- DAZ.online
- DAZ / AZ
- DAZ 42/2016
- Ein Mehr für die ...
Recht
Ein Mehr für die Patientensicherheit
Revision des Medizinprodukterechts auf europäischer Ebene
Vorgeschichte
Bereits im September 2012 legte die Europäische Kommission einen Entwurf für eine EU-Verordnung vor, die den gesamten Rechtsrahmen für Medizinprodukte neu regulieren soll. Dieses Vorhaben stand schon seit längerer Zeit auf der Agenda, wurde aber stark befeuert vom Skandal um verunreinigte Brustimplantate des französischen Herstellers Poly Implant Prothèse (PIP). Der Hersteller hatte in krimineller Vorgehensweise medizinisch indiziertes Silikon gegen Industrie-Silikon ausgetauscht, das die äußere Hülle des Implantats schwächen und ins Körpergewebe diffundieren kann. Tausenden Frauen wurde deshalb zur Explantation geraten. Vor allem vor diesem Hintergrund wurde die Revision des Medizinprodukterechts zu einem der langwierigsten und komplexesten EU-Gesetzgebungsverfahren, das die Gesundheitsbranche jemals erfahren hat.
Medizinprodukte: eine große Vielfalt an Produkten
Die Kategorie „Medizinprodukte“ ist sehr vielfältig. Ihre Bandbreite reicht vom einfachen Mundspatel zur Inspektion des Rachenbereichs bis hin zur hochkomplexen Ausstattung für Operationssäle. Auch Apotheker kommen auf verschiedene Weise mit Medizinprodukten in Berührung. So finden sich in der Apotheke Produkte zur Versorgung von Verletzungen (Pflaster, Binden, Bandagen, Wundauflagen), zur Hilfe bei eingeschränkter Beweglichkeit (Gehhilfen, Rollstühle, Sitz- und Aufstehhilfen für die Badewanne, WC-Aufsätze oder Greifhilfen) oder zur Versorgung bei Diabetes (Blutzuckermessgeräte inklusive Zubehör wie Stechhilfen, Teststreifen) oder bei Venenschwäche (starke Kompressionsstrümpfe und zugehörige Anziehhilfen).
Auch sogenannte stoffliche Medizinprodukte werden vielfach über die Apotheke vertrieben. Sie werden in der allgemeinen Wahrnehmung nicht mit Medizinprodukten, sondern mit Arzneimitteln in Verbindung gebracht, da ihre Darreichungsform oder Aufmachung eher diesen Produkten ähneln. Jedoch unterscheiden sie sich von den Arzneimitteln in einem entscheidenden Punkt – ihrer Wirkweise. Anders als die Arzneimittel erreichen sie ihre medizinische Zweckbestimmung nicht auf pharmakologischem, immunologischem oder metabolischem Weg, weshalb sie als Medizinprodukte einzuordnen sind. Dazu zählen beispielsweise Produkte zur Behandlung der Obstipation (z. B. Macrogol), von Blähungen (z. B. Simethicon), Augentropfen zur Befeuchtung der Augen, Lutschpastillen mit Isländisch Moos oder Nasenspray auf der Basis von Meerwasser.
Aktueller Rechtsrahmen gekennzeichnet durch den „New Approach“
Bei all der Vielfalt und den zwangsläufig großen Unterschieden der Produkte, haben diese doch eine Gemeinsamkeit: das CE-Kennzeichen. Das „CE“ kennzeichnet das jeweilige Medizinprodukt als verkehrsfähig und bestätigt die Konformität mit den sogenannten „Grundlegenden Anforderungen“ aus den gesetzlichen Vorgaben. Bevor ein neues Medizinprodukt auf den Markt gebracht werden kann, bedarf es der Aufbringung eines CE-Kennzeichens. Mit diesem erklärt der Hersteller, dass sein Produkt den Grundlegenden Anforderungen der anzuwendenden EG-Richtlinie entspricht. Die Einhaltung dieser Grundlegenden Anforderungen gilt als Nachweis der Funktionsfähigkeit und Leistungsfähigkeit des Produktes, das also der Patientensicherheit genügt.
Die Einführung des CE-Kennzeichens als Voraussetzung für die Verkehrsfähigkeit eines Produkts in Europa beruht auf dem sogenannten New Approach, mit dem 1985 der Grundgedanke der Marktharmonisierung und der Abbau von Handelshemmnissen („gegenseitige Anerkennung“) für insgesamt 20 Produktgruppen – darunter die Medizinprodukte – innerhalb der EU verwirklicht wurde. In den entsprechenden EG-Richtlinien, die die Voraussetzungen für den Marktzugang definieren, sind die zu erfüllenden Pflichten in allgemein gehaltenen „Grundlegenden Anforderungen“ zum Schutz der öffentlichen Interessen (Sicherheit, Gesundheits-, Arbeits-, Verbraucher- und Umweltschutz) festgelegt. Sie bilden den zwingend einzuhaltenden Rechtsrahmen für die Produktherstellung und die Produktbeschaffenheit.
Für die konkrete Realisierung der Grundlegenden Anforderungen werden die technischen Einzelheiten zum Herstellungsprozess (z. T. produktspezifisch) in „Harmonisierten Normen“ von den EU-Normungsinstitutionen CEN (Comité Européen de Normalisation) und CENELEC (Comité Européen de Normalisation Electronique) definiert. Ein Hersteller kann zwar von diesen Vorgaben abweichen, muss dies aber dann begründen können. Denn dann muss er positiv unter Beweis stellen, dass er die grundlegenden Anforderungen einhält. Diese Vermutung ist bereits gegeben, wenn er konkret aufgrund der Vorgaben der Normen handelt. Die Möglichkeit der Abweichung von Normen gewährleistet jedoch die notwendige Flexibilität, um auf den technischen Fortschritt reagieren zu können. Denn eine zu detaillierte Regelung der technischen Voraussetzungen hatte in der Vergangenheit dazu geführt, dass die Richtlinien ständig veraltet waren, weil sich der Stand der Technik in diesen hochinnovativen Branchen fortlaufend ändert. Harmonisierte Normen können hingegen schneller aktualisiert werden, sodass neue Erkenntnisse alsbald eine europaweite Umsetzung erfahren, was insbesondere dem Patientenschutz entgegenkommt.
Konformitätsbewertung – das Zulassungsverfahren für Medizinprodukte
Um das CE-Kennzeichen aufbringen zu dürfen, muss das Medizinprodukt im Rahmen eines Konformitätsbewertungsverfahrens seine Übereinstimmung mit den dargestellten Anforderungen und seine Sicherheit in der Anwendung am Patienten belegen. Je nach Art des Medizinprodukts sind hierzu unterschiedliche Verfahren und Voraussetzungen vorgeschrieben, welche in den einzelnen Richtlinien für Medizinprodukte (93/42/EG), aktive implantierbare medizinische Geräte (93/385/EWG) und In-vitro-Diagnostika (98/79/EG) in Anforderungsmodulen niedergelegt sind. Diese vorgeschriebenen Prüfmodule sollen die Richtlinienkonformität der Medizinprodukte durch einheitliche Verfahren sicherstellen und durch eine CE-Kennzeichnung auf den Produkten für jeden erkennbar machen.
Die Voraussetzungen unterscheiden und erhöhen sich mit dem vom Produkt ausgehenden Gefahrenpotenzial, sodass ein Latexhandschuh einem anderen Anforderungsprofil unterliegt als ein Herzschrittmacher. Zur Differenzierung sind Medizinprodukte in vier Risikoklassen unterteilt (ansteigend Klasse I, IIa, IIb und III). Die Klassifizierungssystematik beruht auf der Verletzbarkeit des Körpers und berücksichtigt die potenziellen Risiken, die mit der Zweckbestimmung, sprich der Anwendung des Produktes, verbunden sind. So ist etwa ein Macrogol-haltiges Medizinprodukt derzeit in Risikoklasse IIb klassifiziert, Nasentropfen auf Meerwasserbasis sind als stoffliches Medizinprodukt der Klasse I im Verkehr, und ein implantierbarer Herzschrittmacher ist in die höchste Risikoklasse III eingestuft.
Benannte Stellen ersetzen die Zulassungsbehörden
Handelt es sich bei dem Medizinprodukt um eines der niedrigsten Risikoklasse I, so ist der Hersteller allein für das Einhalten der gesetzlichen Anforderungen im Vorfeld des Inverkehrbringens verantwortlich. Diese sogenannte Selbstzertifizierung ist für viele schwer nachvollziehbar. Jedoch ist sie der Tatsache geschuldet, dass es sich um Produkte handelt, die nur ein verschwindend geringes Risikopotenzial haben (etwa der o. g. Mundspatel). Zudem gibt es auch hier eine staatliche Kontrolle durch die Überwachungsbehörden.
Bei Medizinprodukten der Klassen IIa bis III muss der Hersteller mit einer Benannten Stelle zusammenarbeiten. Diese privatrechtlichen Organisationen sind unabhängige Zertifizierungsstellen und werden von der nationalen Akkreditierungsstelle zur Prüfung von Medizinprodukten benannt. Im Rahmen des Akkreditierungsprozesses müssen sie ihre Fachkompetenz zur Aufgabenerfüllung nachweisen.
Je nach Risikostufe prüfen die Benannten Stellen sodann nicht nur die Übereinstimmung des Produkts mit den Grundlegenden Anforderungen und das Konformitätsbewertungsverfahren, sondern auch das zu zertifizierende Qualitätsmanagementsystem (QMS) des Herstellers, die technische Dokumentation, das Produktbeobachtungs- und Meldesystem, und gegebenenfalls führen sie Chargenprüfungen durch.
Die Benannten Stellen selbst unterliegen der Überwachung durch die Zentralstellen der Länder für Gesundheitsschutz bei Arzneimitteln und Medizinprodukten (ZLG) sowie für Sicherheitstechnik (ZLS).
Europäische Standards bei der Notifizierung
Trotz der sachlichen Gründe für seine Anwendung auf den Medizinprodukte-Rechtsrahmen stand der New Approach – vor allem die Hinzuziehung einer Benannten Stelle – in starker Kritik, und lange war unklar, ob diese Systematik das Gesetzgebungsverfahren „überleben“ würde. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Qualität der Arbeit von Benannten Stellen europaweit als sehr uneinheitlich erachtet wurde, wurden die Forderungen nach einer staatlichen Zulassung durch eine Behörde – vergleichbar derer bei Arzneimitteln – laut. Sehr früh zeichnete sich jedoch ab, dass das Gesetzgebungsverfahren langwieriger werden würde als erwartet. Deshalb erließ die Europäische Kommission in ihrem „Joint Plan for Immediate Action“ noch während des laufenden Gesetzgebungsverfahrens im Jahr 2013 weitere Rechtsakte, die als unmittelbare Reaktion auf den PIP-Skandal zu verstehen sind. Im Fokus stand hier die Arbeit der Benannten Stellen.
Benannte Stellen werden nunmehr für ihre eigene Notifizierung durch sogenannte „Joint Assessment Teams“ auditiert; die Teams bestehen aus
- Vertretern der benennenden Behörde des Mitgliedstaates, in dem die Benannte Stelle niedergelassen ist,
- Vertretern der benennenden Behörden zweier weiterer Mitgliedstaaten sowie
- einem Vertreter der EU-Kommission.
Die nationale Bewertung wird damit auf ein europäisches Niveau gehoben, und die Benennung erfolgt nach konkreten Vorgaben. Ergebnis der Reform: Etwa 25 Prozent aller Benannten Stellen europaweit mussten ihre Tätigkeit bislang einstellen, weil sie das „Joint Assessment“ nicht bestanden haben.
Steigende Anforderungen an die Hersteller
Auf die verbliebenen Benannten Stellen werden durch die Revision des Medizinprodukterechts zwar weitere höhere Anforderungen zukommen, doch stehen sie hier nicht allein im Fokus: Auch die Hersteller werden mit steigenden Anforderungen zu rechnen haben. So werden etwa die Vorgaben für die Klinische Bewertung, die der Hersteller – auch bereits aufgrund geltender Rechtslage – erstellen muss, bevor er ein Medizinprodukt in den Verkehr bringen darf, erheblich verschärft. Was zum einen sicherlich als Verbesserung der Patientensicherheit zu werten ist, kann der Patientenversorgung in Einzelfällen (?) sogar schaden. Dazu ein Beispiel:
Der Hersteller eines Nasensprays auf Meerwasserbasis muss zukünftig wahrscheinlich eigene klinische Daten vorlegen, um das Produkt weiterhin in den Verkehr bringen zu können. Weil die Anforderungen an die Vergleichbarkeit mit einem Referenzprodukt so hoch sein werden, dass dieses Produkt nahezu identisch sein muss, kann der Hersteller künftig faktisch nicht mehr den bislang möglichen „Literaturweg“ wählen, sondern muss eigene klinische Prüfungen vorlegen. Eine solche Prüfung bringt einen hohen Zeit- und Kostenaufwand mit sich, einmal ganz abgesehen davon, ob eine Ethik-Kommission ihr die Genehmigung erteilen wird. Schließlich sind Produkte wie ein Meerwasser-Nasenspray bereits seit Jahrzehnten ohne nennenswerte Vorkommnisse im Verkehr. Hersteller werden also genau überprüfen, wo es weiterhin wirtschaftlich ist, entsprechende Produkte zu vermarkten.
Revision vor der Revision?
Das Medizinprodukterecht ist – anders als das Arzneimittelrecht – noch nicht den Kinderschuhen entwachsen. Derzeit erfährt es die erste und zugleich eine grundlegende Revision, durch die man alle (vermeintlichen) Schwachstellen beseitigen will. Der europäische Gesetzgeber renoviert das Haus nicht, sondern er reißt es ein und errichtet ein neues. Dass er die Grundmauern des „New Approach“ stehen lässt, ist positiv zu verzeichnen, denn nur dieser wird der innovativen Medizintechnik-Branche gerecht. Dass er die Patientensicherheit verbessern will, kann nur in unser aller Sinne sein, da jeder hin und wieder ein Medizinprodukt benötigt.
Sicherlich werden viele neue Anforderungen den Rechtsrahmen für Medizinprodukte weiter verbessern und alle Marktbeteiligten dazu anhalten, noch bessere Arbeit zu leisten. Doch die Fülle der neuen Vorgaben wird es den Benannten Stellen und Herstellern nicht leicht machen, diese bis zum Ende der Übergangsfristen vollständig umzusetzen. Außerdem wird es Nachbesserungsbedarf geben: Vorgaben, die nicht „zu Ende gedacht“ wurden, oder solche, die einen Mehraufwand ohne ein Mehr an Sicherheit bedeuten, müssen angepasst werden.
So steht zu erwarten, dass das derzeitige Gesetzgebungsverfahren eine Revision vor der Revision darstellt. Andernfalls könnten die neuen Anforderungen zur Überforderung werden. Und damit wäre auch den Patienten nicht gedient! |
0 Kommentare
Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.