-90 zur Behandlung von Knochenmetastasen eingesetzt. Die Reinkarnation Strontiumranelat besteht aus zwei Atomen stabilen Strontiums und einem organischen Rest Ranelinsäure, die im Magen-Darm-Trakt dissoziieren.
Klinisch überzeugte Strontiumranelat in den zwei placebokontrollierten Studien SOTI und TROPOS, indem es das relative Risiko einer neuerlichen vertebralen Fraktur bei Frauen im Alter über 80 Jahre um 32% über einen Zeitraum von drei Jahren reduzieren konnte (gepoolte Analyse). Die Erstzulassung von Strontiumranelat erstreckte sich auf die „Behandlung der postmenopausalen Osteoporose zur Reduktion des Risikos von Wirbelsäulen- und Hüftfrakturen“. Ab Juni 2012 durfte es auch offiziell bei Männern mit erhöhtem Frakturrisiko eingesetzt werden.
Ein angeborener Fehler
Diese Zulassungserweiterung markiert einen der wenigen Glücksmomente im Leben von Protelos®, das sonst eher durch Negativschlagzeilen auf sich aufmerksam machte. Zum Markteintritt wurde Strontiumranelat noch als „gut verträglich“ gelobt: Übelkeit, Diarrhö und Kopfschmerzen waren die häufigsten Nebenwirkungen. Allerdings wurden unter der Therapie von Anfang an auch vermehrt venöse Thromboembolien (VTE) beobachtet, weshalb das Arzneimittel bei Patientinnen mit einem erhöhten Thromboserisiko nur mit Vorsicht angewandt werden sollte. Erklären konnte man sich diese unerwünschte Wirkung nicht – weder pathophysiologisch noch in der einseitigen Betrachtung einer speziellen Patientengruppe. Das Arznei-Telegramm fand das „beunruhigend“ und ließ an Strontiumranelat zeitlebens kein gutes Haar. Immerhin war die Firma Servier um Aufklärung bemüht, veranlasste weitergehende pharmakologische und toxikologische Untersuchungen, aber bis heute konnte kein kausaler Zusammenhang zwischen Strontiumranelat und den aufgetretenen venösen Thromboembolien hergestellt werden.
Fachinfo mehrmals überarbeitet
Noch stärker in die Kritik geriet Strontiumranelat 2007, als die europäische Arzneimittelbehörde vor schwerwiegenden Überempfindlichkeitsreaktionen warnte. Zu diesem Zeitpunkt lagen 16 Berichte über das lebensbedrohliche Hypersensitivitätssyndrom DRESS (Drug Rash with Eosinophilia and Systemic Symptoms) vor, von denen zwei tödlich verliefen. Die Symptome begannen drei bis sechs Wochen nach Behandlungsbeginn mit Hautausschlag, Fieber, Lymphknotenschwellungen, hämatologischen Veränderungen wie Anstieg der Leukozytenzahl. Die Fach- und Gebrauchsinformation von Strontiumranelat wurden mit entsprechenden Warnhinweisen versehen. Die Ärzteschaft wurde zusätzlich in Anschreiben darauf hingewiesen, dass Strontiumranelat bei Auftreten eines Hautausschlags unverzüglich und dauerhaft abgesetzt werden muss.
Das Vertrauen in Protelos® hatte deutliche Risse bekommen, was die Behörden zu einer umfangreichen Risikobewertung bewegte. (Vorläufiges) Urteil der EMA im Jahr 2012: Das Nutzen-Risiko-Verhältnis wurde in der zugelassenen Indikation (Behandlung der Osteoporose bei postmenopausalen Frauen) weiterhin positiv bewertet. Allerdings seien zusätzliche Anwendungsbeschränkungen und Warnhinweise nötig zu venösen Thromboembolien und schweren Hautreaktionen wie Stevens-Johnson-Syndrom (SJS) und toxische epidermale Nekrolyse (TEN) sowie dem DRESS-Syndrom.
Im April 2013 informierte ein Rote-Hand-Brief darüber, dass Protelos® nicht mehr bei „Patienten mit akuten venösen Thromboembolien (VTE) oder VTE in der Vorgeschichte, einschließlich tiefer Venenthrombose und Lungenembolie“ eingesetzt werden darf. Kontraindiziert war sein Einsatz ab sofort auch „bei vorübergehender oder dauerhafter Immobilisierung aufgrund von z. B. postoperativer oder sonstiger längerer Bettruhe“.
Der Hersteller glaubte weiterhin fest an sein Produkt und bemühte sich um eine Indikationserweiterung abseits der Osteoporose: die frühe Arthrose. Anders als geplant kamen dabei jedoch kardiovaskuläre Nebenwirkungen von Strontiumranelat ans Licht, die im Mai 2013 zu einer weiteren Einschränkung des Anwendungsgebiets führten: Protelos® durfte nur noch bei Patienten mit „schwerer“ Osteoporose und „hohem Frakturrisiko“ (postmenopausale Frauen) oder „erhöhtem Frakturrisiko“ (Männer) eingesetzt werden. Wegen Verdachts auf ein erhöhtes Herzinfarktrisiko wurden die Kontraindikationen auf eine „klinisch gesicherte, aktuell bestehende oder vorausgegangene ischämische Herzkrankheit, periphere arterielle Verschlusskrankheit und/oder cerebrovaskuläre Erkrankung“ ausgedehnt. Auch Patienten mit unkontrollierter Hypertonie sollten Protelos® künftig nicht mehr einnehmen.
Der Tod kam schleichend
Für den Pharmakovigilanzausschuss der EMA (PRAC) leuchteten mittlerweile zu viele rote Lampen: Er empfahl im Januar 2014 das Ruhen der Zulassung. Über das Schicksal von Strontiumranelat entschied einen Monat später der Ausschuss für Humanarzneimittel (CHMP): Man berücksichtigte zwar die Risikoeinschätzung des PRAC, sah jedoch für Patienten ohne Therapiealternative und ohne vorliegende Kontraindikation unverändert ein positives Nutzen-Risiko-Profil. Zu diesem Zeitpunkt konnte man auf über 192.000 Patientenjahre Erfahrung mit Strontiumranelat zurückblicken.
Die vielen Negativschlagzeilen hatten den Ruf aber mittlerweile ruiniert. Die Verordnungszahlen von Protelos®zeigen seit Jahren eine rückläufige Tendenz. Von 2015 auf 2016 gab es einen Einbruch von -26,2%. Darüber hinaus wurde Protelos® in vielen Ländern nicht mehr von den Krankenkassen erstattet. In den USA kam es niemals zur Zulassung. Im April 2017 teilte Servier mit, die Produktion und den Vertrieb von Protelos® ab 31. August 2017 weltweit einzustellen. „Der Produktionsstopp erfolgt aus rein wirtschaftlichen Gründen, es liegen keine sicherheitsrelevanten Ursachen vor“, beteuert der Hersteller. Ein Nachfolgepräparat oder ein Präparat mit vergleichbarem Wirkmechanismus ist derzeit nicht erhältlich. „Endlich“ titelte das Arznei-Telegramm.
Servier bedauert den Marktrückzug. Man bekomme viele Anfragen von langjährigen Patientinnen, die enttäuscht sind. Vorhandene Bestände von Protelos® können auch über August 2017 hinaus abverkauft werden. Noch immer treten in Apotheken vereinzelt Rezepte auf. Aber es wird Zeit, Abschied zu nehmen. Die Patientinnen sollten sich nun mit ihrem Arzt für ein Alternativpräparat entscheiden, um die Behandlung ihrer Osteoporose fortsetzen zu können, mahnt Servier. Doch was sind die Alternativen für ein Arzneimittel, das der Plan B für alle anderen Therapien ist? „Da gibt es leider keine pauschale Empfehlung, das muss für jeden Fall individuell entschieden werden“, erklärt Professor Kurth und macht in seinem Kommentar auf Seite 38 deutlich, dass er wie viele seiner Kollegen Strontiumranelat vermissen wird. „Es ist eine schwierige Situation, das muss man klar sagen.“ |
Quelle
Schwabe U, Paffrath D, Ludwig W-D, Klauber J (Hrsg.). Arzneiverordnungs-Report 2017. Springer Verlag
Meldungen der Arzneimittelkommission der Deutschen Apotheker (AMK) vom 29. November 2007, 29. März 2012, 16. Mai 2013, 16. Januar 2014 und 27. Februar 2014
Wichtige neue Einschränkungen für die Anwendung von Protelos® (Strontiumranelat)nachdem neue Daten ein erhöhtes Risiko für Myokardinfarkt gezeigt haben. Rote-Hand-Brief vom 13. Mai 2013
Neue eingeschränkte Indikation und Empfehlungen zu Kontrollen bei der Einnahme von Protelos® (Strontiumranelat). Rote-Hand-Brief vom 10. März 2014
Fachinformation Protelos®, Stand: September 2016
Strontiumranelat (Protelos) bei Osteoporose? a-t 2004;35:137-138
Endlich – Servier stellt Vertrieb von Strontiumranelat (Protelos) ein. a-t 2017;48:40
Prophylaxe, Diagnostik und Therapie der Osteoporose bei Männern ab dem 60. Lebensjahr und bei postmenopausalen Frauen. Leitlinie des Dachverbands der Deutschsprachigen Wissenschaftlichen Osteologischen Gesellschaften e. V., DVO-Leitlinie 2014 (derzeit in Überarbeitung)
EMA: Zusammenfassung der Merkmale des Arzneimittels Strontiumranelat
Protelos®: Einstellung der Produktion ab August 2017. Pressemitteilung der Servier Deutschland GmbH vom 20. April 2017, www.servier.de
Weiterführende Informationen bereitgestellt durch die Firma Servier
Spezialisten werden Protelos vermissen
Ein Gastkommentar von Prof. Dr. med. Andreas Kurth
Protelos® war von Anfang an ein Nischenprodukt. Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) listet es als Reservemedikament – ohne Begründung. In Deutschland wurde es daher von vornherein relativ selten eingesetzt. Als dann die Nebenwirkungsdiskussion aufkam, wurden die Kollegen noch vorsichtiger. Spätestens seit dem letzten Rote-Hand-Brief, der auf die kardiovaskulären Nebenwirkungen hinwies, spielt es kaum noch eine Rolle in der Praxis – leider. Die Risiken unter Strontiumranelat muss man relativieren, wenn man sie mit anderen Arzneimitteln vergleicht, die in der Therapie der Osteoporose etabliert sind: Das Risiko für kardiovaskuläre Nebenwirkungen ist unter nichtsteroidalen Antirheumatika beispielsweise deutlich höher. Für Diclofenac und Co. wurden derartige Daten gar nicht erst erhoben, und so kommt auch keiner auf die Idee, sie vom Markt zu nehmen. Das thromboembolische Potenzial von Strontiumranelat ist insgesamt als sehr gering zu bewerten. Die selektiven Estrogen-Rezeptor-Modulatoren (SERM) halten im Vergleich dazu ein sehr viel größeres thrombotisches Risiko bereit. Protelos® wurde letztlich aufgrund der fehlenden Akzeptanz der Verordner vom Markt genommen. Von daher glaube ich nicht, dass es eine messbare Lücke hinterlassen wird. Die Firma Servier hat frühzeitig über den Produktionsstopp informiert. Mich wundert es, dass noch immer Rezepte im Umlauf sind. Für Spezialisten ist Strontiumranelat schon länger keine Option mehr. Im Zuge der Überarbeitung der DVO-Leitlinie haben wir bereits alle Passagen zu Strontiumranelat herausgestrichen. Es gibt natürlich immer noch Patienten, die sehr gut damit zurechtkommen und auch in Zukunft damit zurechtkämen. Ich persönlich habe Strontiumranelat als eine sichere, einfach zu händelnde Substanz mit breitem Wirkspektrum geschätzt. Ärzte, die in der Behandlung von Osteoporose erfahren sind, wollten die Substanz nicht verlieren. Man war froh, eine Alternative zu haben, wenn Bisphosphonate wegen Unverträglichkeit oder Kontraindikationen nicht eingesetzt werden konnten. Besonders große Probleme bereiten beispielsweise Kieferosteonekrosen, eine seltene aber durchaus vorkommende Nebenwirkung von Bisphosphonaten, die einen Therapieabbruch erzwingen und auch die Anwendung von Denosumab ausschließen. Hier wird uns nun definitiv ein Reservemedikament fehlen.
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