Arzneimittel und Therapie

„Es gibt bessere Alternativen!“

Warum Solifenacin nicht Mittel der Wahl ist und ein Lieferengpass kein Problem sein muss

Bei all den Problemen, die es bei der Beschaffung von Vesikur® gibt, stellt sich die Frage: Geht es auch ohne? Eine Antwort darauf gibt Priv.-Doz. Dr. Andreas Wiedemann, Chefarzt der urologischen Klinik am Evangelischen Krankenhaus Witten.
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Privat-Dozent Dr. Andreas Wiedemann

Sogar in Cochrane Reviews herrscht Einigkeit darüber, dass alle Anticholinergika dosisabhängig eine gleich starke Wirkung entfalten [1]. Die Unterschiede liegen eher im Nebenwirkungsprofil. Zwar ist die dominierende Mundtrockenheit ein Gruppeneffekt, besonders für den Hochbetagten sind jedoch ZNS-Nebenwirkungen mit kognitiven Defiziten, Denkstörungen, Konzentrationsmangel, Delirien und dementiven Entwicklungen von vitaler Relevanz (Sturzgefahr!). ZNS-Nebenwirkungen sind ausschließlich bei den ZNS-gängigen, lipophilen Anticholinergika aus der Reihe der tertiären Amine (Solifenacin, Fesoterodin, Oxybutynin, Propiverin, Tolterodin und Darifenacin) zu erwarten. Hierzu liegt eine Fülle von Kasuistiken [2 – 4] und Hinweisen z. B. im Schlaflabor [5, 6] und in kognitiven Leistungstests [7]vor. In der PRISCUS-Liste des Lehrstuhls für Pharmakologie der Universität Witten/Herdecke werden folgerichtig diese tertiären Amine für den älteren Patienten als ungeeignet eingestuft [8].

Als pharmakologische Alternative wird Trospiumchlorid, das einzige hydrophile, geladene und daher im Tierversuch [9] und auch beim Menschen [10] nicht ZNS-gängige Anticholinergikum empfohlen. Ein weiterer Vorteil: Die Substanz wird renal unverändert eliminiert, was zu positiven Lokaleffekten führen dürfte [11, 12]. Tertiäre Amine wie Solifenacin oder Fesoterodin unterliegen der Verstoffwechselung durch das hepatische Cytochrom-P-450-System, das nicht nur genetischen Variationen unterliegt, sondern auch durch Arzneimittel aus der Co-Medikation induziert oder gehemmt werden kann. Somit ist nicht nur von veränderten Serumspiegeln bei den sogenannten extensive oder slow metabolizers auszugehen [13]. Bei der häufigen Polypharmazie älterer Patienten kann z. B. die Gabe eines Antimykotikums, eines Antibiotikums wie Clarithromycin, von Propofol und anderen, ja sogar die Einnahme von Johanniskraut oder Grapefruitsaft die Serumspiegel der tertiären Amine verändern [14 – 16].

Ein scheinbarer Ausweg aus dieser Thematik stellt auch die Verordnung von Mirabegron dar, einem für die Therapie der überaktiven Blase zugelassenen Beta-3-Mimetikum. Naturgemäß liegen keine anticholinergen Nebenwirkungen vor. Es kommt allerdings in rund 15% der Fälle zu einer Verstärkung oder Auslösung einer Hypertonie [17, 18]. Extremfälle haben hier 2015 zu einem entsprechenden Rote-Hand-Brief geführt [19]. Da Mirabegron ebenfalls Substrat und Hemmstoff des Cytochrom-P-450-Systems ist, sind hier keine pharmakologischen Vorteile gegenüber den Anticholinergika aus der Reihe der tertiären Amine abzuleiten.

Fazit: Als Alterserkrankung betrifft die Behandlung der überaktiven Blase Hochbetagte, Multimorbide und Multimedizierte. Diese sind vulnerabel und besonders durch ZNS-Nebenwirkungen bedroht. Unter den „urologischen“ Anticholinergika hat das hydrophile Trospiumchlorid Vorteile im Hinblick auf die fehlende ZNS-Gängigkeit und die geringere Anfälligkeit für Arzneimittelinteraktionen auf der Ebene des Cytochrom-P450-Systems.

Quellen

    [1] Nabi G. Cochrane Database Syst Rev 2006:CD003781
[2] Donnellan CA. BMJ 1997;315:1363-1364
[3] Sommer BR. J Urol 2005;173:2125-2127
[4] Womack KB. Arch Neurol 2003;60:771-773
[5] Diefenbach K. BJU Int 2005;95:346-349
[6] Diefenbach K. Clin Drug Investig 2003;23:395-404
[7] Todorova A. J Clin Pharmacol 2001;41:636-644
[8] Holt S. Dtsch Arztebl Int 2010;107:543-551
[9] Kranz J. World J Urol 2013;31:219-224
[10] Staskin D. J Am Geriatr Soc 2010;58:1618-1619
[11] Mansfield KJ. Br J Pharmacol 2005;144:1089-1099
[12] Mansfield KJ. BJU Int 2007;99:1433-1438
[13] Regitz-Zagrosek V. Handb Exp Pharmacol 2012:3-22
[14] Malhotra B. Br J Clin Pharmacol 2011;72:257-262
[15] Malhotra B. Br J Clin Pharmacol 2011;72:226-234
[16] Malhotra B. Br J Clin Pharmacol 2011;72:263-269
[17] Wagg A. Neurourol Urodyn 2014;33:106-114
[18] Nitti VW. Int J Clin Pract 2014;68:972-985
[19] Rote-Hand-Brief zu Betmiga® (Mirabegron) vom 07.09.2015

Priv.-Doz. Dr. Andreas Wiedemann

Urologische Abteilung, Evangelisches Krankenhaus Witten; Lehrstuhl für Geriatrie der Universität Witten/Herdecke

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