Arzneimittel und Therapie

Wenn nur noch eine heiße Dusche hilft

Von diesem mysteriösen therapieresistenten Erbrechen sollte man gehört haben

rr | Schubartige Übelkeit und häufiges Erbrechen bis zu fünfmal pro Stunde – klingt auf den ersten Blick nach einer Lebensmittelvergiftung. Wenn diese Beschwerden aber periodisch wiederkehren und über Jahre andauern, stehen Ärzte vor einem Rätsel. Bei diesem speziellen Hyperemesis-Syndrom helfen Anti­emetika nicht, dafür eine heiße Dusche. Forscht man tiefer nach der Ursache dieser geheimnisvollen Übelkeit, stößt man auf eine effek­tive kausale Therapie ...

Fünf Jahre lang litt eine 26-jährige Studentin unter hartnäckiger Übelkeit, Erbrechen und epigastrischen Schmerzen. Die Beschwerden traten zwei- bis dreimal pro Woche auf, meistens morgens, manchmal während des Schlafs. Die junge Frau verlor 15 kg an Körpergewicht und zehn Zentimeter ihres Dünndarms im Zuge einer Untersuchung, um einen neuroendrokrinen Tumor und intestinale Neuromyopathie als Ursache auszuschließen. Antiemetika, Glucocorticoide und ein Fentanyl-Pflaster konnten die Beschwerden nicht lindern. Clonidin wurde dauerhaft nicht vertragen. Ein Behandlungsversuch mit Dronabinol, das unter dem Handelsnamen Marinol® in den USA bei Chemotherapie-induziertem Erbrechen zugelassen ist, verschlechterte im Gegenteil den Zustand. Die einzige Maßnahme, die der Patientin half, war heiß zu duschen oder zu baden.

Im Internet stieß sie schließlich auf Leidensgenossen und mit dem Namen der Erkrankung auch auf die Lösung ihres Problems: das Cannabis-Hyperemesis-Syndrom.

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Heißes Duschen hilft beim Cannabis-Hyperemesis-Syndrom. Drogen-Abstinenz kann die Symptomatik endgültig beenden – und hohe Wasserrechnungen vermeiden.

Nur die halbe Wahrheit

Die Patientin hatte bei den Untersuchungen verschwiegen, dass sie seit elf Jahren regelmäßig Cannabis konsumierte. Eine Abstinenz zeigte Wirkung: Nach drei Wochen verschwanden die Symptome vollständig. Professor Dr. Udo Bonnet, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie am Evangelischen Krankenhaus Castrop-Rauxel, hat mehrere solcher Patientengeschichten dokumentiert. In seiner Praxis begegnen ihm etwa ein bis zwei Fälle pro 100 Patienten, die er bei der Cannabis-Entgiftung unterstützt. Allen gemeinsam ist, dass das zyklische Erbrechen nicht auf die verfügbaren Therapieoptionen anspricht, sondern nur heißes Wasser hilft. Hierzulande ist das Cannabis-Hyperemesis-Syndrom noch relativ unbekannt, weshalb bis zur Diagnose einige Zeit verstreicht. Dass häufiges Duschen in einem Zwangsverhalten münden kann, zeigt der Fall eines Patienten, der im letzten Jahr vor der Diagnosestellung etwa 300 von 365 Tagen in der Badewanne verbracht haben soll.

Resistent gegen jede Therapie

Erstmals beschrieben wurde das Beschwerdebild 2004 in Süd-Australien. Später wurden Fälle in Neuseeland, den Niederlanden, Spanien und den USA bekannt. Eigentlich ist Cannabis in niedrigen Dosen für seine antiemetische Wirkung bekannt. Besonders fatal waren die Verläufe somit bei jenen Patienten, die die Beschwerden durch Marihuana lindern wollten. Die prodromale Phase des Hyperemesis-Syndroms verläuft über mehrere Monate oder Jahre mit leichteren Schmerzen oder morgendlichem Erbrechen. In der hyperemetischen Phase können 30 bis 40 Brechattacken in 24 Stunden über mehrere Tage auftreten. Dehydratation und Gewichtsverlust sind die Folgen bis hin zu schweren Elektrolytstörungen und Nierenversagen. 5-HT3, D2-, H1- und Neurokin-1-Rezeptorantagonisten zeigen eine minimale bis gar keine Wirkung. Von Opiaten rät Bonnet ab, da sie zur Abhängigkeit führen können und eine Methadon-Substitutionstherapie keine bessere Alternative ist. Der Schlüssel liegt allein in der Abstinenz. Wenn nötig, kann diese durch kognitive Verhaltenstherapie und Motivationssteigerungstherapie unterstützt werden.

Pathomechanismus unbekannt

Bisher wurden nur Fallberichte zum Cannabis-Hyperemesis-Syndrom publiziert. Die verantwortlichen Mechanismen sind noch nicht vollständig verstanden. Der oben beschriebene Fall ist für Bonnet aber der Beweis dafür, dass Tetrahydrocannabinol als psychoaktiver Hauptwirkstoff in Cannabis eine Schlüsselrolle in der Pathogenese zukommt, da der Therapieversuch mit Dronabinol, das THC entspricht, das Erbrechen sogar noch verstärkte, und ein Ende des Cannabis-Konsums auch das Ende der Symptomatik bedeutet. Diskutiert werden Einflüsse von Cannabis auf das autonome und zentrale Nervensystem. Über Stimulation der CB1-Rezeptoren wird die Freisetzung von Neurotransmittern wie Serotonin, Dopamin oder Substanz P unterdrückt, die an der Entstehung von Übelkeit beteiligt sind. Eine pharmakodynamische Erklärung für das Hyperemesis-Syndrom könnte in hohen Dosen der Switch von THC von einem Partial­agonisten in einen Antagonisten sein. Eine emetogene Wirkung zeigte auch der CB1-Antagonist Rimonabant, der unter dem Markennamen Acomplia® bis 2008 als Appetitzügler auf dem Markt war. Eine weitere Hypothese besagt, dass es infolge der jahrelangen Anwendung zu einer Desensitivierung und Downregulierung der CB1-Rezeptoren kommt. Pharmakokinetisch könnten die Akkumulation des lipophilen THC im Fettgewebe und die damit verbundene verlängerte Eliminationshalbwertszeit eine Rolle spielen.

Nicht zu vergessen ist, dass Cannabis sativa über 400 verschiedene Inhaltsstoffe enthält, von denen längst nicht alle charakterisiert sind. Das Hyperemesis-Syndrom wird auch unter Anwendung von synthetischen Cannabinoiden beobachtet. Ein Zusammenhang zwischen Sativex®, einem in Deutschland zugelassenen Fertigarzneimittel auf Cannabis-Basis, und der Diagnose Cannabis-Hyperemesis-Syndrom ist nicht bekannt. Im Vergleich zu gerauchtem Cannabis werden durch die oromukosale Anwendung von Sativex® geringere THC-Blutplasmaspiegel erzielt. Laut Hersteller treten Übelkeit und Erbrechen nicht häufiger auf als andere paradoxe Effekte wie gesteigerter und reduzierter Appetit.

Warum hilft heißes Wasser?

Eine heiße Dusche lindert sowohl die Übelkeit als auch die Schmerzen und verbessert den verminderten Appetit. Es wird angenommen, dass heißes Wasser das Cannabis-induzierte Ungleichgewicht im thermoregulierenden System im Hypothalamus korrigiert. In Ratten erhöhte THC die Temperatur in Kernkörper, Muskeln und Gehirn, was die Hauttemperatur durch periphere Vasokonstriktion reflektorisch senkte. Heißes Duschen regt die Durchblutung der Haut an. Die thermoregulatorischen Zentren im Hypothalamus können durch vagale Afferenzen stimuliert werden und so das Brechzen­trum beeinflussen.

Medizin mit Nebenwirkungen

Am 19. Januar 2017 steht das „Gesetz zur Änderung betäubungsmittelrechtlicher und anderer Vorschriften“ auf der Tagesordnung des Bundestages, das in Deutschland den Zugang zu Cannabis als Medizin erleichtern soll. Womöglich kann man etwas von den USA lernen: Kalifornien war 1996 der erste US-Bundesstaat, der die medizinische Anwendung von Cannabis erlaubte. Weitere 24 US-Bundesstaaten folgten. In einigen Regionen ist Cannabis mittlerweile auch für den Freizeitgebrauch freigegeben, beispielsweise in Colorado. Einer retrospektiven Studie zufolge tritt das Cannabis-Hyperemesis-Syndrom dort seither häufiger auf: Waren es 2009 noch 41 von 113.262 Notfällen, betraf es nach der Legalisierung 87 von 125.095 Patienten. Unklar ist, ob diese Entwicklung auf den gestiegenen Cannabis-Gebrauch oder die erhöhte Bereitwilligkeit zur Berichterstattung zurückzuführen ist. Cannabis generell freizugeben, macht eine Unterscheidung zwischen medizinischem und nicht-medizinischem Gebrauch nicht mehr nötig. Es wird jedoch eine erhebliche Überlappung der beiden Kon­sumformen vermutet.

Im deutschen Suchthilfesystem sind gesundheitliche Störungen durch Cannabis nach Alkohol der zweithäufigste Grund für eine ambulante oder stationäre Behandlung. Bonnet spricht im Zusammenhang mit der Legalisierung von Cannabis in den USA von einem groß angelegten Experiment mit der Bevölkerung, dessen Folgen erst Jahre später beurteilt werden können. Das betrifft vor allem den nicht-medizinischen Gebrauch. Ob das Hyperemesis-Syndrom auch unter medizinischer Anwendung von Cannabis auftritt und wir in Deutschland bei Inkrafttreten des neuen Gesetzes mit einem Anstieg der Fallzahlen rechnen müssen, lesen Sie im Interview "Abstinenz als einziger Ausweg". |

Quelle

Bonnet U. Clin Neuropharm 2016;39:53-54

Galli JA et al. Curr Drug Abuse Rev 2011;4(4):241-249

Kim HS et al. Acad Emerg Med 2015;22:694-699

Bonnet U et al. Dtsch Med Wochenschr 2014;1390:375-377

Darmani NA. Pharmaceuticals 2010;3:2163-2177

Hoch E et al. Dtsch Arztebl Int 2015;112:271-278

Bonnet U. Sucht 2016; 62(3):181-183

Sativex® oromucosal spray: summary of product characteristics, Almirall, Spain; 2010

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