Pro und Kontra

Cui bono Homöopathie?

Ein Relikt aus der Steinzeit der Medizin

Von Björn Lemmer | Vor über 200 Jahren veröffentliche Samuel Hahnemann sein Werk „Organon der rationellen Arzneikunde“ (seit 1818: „Organon der Heilkunst“), in dem er die grundlegenden Ideen der von ihm begründeten Homöopathie darlegte [1]. Seither streiten sich Anhänger und Gegner der Homöopathie, oder sie sind zumindest anderer Meinung über den Nutzen und die Risiken dieser Heilweise.

Das deutsche Arzneimittelgesetz räumt homöopathischen Arzneimitteln eine Sonderstellung ein. In § 4, Absatz 26 AMG ist definiert: „Homöopathisches Arzneimittel ist ein Arzneimittel, das nach einem im Europäischen Arzneibuch oder, in Ermangelung dessen, nach einem in den offiziell gebräuchlichen Pharmakopöen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union beschriebenen homöopathischen Zubereitungsverfahren hergestellt worden ist. Ein homöopathi­sches Arzneimittel kann auch mehrere Wirkstoffe enthalten.“ In § 38, Abs. 1 AMG ist festgehalten: „Einer Zulassung bedarf es nicht“, und in § 39, Abs. 1 AMG heißt es: „Die zuständige Bundesoberbehörde hat das homöopathische Arzneimittel zu registrieren und dem Antragsteller die Registrierungsnummer schriftlich zuzuteilen.“

Am Sonderstatus für homöopathische Arzneimittel ist bemerkenswert, dass bei ihnen die sonst übliche klinische Prüfung der Arzneimittel auf Wirksamkeit und Unbedenklichkeit entfällt.

Die Medizin vor 200 Jahren

An dieser Stelle soll der Streit nicht erneut wiedergegeben werden. Halten wir uns stattdessen die Bedingungen vor Augen, unter denen Hahnemann seine Hypothesen formulierte, und stellen wir ihnen die heutigen wissenschaftlichen Rahmenbedingungen entgegen, unter denen Arzneimittel entwickelt und klinisch geprüft werden.

Zu Hahnemanns Zeiten waren die Kenntnisse über Physiologie und die Grundlagen der Medizin noch sehr begrenzt. Das damalige Standardlehrbuch der Medizin „Die Kunst das menschliche Leben zu verlängern“ von Christoph Wilhelm Hufeland (1. Auflage 1797) enthielt vor allem Verhaltensmaßnahmen zu einem gesunden Leben, weniger Hinweise auf die Funktion von Organen oder die Wirkung von Arzneimitteln [2]. Hingegen wurden in dem etwa zeitgleichen „Handbuch der empirischen Physiologie“ von Johann Heinrich Autenrieth aus den Jahren 1801/02 schon detailliert die Organe und ihre angenommenen Funktionen beschrieben, jedoch ist die Sicht des Autors eher makroskopisch [3].

Kenntnisse über den Aufbau und die Funktion von Zellen, über ihre Substrukturen und ihren Stoffwechsel waren völlig unbekannt, ebenfalls die Kommunikation zwischen den Zellen, gar nicht zu reden von Transmitter- und Hormonsystemen, zellulären Abwehrstrukturen oder gar genetischen Faktoren oder molekularbiologischen Kenntnissen. Gleiches gilt für die Organe bzw. Organsysteme und auch für die Pharmakologie, d. h. für Pharmakokinetik und Pharmakodynamik: Physikalische und chemische Grundlagen einer Arzneitherapie oder entsprechende diagnostische Verfahren waren nicht bekannt.

Man muss sich dies alles vor Augen halten, wenn man die damalige Medizin und Diagnostik mit der heutigen, naturwissenschaftlich fundierten vergleicht. Dann kann man festhalten: Es ist die Steinzeit der Medizin, die mit der heutigen Medizin verglichen wird.

Die Homöopathie – ein Kind ihrer Zeit

In dem oben beschriebenen Rahmen entstanden die von Hahnemann in seinem „Organon“ dargelegten Vorstellungen und hypothetischen Begründungen über Arzneimittel, ihre Herstellung und ihre Anwendung. Es wird damit deutlich, dass auch den Ecksteinen seiner Lehre, dem Simile-Grundsatz („Ähnliches soll durch Ähnliches geheilt werden“) und der Potenzierung von Arzneimitteln (bis hin zum Nicht-Vorhandensein der Wirksubstanz), jegliche wissenschaftliche Basis fehlt. Vergleicht man die Hahnemannsche und die moderne Medizin, vergleicht man Stonehenge mit einem Universitätsklinikum.

Nicht wirksamer als ein Placebo

Bei einfachen, sogenannten banalen Erkrankungen (z. B. Erkältungen), bei schlecht oder kaum definierten Erkrankungen (z. B. neurovegetatives Syndrom) oder unklarer Definition des Therapieziels spielt es wahrscheinlich keine große Rolle, welche Medizin man verabreicht, denn dort sind die Selbstheilungskräfte des Körpers gefordert. Daher zeigen sog. Wirksamkeitsstudien mit Homöopathika in der Regel einen Effekt, der einen Placeboeffekt nicht übersteigt.

Bei schwerwiegenden oder lebensbedrohenden Erkrankungen oder in der Intensivmedizin wurden noch niemals Erfolge der Homöopathie nachgewiesen. Daher macht es aus meiner Sicht auch keinen Sinn, homöopathische Arzneimittel im Rahmen von sogenannten klinischen Studien zu prüfen (was viele Homöopathen sowieso ablehnen; dabei würden Welten verglichen, die nicht vergleichbar sind!).

Häufig wird von Homöopathen betont, ihre Heilmethode sei de facto ohne Nebenwirkungen. Das ist nicht korrekt: Auch die Nicht-Anwendung von wirksamen therapeutischen Verfahren der modernen Medizin zugunsten einer homöopathischen Therapie kann als schwere unerwünschte Wirkung klassifiziert werden.

Zudem halte ich es für nicht tragbar, dass auf der einen Seite extrem umfangreiche klinische Prüfungen für „normale“ Arzneimittel vorgeschrieben werden (zum Wohl des Patienten und der Gesellschaft), während die homöopathischen Arzneimittel ihren Sonderstatus behalten (Registrierung ohne klinische Prüfung) und sogar von einigen Krankenkassen opportunistischerweise erstattet werden.

Die Medizin von heute

Man muss sich einmal vor Augen halten, was die heutige Medizin mit ihren physikalischen, bildgebenden und molekularbiologischen Verfahren erreicht hat, es seien nur wenige Beispiele genannt:

  • Vor 50 Jahren noch undenkbar: Zahlreiche Tumoren im Kindesalter sind heilbar geworden.
  • Millionen Diabetiker können heutzutage ein fast normales Leben führen dank der Substitution von synthetischem Insulin.
  • Tausende Frauen können durch diagnostische Verfahren (bildgebende Verfahren, Molekularbiologie), verbesserte chirurgische Methoden und eine verbesserte individuali­sierte Therapie von ihrem Brusttumor geheilt werden.
  • Die Intensivmedizin kann in unglaublichem Maße Leben erhalten oder retten sowie das Risiko operativer Eingriffe verringern.
  • Diagnostische und chirurgische Verfahren können bei Kindern Miss- oder Fehlbildungen am Herzen beseitigen und ihnen ein normales Leben ermöglichen.
  • Impfprogramme haben Risiken und Folgeschäden von sog. Kinderkrankheiten fast beseitigt. Hier sei angemerkt, dass gerade zahlreiche Homöopathen Impfungen ablehnen und dadurch zu einem Wieder­aufflammen dieser Erkrankungen beitragen.
  • Die Transplantationsmedizin hat Tausenden Patienten mit Organschäden ein Weiterleben ermöglicht.

Bringschuld der Medizin

Diese wenigen Hinweise machen deutlich, dass die Homöopathie bei ernsthaften, schwerwiegenden Erkrankungen keine Alternative zur sog. Schulmedizin darstellt.

Betrachtet man die heutige naturwissenschaftlich geprägte Medizin als die wahre Medizin, sollte jedoch bedacht werden, dass sie auch eine bedeutsame Bringschuld hat: Die heutigen Verfahren zur Diagnostik und Therapie von Erkrankungen sind so kompliziert, dass der Laie sie in der ­Regel nicht verstehen kann. Es ist somit unabdingbar, dem Patienten die geplanten Verfahren in ausführlichen Gesprächen zu erläutern und die Alternativen gezielt darzulegen; das ärztliche Personal muss mehr Empathie zeigen, es muss einfühlsamer sein und den Patienten in seiner Situation ­wesentlich besser in das diagnostisch-therapeutische Verfahren einbeziehen, als es allgemein geschieht.

Auch Arzneimittel sollten nicht ohne ausführliche Information und Beratung verordnet und abgegeben werden, sonst ist der Patient dem Beipackzettel mit seinem häufigen ­Schreckensszenarium an unerwünschten Arzneimittelwirkungen und Gefahren hilflos ausgesetzt.

Fazit: Die Homöopathie ist keine Alternative zur naturwissenschaftlich geprägten Medizin. Bei allem wissenschaftlich-technischen Fortschritt muss aber der Patient im Mittelpunkt des ärztlichen Handelns stehen. |

Literatur

[1] Hahnemann S. Organon der rationellen Heilkunde. Dresden: Arnoldsche Buchhandlung; 1810

[2] Hufeland CW. Die Kunst das menschliche Leben zu verlängern. Jena: Akademische Buchhandlung; 1797

[3] Autenrieth JH. Handbuch der empirischen Physiologie, Teil 1–3. Tübingen: Jakob Friedrich Heerbrandt; 1801–1802

Autor

Prof. em. Dr. med. Dr. h.c. Björn Lemmer

Institut für Experimentelle und Klinische Pharmakologie und Toxikologie, Medizinische Fakultät Mannheim der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Maybachstr. 14, 68169 Mannheim

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