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Medizin
Faltenkiller gegen Schmerzen
Für Botulinumtoxin werden neue Anwendungsgebiete erschlossen
Das grampositive, sporenbildende anaerobe Bakterium Clostridium botulinum produziert Neurotoxine, von denen bisher acht Subtypen (A, B, C1, D, E, F, G und H) bekannt sind. Therapeutisch genutzt werden derzeit nur die Typen A und B. Mithilfe von Röntgenstrukturanalysen und Elektronenmikroskopie ist es kürzlich gelungen, die räumliche Struktur dieser beiden Proteine aufzuklären, die aus mehreren Tausend Aminosäuren bestehen. Außerdem fand man heraus, wie die Toxine nach oraler Aufnahme, zum Beispiel durch den Verzehr kontaminierter Lebensmittelkonserven, aus dem Gastrointestinaltrakt ins Blut gelangen (s. Kasten).
Forschung zu Mitteln gegen Botulismus
Um sicherzustellen, dass sein Toxin unbeschadet in die Blutbahn des „Opfers“ gelangt, hat Clostridium botulinum eine perfide Strategie entwickelt: Es sezerniert das Nervengift zusammen mit zwei „Hilfsproteinen“. Die drei Eiweiße lagern sich anschließend zu einem hochmolekularen, sogenannten Progenitor-Toxin-Komplex (PTC) zusammen. Eine PTC-Komponente schützt das Botulinumtoxin vor der Verdauung durch Proteasen im Magen und Dünndarm des Menschen, während ein weiterer Subkomplex durch bis zu neun Glykan-Bindungsstellen die Aufnahme über die Zellen der Dünndarmschleimhaut vermittelt. An dieser Stelle setzt die Gegenstrategie an, die eine Forschergruppe der University of California, Irvine (USA), gemeinsam mit Dr. Andreas Rummel und Mitarbeitern vom Institut für Toxikologie der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) entwickelt hat. Sie testen im Mausmodell Monosaccharide, die an die Glykan-Bindungsstellen am Toxinkomplex binden und so dessen Resorption hemmen. Zwar ist das Risiko, durch den Verzehr kontaminierter Lebensmittel an Botulismus zu erkranken, relativ gering. Garmethoden wie ein 15-minütiges Erhitzen auf 100°C führen zur Zerstörung des Toxins. Weil aber ein Einsatz von Botulinumtoxin als biologische Waffe denkbar wäre, wird nach wie vor intensiv zu Gegenmitteln geforscht.
Geringste Mengen können tödlich sein
Botulinumtoxin ist das stärkste bekannte Gift. Die tödliche Dosis bei oraler Aufnahme wird auf 1 µg pro kg Körpergewicht geschätzt. Über den parenteralen Weg können bereits etwa 100 ng letal wirken, wenn nicht unverzüglich Gegenmaßnahmen wie eine Antikörper-Gabe (z. B. Botulismus-Antitoxin Behring®) ergriffen werden. Der Mechanismus für die Entstehung der potenziell zum Tode führenden Lähmungen ist gut untersucht. Das Neurotoxin bindet an Rezeptoren der motorischen Endplatte und wird durch Endozytose in die cholinerge Nervenendigung aufgenommen. Dort spaltet es dank seiner Protease-Aktivität verschiedene Eiweiße, die für die Freisetzung von Acetylcholin aus den Vesikeln in den synaptischen Spalt und damit für die chemische Übertragung der Aktionspotenziale von der Nervenendigung auf die Muskelfaser essenziell sind. Die einzelnen Toxin-Subtypen unterscheiden sich dabei sowohl bezüglich der Bindung an die Rezeptoren als auch in ihrer Affinität zu den verschiedenen synaptischen Proteinen.
Von Augenzittern bis Zerebralparese
Die ersten Zulassungen erhielten Zubereitungen zur Herstellung von Botulinumtoxin-Injektionen für ophthalmologische Indikationen wie den Lidkrampf (Blepharospasmus). Heute stehen sie für eine Vielzahl weiterer Erkrankungen zur Verfügung (s. Tabelle 1). Dazu zählen beispielsweise ein Schiefhals, Verkrampfungen als Folge eines Schlaganfalls wie eine gefaustete Hand oder ein spastischer Spitzfuß, die in der Rehabilitationsphase selbst einfache Alltagsaktivitäten wie Essen, Ankleiden oder Gehen unmöglich machen bzw. stark erschweren.
Präparat |
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Botox®
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Dysport®
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Xeomin®
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Neurobloc®
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C.-botulinum-Toxin |
Typ A |
Typ A |
Typ A |
Typ B |
Hersteller |
Allergan |
Ipsen Pharma |
Merz Pharmaceuticals GmbH |
Eisai Ltd. |
neurologische
Indikationen
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fokale Spastizitäten:
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fokale Spastizitäten:
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fokale Spastizitäten:
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chronische Migräne bei Erwachsenen, wenn eine prophylaktische Migräne-Medikation nicht infrage kommt |
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Blasenfunktionsstörungen:
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starke, fortbestehende primäre Hyperhidrosis axillaris |
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Einen hohen Bekanntheitsgrad erreichte Botulinumtoxin, nachdem es Einzug in die ästhetische Medizin gehalten hatte. Nicht, um in unseriösen „Botox-Partys“ als optisches Verjüngungsmittel eingesetzt zu werden, sondern laut Zulassungstext zur vorübergehenden Verbesserung des Aussehens, wenn stark ausgeprägte Gesichtsfalten eine erhebliche psychologische Belastung darstellen (s. Tabelle 2).
Präparat |
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Vistabel®
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Azzalure®
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Bocouture®
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C.-botulinum-Toxin
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Typ A |
Typ A |
Typ A |
Hersteller |
Allergan |
Galderma |
Merz Pharmaceuticals GmbH |
Indikationen |
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mittelstarke bis starke Glabellafalten (vertikale Falten zwischen den Augenbrauen) |
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Weitere Anwendungsgebiete werden erschlossen
Während der Anwendung in Indikationen wie der zervikalen Dystonie fiel auf, dass nicht nur die krampfartigen Beschwerden gelindert wurden, sondern darüber hinaus auch bestehende Schmerzen reduziert werden konnten. Die Schmerzreduktion schien länger anzuhalten als die Linderung der Spastizitäten. Daher wird Botulinumtoxin seit einigen Jahren auch bei verschiedenen Schmerzarten getestet. Man vermutet, dass dieser Eigenschaft des Toxins andere Mechanismen zugrunde liegen. In Tierexperimenten fand man heraus, dass Botulinumtoxin bei Ratten die Freisetzung von Glutamat, Substanz P und Calcitonin-gene-related Protein (GCRP) hemmte. Bei diesem Eiweiß handelt es sich um eine stark vasodilatatorisch wirkende Substanz, die in hohen Konzentrationen im ZNS vorkommt und vermutlich bei der Pathophysiologie der Migräne eine wichtige Rolle spielt. Auch die Substanz P wirkt stark gefäßerweiternd und steigert außerdem die Empfindlichkeit von Schmerzneuronen im Rückenmark. Inwieweit sich diese tierexperimentellen Befunde auf den Menschen übertragen lassen, kann bisher nur abgeschätzt werden.
In einer Übersichtsarbeit von Wheeler et al. [Wheeler AH et al. 2016], die online frei zugänglich ist und regelmäßig aktualisiert wird, findet sich ein Überblick über eine Vielzahl von großangelegten sowie kleineren Studien, in denen Botulinumtoxin bei verschiedenen Schmerzzuständen getestet wurde.
Dazu zählen
- das myofasziale Schmerzsyndrom,
- Nackenschmerzen infolge Schleudertrauma,
- Kreuzschmerzen (Lumbalgie),
- Gelenkschmerzen,
- Schulterschmerzen nach Schlaganfall,
- Schmerzen im Urogenitaltrakt, z. B. schmerzhaftes Blasensyndrom (PBS),
- Schmerzen nach Hämorrhoiden-Entfernung und andere anorektale Schmerzen,
- Beckenschmerzen bei Frauen,
- gemischte Schmerzsyndrome und
- primäre und sekundäre Kopfschmerzen.
Vielversprechende Ergebnisse zum Einsatz bei neuropathischen Schmerzen
Überwiegend positiv waren bisherige Einzelfallberichte und kleinere Untersuchungen zum Einsatz von Botulinumtoxin gegen neuropathische Schmerzen unterschiedlicher Ursache, beispielsweise infolge von Rückenmarksverletzungen, Wurzelreizsyndromen, postherpetischer Neuralgie oder diabetischer Neuropathie. Die Effekte hielten teilweise über mehrere Jahre an. Die Injektionstechniken bei dieser Schmerzart waren dabei vergleichbar mit denen bei Hyperhidrosis. Die betroffenen Hautpartien wurden in Abschnitte mit Quadraten von ca. 1,5 cm Kantenlänge oder Kreisen mit diesem Durchmesser unterteilt. Botulinumtoxin könnte für solche Patienten eine Alternative darstellen, die Wirkstoffe wie Pregabalin, Gabapentin, Duloxetin oder tricyclische Antidepressiva, die derzeit gegen neuropathische Schmerzen eingesetzt werden, nicht vertragen oder bei denen sie kontraindiziert sind.
Im Februar 2016 erschien in der renommierten Fachzeitschrift Lancet Neurology eine randomisierte, doppelblinde placebokontrollierte Studie zur Anwendung von Botulinumtoxin bei neuropathischen Schmerzen. Darin waren 68 Patienten aus Frankreich und Brasilien auf Injektionen von Botulinumtoxin A oder Placebo (Injektionen mit isotonischer Kochsalzlösung) gemeint randomisiert worden. Die Patienten der Verum-Gruppe erhielten im Abstand von zwölf Wochen zwei Botulinumtoxin-A-Injektionsserien. Primärer Endpunkt war die Schmerzreduktion, die einmal wöchentlich anhand von Fragebögen evaluiert wurde. Botulinumtoxin A reduzierte auf einer Skala von 1 bis 10 die mittlere Schmerzintensität vom Ausgangswert (6,5 Punkte) auf 4,6 Punkte, in der Placebo-Gruppe erfolgte ein Rückgang von 6,4 auf 5,8 Punkte. Dieser Unterschied war statistisch signifikant (p < 0,0001). Die einzige berichtete Nebenwirkung waren Schmerzen an den Injektionsstellen. Im Experteninterview auf S. 40 bewertet Prof. Dr. med. Claudia Sommer von der Universität Würzburg, die mit ihrer Arbeitsgruppe an der Studie beteiligt war, diese Ergebnisse. |
Quelle
Dover N et al. Molecular characterization of a novel botulinum neurotoxin type H gene. J Infect Dis 2014;209:192-202
Barash JR, Arnon SS. A novel strain of Clostridium botulinum that produces type B and type H botulinum toxins. J Infect Dis 2014;209:183-191
Wheeler AH et al. Therapeutic injections for pain management. http://emedicine.medscape.com/article/1143675-overview, Update am 21. März 2016
Attal N, Üçeyler N, Sommer C, Safety and efficacy of repeated injections of botulinum toxin A in peripheral neuropathic pain (BOTNEP): a randomised, double-blind, placebo-controlled trial. Lancet Neurol 2016;15:555–565
Baron B, Andreas Binder A. Fighting neuropathic pain with botulinum toxin A. Lancet Neurol 2016;15:534-335
Stahlmann R. Botulinumtoxine. Von der Wurstvergiftung zur ästhetischen Medizin. Dtsch Apoth Ztg 2012,34:46
Website des Arbeitskreises Botulinumtoxin e. V. der Deutschen Gesellschaft für Neurologie, www.botulinumtoxin.de
Lee K et al. Inhibiting oral intoxication of botulinum neurotoxin A complex by carbohydrate receptor mimics. Toxicon 2015;107(Pt A):43-49, doi: 10.1016/j.toxicon.2015.08.003
Lee K et al. High-resolution crystal structure of HA33 of botulinum neurotoxin type B progenitor toxin complex. Biochem Biophys Res Commun 2014;446(2):568-573, doi: 10.1016/j.bbrc.2014.03.008
Lee K et al. Structure of a bimodular botulinum neurotoxin complex provides insights into its oral toxicity. PLoS Pathog 2013;9(10):e1003690. doi: 10.1371/journal.ppat.1003690
So sieht Botox aus: Forscher entschlüsseln Funktion und komplizierte Raumstruktur des Neurotoxins Presseinformation der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) vom 15. Juli 2013, www.mh-hannover.de
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