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Arzneimittel und Therapie
Atropin tropfen statt Brille kaufen?
Wie das Belladonna-Alkaloid bei Kurzsichtigkeit helfen kann
Jeder dritte Deutsche leidet unter Kurzsichtigkeit. Im Jahr 2020 werden schätzungsweise 2,5 Milliarden Menschen auf der Welt kurzsichtig sein. Die häufigste Ursache: Der Augapfel wächst in die Länge, sodass das Bild nicht auf, sondern vor der Netzhaut liegt und damit beim Blick in die Ferne unscharf wird. Die Fehlsichtigkeit macht sich meist im Kindesalter bemerkbar und bleibt ein Leben lang bestehen. Es wurde gezeigt, dass Myopie mit dem Bildungsstand und Freizeitverhalten korreliert: Wer viel in Büchern liest oder am Computer sitzt, hat ein höheres Risiko für „schlechte Augen“. Dies würde auch erklären, warum Kurzsichtigkeit mittlerweile endemisch in Industrienationen auftritt. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) zählt Myopie inzwischen zu den fünf Augenerkrankungen, deren Eindämmung höchste Priorität hat.
Therapieren statt korrigieren
Kurzsichtigkeit muss in der Regel lebenslang durch eine Brille oder Kontaktlinsen korrigiert werden. Das Voranschreiten der Sehschwäche wird somit allerdings nicht gebremst, ebenso wenig das übermäßige Wachstum des Augapfels, das in Netzhautablösungen, myopischen Netzhautdegenerationen und Glaukom gipfeln kann. Besser wäre es, die Myopie nicht nur auszugleichen, sondern zu stoppen. Bereits 1874 machte der Augenarzt Hermann Cohn den Vorschlag, zu diesem Zweck Atropin-Augentropfen einzusetzen.
Atropin ist eine Mischung aus den Isomeren (R)- und (S)-Hyoscyamin und kommt natürlich in Vertretern von Nachtschattengewächsen vor. Es wirkt als kompetitiver Antagonist an muscarinischen m-Cholinozeptoren. Am Auge greift Atropin am Musculus sphincter pupillae und am Musculus ciliaris an und bewirkt Mydriasis sowie Zykloplegie. Diese Effekte nutzt man in der Diagnostik, unter anderem zur Ausschaltung der Akkommodation bei der Refraktionsbestimmung, zur Penalisation, wenn beiden Augen künstlich getrennte Sehbereiche zugewiesen werden und eine Okklusionsbehandlung nicht möglich ist, zur Lösung von Akkommodationsspasmen bei Weitsichtigkeit und zur Ruhigstellung von Iris und Ziliarkörper.
Atropin-Augentropfen gehören standardmäßig in jeden Sprechstundenbedarf einer Augenarztpraxis. Das einzige zu diesem Zweck auf dem deutschen Markt verfügbare Präparat ist Atropin-POS® mit 5,0 mg Atropinsulfat auf 1 ml Lösung (0,5%).
Weniger ist mehr
Die Idee von Cohn, Atropin-Augentropfen zur Therapie der Kurzsichtigkeit einzusetzen, führte zwar in den vergangenen 140 Jahren nicht zu einer Zulassung in dieser Indikation – vergessen wurde sie aber nicht. Seit einiger Zeit ist sie wieder verstärkt in den Fokus des Interesses gerückt. Forschungsergebnisse stammen vor allem aus Asien, da hier die Kurzsichtigkeit unter Kindern noch stärker verbreitet ist als in Europa. Tenor der verfügbaren klinischen Studien: Die Anwendung von Atropin-Augentropfen über mehrere Monate kann nicht nur den Anstieg einer starken Myopie verhindern, sondern auch das Längenwachstum des Auges bremsen. Wie genau das funktioniert, ist bisher nicht bekannt. Lange Zeit wurde angenommen, dass eine exzessive Akkommodation die Entwicklung einer Kurzsichtigkeit begünstigt und Atropin als Parasympatholytikum diesem Mechanismus entgegenwirkt. Tierversuche machten diese Theorie allerdings zunichte. Mittlerweile geht man davon aus, dass die Wirkung an der Netzhaut auftritt.
Die Anwendung von Atropin ist wegen der Nebenwirkungen nicht ganz einfach. Die ersten Studien wurden mit Konzentrationen von 0,1% durchgeführt. Die Myopie konnte durch diese Therapie zwar zunächst gestoppt werden, doch der Erfolg währte nicht lange: Mit dem Absetzen der Tropfen blieb nicht nur die Wirkung aus, die Myopie schritt im Gegenteil sogar häufig schneller voran (Rebound-Effekt). Zudem benötigten die untersuchten Kinder wegen der Lähmung der Naheinstellung eine Lesebrille und waren sehr blendungsempfindlich.
Eine Forschergruppe aus Singapur (Chia et al.) ging der Frage nach, ob nicht auch eine geringere Dosierung ausreichen würde. 400 kurzsichtige Kinder erhielten über zwei Jahre täglich entweder 0,5%ige, 0,1%ige oder 0,01%ige Atropin-Tropfen und wurden nach Therapieende noch für ein weiteres Jahr nachbeobachtet. Überraschenderweise wurde die beste Wirkung mit der niedrigsten Dosierung erzielt: Die Kurzsichtigkeit nahm innerhalb des Beobachtungszeitraums um -0,72 Dioptrien zu, während sich die Sehkraft unter 0,1% um -1,04 Dioptrien und unter 0,5% um -1,15 Dioptrien schneller verschlechterte. Auch die Länge des Augapfels nahm in der Gruppe mit der geringsten Atropin-Konzentration am wenigsten zu. Die Wirkung der 0,01%igen Tropfen war zudem über einen Zeitraum von fünf Jahren am nachhaltigsten. Niederländische Forscher (Polling et al.) bewiesen, dass die Therapie auch bei Europäern anschlägt und der Erfolg abhängig vom Alter des Kindes ist. 77 Kinder, davon 53 kaukasischer Abstammung, wurden ein Jahr lang mit 0,5%igen Atropin-Augentropfen behandelt. Bei unter Neunjährigen stieg die Kurzsichtigkeit um -0,49 Dioptrien pro Jahr, bei Neun- bis Zwölfjährigen nur um -0,06 Dioptrien, und bei über Zwölfjährigen blieb sie mit +0,02 Dioptrien stabil.
Was kann empfohlen werden?
Dass sich die geringste Dosierung als zugleich wirksamste erwiesen hat, ist ein Glück. Zum einen treten unter einer Konzentration von 0,01% Atropin Nebenwirkungen wie Blendungserscheinungen oder allergische Konjunktivitis seltener und schwächer auf. Zum anderen ist das Risiko für einen Rebound-Effekt deutlich niedriger. Einige Probleme scheinen demnach gelöst zu sein.
In Taiwan und Singapur ist die Therapie der Myopie mit Atropin-Augentropfen bereits etabliert, die westliche Welt reagiert noch zögerlich. In Deutschland wagen bisher nur wenige Ärzte den Off-Label-Einsatz, solange man noch zu wenig über die Langzeiteffekte weiß. Pionierarbeit leisten hierzulande unter anderem die Universität Tübingen unter Federführung von Prof. Dr. Frank Schaeffel, Leiter der Sektion für Neurobiologie des Auges am Forschungsinstitut für Augenheilkunde, Prof. Dr. Focke Ziemssen (Universitätsaugenklinik Tübingen), Prof. Dr. Wolfgang Lagreze (Augenklinik Freiburg) und Dr. Hakan Kaymak (Düsseldorf). „Angesichts des großen Interesses an Atropin würde ich mit einer allgemeingültigen Empfehlung in Zukunft rechnen, aber eventuell noch nicht in der ganz nahen Zukunft“, so Schaeffel. Angewendet wird die Methode bisher nur bei Kindern im Schulalter (sechs bis 15 Jahre), die besonders stark unter Myopie leiden. Mit älteren Personen wurden bisher keine systematischen Studien durchgeführt. Bevor es losgeht, wird eine Augenlängenmessung empfohlen. Das beste Nutzen-Risiko-Profil bescheinigt Schaeffel derzeit Atropin in der Konzentration 0,01%. „Das Problem ist, dass eine 0,01%ige Lösung nicht als Fertigware erhältlich ist, sondern jeweils von Apotheken hergestellt werden muss. Aufgrund leicht unterschiedlicher Rezepturen ergeben sich unterschiedliche Wirksamkeiten, die noch im Detail untersucht werden müssen.“ In Zusammenarbeit mit der Universitätsapotheke Tübingen wurden neben einer Rezeptur (siehe Kasten) auch Anwendungstipps erarbeitet. Die Gabe der Tropfen sollte jeweils einmal abends in den unteren Bindehautsack erfolgen. Auf diese Weise ist die Akkommodation vor allem nachts etwas eingeschränkt, und es entstehen tagsüber kaum Nebenwirkungen. Gegenwärtig wird diskutiert, ob auch eine Anwendung alle drei Tage ausreichen würde.
Rezeptur für 0,01%ige Atropin-Augentropfen
Atropin-POS® 0,5% Augentropfen 0,1 ml
Edetat-haltige Benzalkoniumchlorid-Lösung 0,1% (pH 4,6) NRF S.18 0,245 g
NaCl 0,9% Lösung ad 5 ml
[Quelle: Schaeffel F, Ziemssen F. Universitätsaugenklinik und Universitätsapotheke Tübingen]
Zur Eingangsfrage
Ganz ohne Brille geht es aber auch mit Atropin-Augentropfen nicht. „Atropin kann eine bestehende Myopie nicht revertieren, sondern nur ihr Fortschreiten verhindern, das heißt, die Kurzsichtigkeit entwickelt sich langsamer, erreicht geringere Endwerte und beinhaltet deshalb ein geringeres Risiko für chorio-retinale Degenerationen, Netzhautablösung und andere Komplikationen.“
Die Behandlung ist keine Kassenleistung. Wer nicht auf eine offizielle Empfehlung warten möchte, kann jedoch sofort selbst etwas für seine Augengesundheit tun – völlig kostenfrei: Naharbeit am Schreibtisch sollte man häufig unterbrechen, dafür, so oft es geht, Zeit im Freien verbringen (mindestens zwei Stunden am Tag), regelmäßig den Blick in die Ferne schweifen lassen und immer bei genügend Licht und ausreichendem Abstand lesen. Im Gegensatz zu Atropin wurde für den Faktor Tageslicht nämlich bereits bewiesen, dass er auch als präventive Maßnahme sinnvoll ist, um eine spätere Myopie zu verhindern. |
Quelle
Chia A et al. Atropine for the treatment of childhood myopie: changes after stopping atropine 0,01%, 0,1% and 0,5%. Am J Ophthalmol 2014;157(2):451-457
Fachinformation Atropin-POS® 0,5%; Stand: März 2014
Galvis V et al. Topical Atropine in the Control of Myopia. Med Hypothesis Discov Innov Ophthalmol 2016;5(3):78-88
Lagrèze WA, Schaeffel F. Preventing myopia. Dtsch Arztebl Int 2017;114:575–580
Polling JR et al. Effectiveness study of atropine for progressive myopia in Europeans. Eye 2016;30(7):998-1004
Schaeffel F, Ziemssen F. Patienteninformation Kurzsichtigkeit (Myopie). Universität Tübingen
Truckenbrod C. Atropin als Mittel zur Myopiekontrolle. www.myopiacare.com/atropin-zur-myopiekontrolle
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