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Schwerpunkt: Vegane Ernährung
Vegan oder gesund? – Falsche Frage!
Ein Gastkommentar von Martin Smollich
„Vegan kann nicht gesund sein!“ – diese häufig anzutreffende Beurteilung der veganen Ernährungsweise mutet aus ernährungsmedizinischer Perspektive einigermaßen bizarr an. Denn: Eine derartig unreflektiert kritische Einschätzung beruht auf der irrigen Annahme, es gäbe eine grundsätzliche Dichotomie von Mischkost (= alles vorhanden = kein Mangel = gesund) und veganer Kost (= begrenzte Lebensmittelauswahl = Mangel = ungesund). Das ist falsch. Fakt ist vielmehr: Eine vegane Ernährung kann ebenso gesund oder ungesund sein wie eine nicht-vegane Mischkost.
Hilfreicher Blick auf die Realität
Angesichts der ernährungsmedizinischen Realitäten in unserem Land sind die öffentlich vorgebrachten Warnungen vor den Gesundheitsrisiken einer veganen Ernährungsweise ziemlich absurd. Selbstverständlich gibt es die tragischen – weil vermeidbaren – Fälle von Kindern, die durch eine fehlerhafte vegane Ernährung irreversible neurologische Schäden erleiden. Jeder dieser Fälle ist ein Fall zu viel, doch die Inzidenzen lassen sich an einer Hand abzählen.
Das sieht an anderer Stelle ganz anders aus: Während die durch einen Vitamin-B12-Mangel bedingten neurologischen Schäden Raritäten sind, erreichen 94% (!) aller Sechs- bis Zwölfjährigen in Deutschland die empfohlene Zufuhrmenge an Gemüse nicht [DGE 2008]. Bei den Erwachsenen stehen den Einzelfällen vegan bedingter Mangelernährung ebenfalls Millionen Menschen mit gravierenden ernährungs(mit)bedingten Erkrankungen gegenüber, die eben nicht durch vegane Ernährung verursacht werden, sondern die das Ergebnis der vermeintlich per se „gesunden“, fleischbetonten und hyperkalorischen Mischkost sind:
- 67% aller Männer und 53% aller Frauen in Deutschland sind übergewichtig oder adipös [Mensink et al. 2013]
- 15% aller Kinder und Jugendlichen in Deutschland sind übergewichtig oder adipös [Kurth und Schaffrath-Rosario 2007]
- ca. 30% aller Deutschen haben eine Fettleber [Weiß et al. 2014]
- ca. 7% aller Deutschen haben einen Diabetes mellitus Typ 2 [Heidemann et al. 2016]
- ca. 30% aller Krebserkrankungen sind ernährungsbedingt [WCRF/AICR 2007].
Diese epidemischen Ausmaße ernährungs(mit)bedingter Erkrankungen gehen mit multiplen Folgeerkrankungen, Millionen Toten, erheblichen krankheitsbedingten DALY-Verlusten (disability adjusted life years) und volkswirtschaftlichen Nettokosten im dreistelligen Milliardenbereich einher – vom menschlichen Leid ganz zu schweigen.
Die potenziellen Gesundheitsgefahren für vegan ernährte Kinder, deren Eltern nicht sorgfältig auf die Lebensmittelauswahl achten, sind unstrittig. Doch die Zahl jener Kinder, die durch hyperkalorische und andere Fehlernährungen bereits im Grundschulalter schwere Gesundheitsschäden aufweisen, dürfte millionenfach höher sein.
Interessengeleitete öffentliche Wahrnehmung
Diese Zahlen bedeuten nicht umgekehrt, dass jeder Veganer automatisch gesünder lebt als jeder Nicht-Veganer. Doch wer sich angesichts dieser dramatischen Entwicklungen auf die potenziellen Gesundheitsgefahren einer veganen Ernährung fokussiert, verkennt die Relationen ernährungsbedingter Gesundheitsgefahren. Eine besonders unrühmliche Rolle nimmt hier beispielsweise der Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft ein, der bei jeder Gelegenheit vor den Gefahren der veganen Ernährung warnt, dabei aber gerne mit einem Bier in der Hand posiert (jährlich: 74.000 alkoholbezogene Todesfälle in Deutschland) und der die Umsetzung der eindeutigen WHO-Empfehlungen zur erfolgreichen Bekämpfung der relevanten ernährungsbedingten Erkrankungen (Stichwort Zuckersteuer) ablehnt. Dass bei solchen Argumentationen nicht gesundheitspolitische Erfordernisse, sondern Industrie- und Lobbyinteressen im Vordergrund stehen, ist offenkundig. Wer Veganern „Essens-Ideologie“ vorwirft, gleichzeitig aber aller Evidenz zum Trotz wirksame Maßnahmen zur ernährungsmedizinisch sinnvollen Prävention verhindert, betreibt genau das: Ideologie.
Die reale Versorgungssituation
Da die meisten Daten zur Nährstoffversorgung von Veganern aus einer Zeit stammen, als das vegane Lebensmittelsortiment inklusive fortifizierter Produkte nicht annähernd so gut war wie heute, gibt es zur aktuellen Ernährungssituation keine aussagekräftigen Studien. Das konstatiert auch die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) in ihrer Stellungnahme [Richter et al. 2016]: „Zur umfassenden Beurteilung der Versorgungssituation [... fehlen aktuelle aussagekräftige Studien mit vegan lebenden Menschen.“ Insofern gibt es auch keine aussagekräftige Studie, die ein grundsätzlich erhöhtes Gesundheitsrisiko z. B. im Rahmen veganer Kinderernährung zeigt.
Mit ihrer kritischen Haltung gegenüber der veganen Ernährung steht die DGE daher auch international ziemlich alleine da: Gegenteilige bzw. deutlich weniger kritische Statements gibt es nicht nur von der amerikanischen Academy of Nutrition and Dietetics [AND 2015], der immerhin größten ernährungsmedizinischen Fachgesellschaft der Welt, sondern z. B. auch von den Fachgesellschaften aus Kanada [Amit 2010], Großbritannien [Phillips 2005], Australien [NHMRC 2013] oder anderen europäischen Ländern [NPPHD 2015]. Über mögliche Motive der DGE kann hier nur spekuliert werden.
Fazit: Hauptsache gesund
Damit ist das Fazit eigentlich ganz einfach: Die Unterscheidung zwischen Mischkost (= nicht gesundheitsgefährlich) und vegan (= gesundheitsgefährlich) ist Unsinn. Mischköstler können sich sehr gesund oder sehr ungesund ernähren, und das Gleiche gilt für Veganer. Selbst in potenziell vulnerablen Phasen wie Schwangerschaft, Stillzeit oder Kindheit ist eine durchdachte vegane Ernährung weniger gesundheitskritisch als eine gedankenlose Mischkost. Für die Ernährungsberatung bedeutet das: Bei jedem Menschen müssen – je nach individueller Ernährungsweise – andere Dinge beachtet und berücksichtigt werden. Das gilt für Veganer und Nicht-Veganer in gleichem Maße. |
Literatur
Academy of Nutrition and Dietetics (AND). Position of the Academy of Nutrition and
Amit M. Vegetarian diets in children and adolescents. Paediatr Child Health 2010;15: 303–314 [reaffirmed 2014]
Deutsche Gesellschaft für Ernährung (Hrsg.): Ernährungsbericht 2008. Bonn 2008
Dietetics: Vegetarian Diets. J Acad Nutr Diet 2015; 115: 801-810
Heidemann C, Du Y, Paprott R et al. Temporal changes in the prevalence of diagnosed diabetes, undiagnosed diabetes and prediabetes: findings from the German Health Initiative Interview an Examination Surveys in 1997-1999 and 2008-2011. Diabet Med 2016;33(10): 1406-1414 (KORA-Survey)
Kurth B-M, Schaffrath-Rosario A. Die Verbreitung von Übergewicht und Adipositas bei Kindern und Jugendlichen. Ergebnisse des Kinder- und Jugendgesundheitssurveys (KiGGS). Bundesgesundheitsbl - Gesundheitsforsch – Gesundheitsschutz 2007;50(5/6):736 – 743
Mensink GBM, Schienkiewitz A, Haftenberger M et al. Übergewicht und Adipositas in Deutschland. Ergebnisse der Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (DEGS1). Bundesgesundheitsbl 2013;56(5-6):786 -794
NHMRC (National Health and Medical Research Council (Hrsg). Eat for health. Australian dietary guidelines. National Health and Medical Research Council, Canberra, 2013
NPPHD (National Programme for the Promotion of a Healthy Diet), Direção-Geral da Saúde (Hrsg). Guidelines for a healthy vegetarian diet. Lissabon, 2015
Phillips F. Vegetarian nutrition. Nutrition Bulletin 2005;30:132–167
Richter M, Boeing H, Grünewald-Funk D, Heseker H, Kroke A, Leschik-Bonnet E, Oberritter H, Strohm D, Watzl B for the German Nutrition Society (DGE). Vegan diet. Position of the German Nutrition Society (DGE). Ernahrungs Umschau 2016;63(04):92–102
Washington DC: AICR, 2007
Weiß J, Rau M, Geier A. Non-alcoholic fatty liver disease - epidemiology, clincal course, investigation and treatment. Dtsch Arztebl Int 2014;111: 447−452
World Cancer Research Fund/American Institute for Cancer Research. Food, Nutrition, Physical Activity, and the Prevention of Cancer: a Global Perspective
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