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Nach dem EuGH-Urteil

Die Lücke geschlossen

May/Bauer/Dettling-Gutachten zeigt, warum die Preisbindung das Apothekensystem sichert

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat in seinem Urteil vom 19. Oktober 2016 zur Preisbindung bei Arzneimitteln bemängelt, dass kein Nachweis erbracht wurde, weshalb die Preisbindung zur Sicherung der ordnungsgemäßen Arzneimittelversorgung in Deutschland erforderlich sei. Damit drängt sich seither auf, diesen Nachweis vorzulegen. Der Gesundheitsökonom Prof. Dr. Uwe May, die Politikwissenschaftlerin Cosima Bauer und Rechtsanwalt Dr. Uwe Dettling haben nun ein Gutachten vorgelegt, das diese „Lücke im Tatsächlichen“ schließt. Da die Existenz von Apotheken von ihrem wirtschaftlichen Erfolg abhängt, besteht der Kern des Gutachtens aus einem ökonomischen Modell, das hier vorgestellt wird. | Von Thomas Müller-Bohn

In den ersten Kapiteln beschreiben die Gutachter Bedingungen für ein angemessenes Arzneimittelversorgungssystem und leiten daraus Konsequenzen für dessen Gestaltung ab. Wer mit der Arzneimittelversorgung vertraut ist, wird einige dieser Hintergründe als selbstverständlich betrachten, doch es ist für das Verständnis des Systems bedeutsam, sich diese Zusammenhänge bewusst zu machen. Die Gutachter beschreiben die Arzneimittelversorgung als einen Universaldienst, auf den jeder Einwohner in einer bestimmten Qualität und zu erschwinglichen Preisen Anspruch hat. Da Leben und Gesundheit Höchstwerte sind, ist bei der Leistungserbringung keine Verzögerung zu akzeptieren. Im Unterschied zu Lebensmitteln sind nicht irgendwelche, sondern die jeweils individuell nötigen, nicht substituierbaren Arzneimittel erforderlich. Im Sinne des allgemeinen Staatsziels Gesundheit muss dieses System flächendeckend funktionieren. In Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu Rezeptsammelstellen gehen die Gutachter davon aus, dass der Weg zu einer Apotheke und zurück mit öffentlichen Verkehrsmitteln innerhalb einer Stunde zurückzulegen sein soll. Zur wirtschaftlichen Sicherung dieses Systems dient ein Festpreissystem, das zudem für Transparenz sorgt und so die Abrechnung wesentlich erleichtert. Dies ist ein milderer staatlicher Eingriff als eine Niederlassungsbeschränkung, die aufgrund der deutschen Rechtslage ohnehin ausscheidet.

Arzneimittel und Versorgungssystem

Als Charakteristika von Arzneimitteln betonen die Gutachter Informationsasymmetrien, die Einschränkung der Konsumentensouveränität und die Komplexität des Produktnutzens. Der Patient kann seinen Informationsbedarf oft nicht selbst erkennen. Die unnötige Anwendung von Arzneimitteln kann zu negativen externen Effekten auf die Solidargemeinschaft führen, die die Arzneimittel finanziert. Außerdem analysieren die Gutachter Parameter der Versorgungsqualität für die Patientenversorgung durch Apotheken. Dazu verweisen sie auf vielfältige rechtliche Vorgaben und auf die Beratungsfunktion der Apotheken. Auch nach den Maßstäben der Guten Pharmazeutischen Praxis des internationalen Apothekerverbandes FIP ist die einfache Erreichbarkeit eine wichtige Komponente. Die Gutachter betonen die Bedeutung der persönlichen Interaktion, die meist nicht durch automatisierte Lösungen ersetzt werden kann.

Doch stellen die Gutachter für die Arzneimittelversorgung durch Apotheken Marktversagen durch asymmetrische Informationen und externe Effekte fest. Obwohl Arzneimittel als persönlich angewendete Waren ihrem Wesen nach private Güter sind, sehen sie in der Arzneimittelversorgung ein öffentliches Gut, das vom Staat bereitgestellt werden muss. Die Beratungsleistung der Apotheken wird demnach von den Patienten nicht mit dem Preis honoriert, der für das Angebot notwendig wäre. Aufgrund des Sachleistungsprinzips zahlen GKV-Patienten keine Marktpreise für Arzneimittel. Auch für die Apothekenvergütung ist die marktwirtschaftliche Steuerungsfunktion des Preises ausgesetzt. Die Gutachter begrüßen dies und kritisieren zugleich, dass diese Sonderstellung nach dem EuGH-Urteil in die Diskussion geraten ist.

Rechtfertigung der Preisbindung

Die Gutachter begründen die Preisbindung insbesondere mit der Vermeidung von Verdrängungswettbewerb, mit der Gleichbehandlung der Patienten, der Sicherstellung der flächendeckenden Versorgung und mit einer Mischkalkulation, die den Anbietern einen Ausgleich zwischen rentablen und weniger rentablen Teilbereichen ermöglicht. Den Preis zwischen dem Arzneimittel und der Beratungsleistung aufzuspalten, erscheint demnach nicht sinnvoll. Denn es besteht ein gesellschaftliches Interesse, dass die Patienten die persönliche Beratung wahrnehmen, deren Wert sie nicht immer selbst im Voraus erkennen. Als Alternative zur Preisbindung wären unmittelbare Subventionen an versorgungskritische Apotheken denkbar, die jedoch eine staatliche Bedarfsplanung erforderlich machen würden. Eine andere Alternative wären mittelbare Subventionen über veränderte Apothekenhonorare. Damit würden deutsche Apotheken für die Verluste entschädigt, die durch das Abwandern ihrer Umsätze zu ausländischen Wettbewerbern entstehen. Dann würde der Staat indirekt diese ausländischen Versender subventionieren. Die Gesellschaft würde also doppelt zahlen, für die deutschen Präsenzapotheken und ihre ausländischen Wettbewerber. Ein solches Mischsystem erscheint daher nicht effektiv. Letztlich folgern die Gutachter, dass das Verbot des Rx-Versandhandels die einzige Möglichkeit ist, die Preisbindung zu erhalten.

Politische Optionen

Bevor die Gutachter endgültig zu diesem Schluss kommen, betrachten sie vier Optionen:

  • Untätigkeit des Gesetzgebers und daraus folgende Inländerdiskriminierung,
  • Aufhebung von Preisbindung und Sachleistungsprinzip,
  • „sanfter Preiswettbewerb“ mit beschränkten Boni und
  • Rx-Versandverbot.

Die beschränkten Boni werden als vermeintlich moderater Mittelweg diskutiert. Doch die Gutachter mahnen, dass Boni den Steuerungszweck von Zuzahlungen unterlaufen und auch beschränkte Boni im Widerspruch zum EuGH-Urteil stehen. Ausländische Versender wären nicht an eine Beschränkung gebunden, was den Sinn einer solchen Regelung infrage stellt. Dennoch bezieht sich das eigentliche Modell auf diesen Fall. Dazu ermitteln die Gutachter, dass die meisten Apotheken Boni von etwa 2 Euro pro Rx-Arzneimittel nicht finanzieren könnten, weil sie dann ihren Gewinn ganz oder überwiegend einbüßen würden. Sie unterstellen daher, dass die Vor-Ort-Apotheken nicht in den Boni-Wettbewerb einsteigen und daher erhebliche Umsätze an Versender verlieren würden. Daher lässt sich das Modell auch auf den Fall der Untätigkeit des Gesetzgebers anwenden. Das Modell ist damit sogar noch aussagekräftiger, als es der ursprünglichen Zielsetzung entspricht. Es zeigt, dass auch die Untätigkeit des Gesetzgebers langfristig das bestehende Apothekensystem aushöhlen würde. Die Option der Aufhebung der Preisbindung wird nicht näher betrachtet, weil die bestehenden Apotheken damit noch stärker als durch den „sanften Preiswettbewerb“ geschwächt würden.

Marktanteil des Versandes

Zur Vorbereitung der eigentlichen Modellrechnung gestalten die Gutachter drei Szenarien für die Marktentwicklung des Rx-Versandes in Abhängigkeit vom Anteil versandfähiger Arzneimittel und von der Neigung der Patienten zum Versand. Gestützt auf Erfahrungen mit OTC-Arzneimitteln und auf Verbraucherumfragen gehen die Gutachter von einer hohen Preiselastizität der Nachfrage vieler Patienten aus. Eine Hochrechnung der bisherigen Marktanteile des Rx-Versandes betrachten die Gutachter dagegen als unrealistischen Ansatz. Zur Stützung dieser These ist noch zu ergänzen, dass disruptive Marktveränderungen wie der Preiswettbewerb im Rx-Versand erfahrungsgemäß zu sehr großen Marktanteilsverschiebungen führen und dies auch der Antrieb für ihre Anbieter ist. Die Gutachter modellieren daraufhin drei Szenarien mit 9, 17 und 25 Prozent Marktanteil des Versandes an Rx-Arzneimitteln. Dabei schätzen sie die Wahrscheinlichkeit für das 17%-Szenario langfristig am höchsten und für das 9%-Szenario langfristig am niedrigsten ein.

Szenario-Rechner

Zentrales Element des May/Bauer/Dettling-Gutachtens sind Berechnungen, welche Auswirkungen Ertragsverluste in unterschiedlicher Höhe auf die Zahl der öffentlichen Vor-Ort-Apotheken in Deutschland hätten.

Zur Betrachtung dieser unterschiedlichen Szenarien haben die Autoren einen „Szenario-Rechner“ entwickelt.

Den Rechner zum Download finden Sie unter

www.apothekennetz.info

Apothekenbetriebsergebnisse

Gemäß den ABDA-Daten von 2016 veranschlagen die Gutachter ein durchschnittliches Betriebsergebnis der Apotheken von 6,4 Prozent vom Nettoumsatz. Die Gutachter konnten keine klaren Zusammenhänge zwischen Umsatzklassen, Ortsgrößenklassen und Geschäftslagen einerseits und prozentualem Betriebsergebnis andererseits ermitteln. Daher betrachten sie den Durchschnittswert als valide für alle Umsatzgrößenklassen. Dem ist hinzuzufügen, dass umsatzschwache Apotheken durch ihren hohen Fixkostenanteil eher unterdurchschnittliche Betriebsergebnisse haben dürften. Dagegen profitieren Dorfapotheken in Alleinlage eher von geringen Mieten und geringen Personalkosten durch kurze Öffnungszeiten. Angesichts dieser gegenläufigen Effekte erscheint der Durchschnitt als taugliche Orientierungsgröße, wenn Aussagen für große Zahlen von Apotheken gewonnen werden sollen.

Räumliche Verteilung der Apotheken

Die Gutachter tragen beachtliche Daten zur geografischen Verteilung der Apotheken zusammen. Zahlreiche Daten stammen aus einem Apothekenbetriebsvergleich des Instituts für Handelsforschung (IFH) von 2012. Außerdem haben die Gutachter anhand des Bundesapothekenregisters ermittelt, wie sich die Apotheken auf Orte verschiedener Größe verteilen. Anfang April 2017 lagen demnach 2041 Apotheken in Orten unter 5000 Einwohnern und 15.974 Apotheken in 1585 Orten über 10.000 Einwohnern. In ganz Deutschland ermittelten die Autoren 1711 „Solitärapotheken“ ohne Wettbewerber im Umkreis von 5 Kilometern, davon 128 ohne Wettbewerber im Umkreis von 10 Kilometern. Es ist davon auszugehen, dass dies jeweils die einzige Apotheke in ihrem Ort ist. Beim Wegfall einer solchen Apotheke hätte der Ort keine Apotheke mehr und auch kleinere Nachbarorte wären nicht mehr in der gewohnten Weise versorgt. Die weitere Modellbetrachtung richtet ihr zentrales Augenmerk auf diese 1711 Solitärapotheken, weil sie für die flächendeckende Versorgung maßgeblich sind. Ihr Verlust würde unmittelbar die Versorgung beeinträchtigen – anders als der Wegfall einer Stadtapotheke. Wenn eine Solitärapotheke schließt, würde ihr Standort die Kriterien für einen „abgelegenen Ort“ erfüllen. Sie müssten dann über eine Rezeptsammelstelle versorgt werden. Dieser Notbehelf für die Versorgung müsste dann in mehr Orten genutzt werden und würde vor allem viel mehr Menschen betreffen, weil die Orte tenden­ziell größer sind als die Dörfer, in denen noch nie eine Apotheke betrieben wurde.

Für die weitere Modellrechnung gehen die Gutachter davon aus, dass sich die 1711 Solitärapotheken in gleicher Weise auf die Umsatzgrößenklassen verteilen, wie dies für die 24 Solitärapotheken in der Region Bad Kissingen gilt. Diese Zuordnung ähnelt der Verteilung in der IFH-Stichprobe. Für das Modell wird angenommen, dass 356 Solitärapotheken jährlich jeweils 750.000 Euro umsetzen und 428 Solitär­apotheken jeweils eine Million Euro Umsatz erzielen.

Rentabilitätsgrenze

Als Grenze für die Rentabilität einer Apotheke wird ein Betriebsergebnis von 50.000 Euro angesetzt. Die Gutachter haben sich bewusst für eine niedrige Grenze entschieden, obwohl für die Arbeitsleistung des Apothekenleiters 50.000 Euro plus Lohnnebenkosten, also 62.500 Euro anzusetzen wären. Die Gutachter betonen allerdings, dass zwischen dem Unterschreiten der 50.000-Euro-Grenze und der Schließung Jahre vergehen können, wenn sich für den Inhaber keine Alternative ergibt. Dem ist hinzuzufügen, dass oft das Ende eines Mietvertrags oder der absehbare Eintritt ins Rentenalter abgewartet wird. Entscheidend ist, dass eine solche Apotheke nicht zukunftsfähig ist. Sie wird keinen Nachfolger finden und der jetzige Inhaber wird nicht mehr investieren, sondern die erstbeste Gelegenheit zur Schließung wahrnehmen. Sie ist damit für die langfristige Planung der Versorgung nicht mehr relevant. Dabei ist zu beachten, dass die Apotheken mit 750.000 Euro Umsatz gemäß der Modellrechnung schon heute ein Betriebsergebnis unter 50.000 Euro erzielen. Daher müssten 621 Apotheken, davon 356 Solitär­apotheken, schließen, aber dies geschieht nicht unverzüglich. Es muss daher auch für die Interpretation der weiteren Ergebnisse der Modellrechnung betont werden, dass es hier um die Bedingungen für eine stabile langfristige Versorgung geht. Termine für die Schließung einzelner Apotheken hängen dagegen von der individuellen Situation ab und sind durch ein solches Modell nicht vorherzusagen.

Folgen von Marktveränderungen

Im nächsten Schritt des Modells wird der Rohertragsverlust in Abhängigkeit vom unterstellten Marktanteilsverlust bei Rx-Arzneimitteln errechnet. Es wird angenommen, dass auf die verbleibenden Umsätze kein Bonus gewährt wird. Für jede „verlorene“ Rx-Packung werden ein Rohertragsverlust von 9,54 Euro (einschließlich entgangenem Einkaufsvorteil) und ein weiterer entgangener Rohertrag von 1,93 Euro aus entgangenem OTC-Umsatz unterstellt. Kritiker könnten argumentieren, dass dörfliche Solitärapotheken, auf die die Betrachtung zielt, nur sehr geringe OTC-Umsätze erzielen und damit solche Umsätze kaum noch verloren gehen können. Diesen Kritikern kann eine alternative Rechnung als Abschätzung empfohlen werden. Man kann als triviale Annahme unterstellen, dass der Rohertrag um die jeweils betrachteten 9, 17 oder 25 Prozent zurückgeht, weil der Rx-Umsatz dominiert und andere Umsätze weitgehend daran gekoppelt sind oder ähnlichen Entwicklungen unterliegen. Außerdem erübrigen sich damit alle Überlegungen zu Einkaufsvergünstigungen. Bei dieser einfachen Vergleichsrechnung gehen die Roherträge stets stärker zurück als in der Modellrechnung im Gutachten. Die Annahmen des Gutachtens scheinen daher moderat gewählt.

Ergebnisse der Modellrechnung

Aus der Verminderung des Rohertrags folgt die Verminderung des Betriebsergebnisses. Wenn dies unter 50.000 Euro fällt, gehen die Gutachter davon aus, dass die Apotheke langfristig schließen muss. Bei 9 Prozent Marktanteil des Versandes betrifft dies alle 1962 Apotheken mit einem Umsatz unter einer Million Euro, darunter 784 Solitärapotheken. Bei 17 Prozent Marktanteil des Versandes müssten aufgrund der Berechnungen 3764 Apotheken schließen, davon 1212 Solitärapotheken, und bei 25 Prozent Marktanteil alle 1711 Solitärapotheken. Der Fokus ist auf die Solitärapotheken gerichtet, weil sie unmittelbar für die flächendeckende Versorgung erforderlich sind. Wenn diese Apotheken wegfallen, ist eine gleiche Gesundheitsversorgung unabhängig vom Wohnort nicht mehr zu gewährleisten. Wenn sich dies aus der Zulassung des Rx-Versandes in Verbindung mit dem europarechtlich nicht abwendbaren Preiswettbewerb ergibt, ist der vom EuGH angemahnte Nachweis mit dem Gutachten erbracht. Die Preisbindung ist demnach erforderlich, um das Apothekensystem auf Dauer zu sichern. Die Gutachter schließen daraus, dass der deutsche Gesetzgeber zur Wahrung seiner Gesundheitsziele den Rx-Versand verbieten muss. Dem ist hinzuzufügen, dass der EuGH bei einer erneuten Verhandlung in einem ähnlich gelagerten Fall aufgrund des Gutachtens zu einem anderen Urteil kommen müsste. Nachdem die „Lücke im Tatsächlichen“ geschlossen ist, sollte der EuGH die Gültigkeit der deutschen Preisbindung auch für ausländische Versender anerkennen. Diese Aussicht ist zugleich ein weiteres Argument gegen die Zulassung begrenzter Boni in Deutschland. Denn eine zwischenzeitliche Lockerung der Preisbindung in Deutschland würde offensichtlich jede Option zerstören, durch ein erneutes EuGH-Verfahren die frühere Situation wiederherzustellen.

Zusätzliche Argumente

Für die weitere Argumentation ist auch die Vorgehensweise des Gutachtens genauer zu betrachten. Die Gutachter erstellen zur unmittelbaren Folge von Boni auf alle Rx-Umsätze nur eine kurze Abschätzung für einen Bonus von 2 Euro pro Rx-Arzneimittel. Hier ist zu ergänzen, dass schon ein Bonus von 1 Euro pro Rx-Arzneimittel den Gewinn der Apotheken mit einem Umsatz bis zu einer Million Euro gemäß den Daten des Modells unter die Rentabilitätsgrenze drücken würde. Dazu müssen nur jeweils der Gewinn und die Zahl der Rx-Packungen betrachtet werden. Ein Euro Bonus ohne Umsatzverlagerung hätte im Modell also die gleichen Folgen wie 9 Prozent Marktanteil des Rx-Versandes ohne Bonus­gewährung der deutschen Vor-Ort-Apotheken.

Unberücksichtigt bleibt im Gutachten, wie sich das langfristige Wachstum des Marktes durch den demografischen Wandel und den pharmazeutischen Fortschritt auswirkt. Das erscheint bedeutsam, weil die zu erwartenden Apothekenschließungen nicht sofort, sondern vermutlich im Laufe von Jahren stattfinden werden. Doch die ebenfalls nicht modellierten Kostenzuwächse dürften diesen Effekt auf die Dauer überkompensieren.

Wichtig erscheint der Hinweis der Gutachter, dass der Wegfall einzelner Apotheken andere Apotheken begünstigen und damit deren Existenz sichern kann. Daraufhin könnte die Zahl der gefährdeten Apotheken überschätzt werden. Nach Ansicht der Gutachter relativiert dies jedoch nicht den Verlust von Solitärapotheken. Doch wenn eine Solitärapotheke schließt, kann der Umsatz den weiter entfernten Apotheken in einem größeren Ort oder einer anderen Solitärapotheke in einem anderen Dorf zufließen. Im letzteren Fall würde eine andere Solitärapotheke möglicherweise vor der Schließung bewahrt. Das ändert zwar nicht die Folgen für die Einwohner am Ort der schließenden Apotheke, aber die Anzahl der betroffenen Orte.

Unterschätzte Folgen

Außerdem gilt es daran zu erinnern, dass im Modell mit durchschnittlichen relativen Betriebsergebnissen gerechnet wird. Es gibt jedoch sehr viele Apotheken mit ungünstiger Kostenstruktur. Demnach sind viele Apotheken stärker betroffen, als es das Modell vermuten lässt. Sie würden also schon bei geringeren Belastungen unrentabel. Andere Apotheken stehen dagegen besser da und würden mehr „aushalten“, als das Modell unterstellt. Doch auch wenn einige Apotheken, die unterstellten Belastungen überstehen könnten, würde das Versorgungssystem in seiner bisherigen Form und Dichte zerstört.

Das Gutachten im Wortlaut:

May, Uwe / Bauer, Cosima / Dettling, Heinz-Uwe:

Versandverbot für verschreibungspflichtige Arzneimittel Wettbewerbsökonomische und gesundheitspolitische ­Begründetheit.

130 S., kartoniert, 54 Euro Deutscher Apotheker Verlag, 2017. ISBN 978-3-7692-7038-9

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Alternative Modellrechnungen

Diese Konsequenz ergibt sich auch, wenn man eine ganz andere Modellrechnung anstellt. Der Verfasser dieser Erläuterungen hatte in seinem Beitrag „Pest oder Cholera? Eine wirtschaftliche Analyse der Optionen nach dem EuGH-Urteil“ (DAZ 2017, Nr. 3, S. 22) eine Modellapotheke betrachtet, die bei durchschnittlichem Umsatz ein Betriebsergebnis von nur 4 Prozent vom Nettoumsatz erzielt. Dies gilt als Schwellenwert für eine gefährdete Rentabilität. Aktualisiert mit den Daten für 2016 (ohne die Honorarerhöhung von 2017) würde eine solche Apotheke bei einer Minderung des Rohertrags um 9 Prozent ein Betriebsergebnis von 40.448 Euro erzielen bzw. 64.216 Euro, wenn auch die Personalkosten um 9 Prozent sinken. Da nach Angaben der Steuerberatung Treuhand Hannover 22 Prozent aller Apotheken ein Betriebsergebnis von 4 Prozent oder weniger vom Nettoumsatz haben, dürften 22 Prozent aller Apotheken so schlechte Ergebnisse wie diese Modellapotheke oder schlechtere erzielen, also etwa 4400 Apotheken. Offenbar wären alle diese Apotheken in ihrer Existenz gefährdet, wenn 9 Prozent ihres Umsatzes verloren gehen. Gemäß dem Gutachten sind in diesem Fall jedoch „nur“ 1962 Apotheken bedroht, davon 784 Solitärapotheken. Der große Unterschied dürfte insbesondere dadurch zu erklären sein, dass bei Belastungen zunächst die ohnehin „schwachen“ Apotheken betroffen sind. Dieser Effekt wird jedoch massiv unterschätzt, wenn nur mit Durchschnittszahlen gerechnet wird. Dies spricht dafür, dass das Gutachten insbesondere die Folgen des 9-Prozent-Szenarios deutlich unterschätzt. Dies gilt jedenfalls für die Gesamtzahl der betroffenen Apotheken, aber nicht unbedingt für Solitärapotheken, bei denen eine eher vorteilhafte Kostenstruktur naheliegt.

Eine weitere Modellrechnung soll für Durchschnittsapotheken gemäß ABDA-Statistik angestellt werden. Wenn der Rohertrag um 25 Prozent sinkt, resultiert nur noch ein Betriebsergebnis von 8312 Euro bzw. 66.408 Euro, wenn auch die Personalkosten um 25 Prozent sinken. Bei einer so großen Marktanteilsverlagerung wäre also die Durchschnittsapotheke bedroht. Doch 60 Prozent der Apotheken sind kleiner als die Durchschnittsapotheke. Dies bedeutet nicht, dass 60 Prozent der Apotheken schließen würden, denn nach der Schließung vieler Apotheken würden die verbleibenden Apotheken profitieren. Das Ergebnis bedeutet jedoch, dass sich die Struktur der Apothekenlandschaft bei einer so großen Verlagerung der Marktanteile grundlegend verändern würde. Das normale derzeitige Apothekengeschäft wäre dann nicht mehr rentabel. Dies träfe alle Apotheken.

Apotheken wären dann nur noch wirtschaftlich sinnvoll zu betreiben, wenn sie von lokalen Sonderfaktoren, besonderen Geschäftsmodellen oder einem lukrativen OTC-Geschäft mit zahlungskräftigen Patienten profitieren. Dies würde längst nicht nur die im Gutachten betonten Solitärapotheken treffen. Nicht nur die Versorgung auf dem Land würde sich dann ändern, sondern das ganze System. Es gäbe Apotheken dann nur noch an großen Ärztehäusern, in wohlhabenden Stadtteilen oder in anderen außergewöhnlichen Lagen. Plakativ gesagt wäre die Apotheke dann ein besonderes Angebot für schwer kranke „heavy user“ und für Anhänger persönlicher Beratung, die dafür auch Wege in Kauf nehmen. Die Apotheke als Teil der Grundversorgung für alle gäbe es bei dem Szenario mit 25 Prozent Marktanteil des Versandes nicht mehr. Diese Botschaft wird im Gutachten zwar nicht formuliert, aber diese weiteren Überlegungen bekräftigen die Ergebnisse des Gutachtens.

Fazit

Es bleibt das Fazit des Gutachtens, dass unter den bestehenden Bedingungen und erst recht bei einem „sanften Preiswettbewerb“ hohe Marktanteile für den Rx-Versand zu erwarten sind und das bestehende Apothekensystem dann finanziell nicht mehr tragfähig ist. Wer die bestehende Versorgung aufrechterhalten will, muss daher hohe Subventionen aufwenden oder den Versand von Rx-Arzneimitteln verbieten. |

Autor

Dr. Thomas Müller-Bohn ist Apotheker und Diplom-Kaufmann. Er ist externes Redaktionsmitglied der DAZ.

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