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Politik
Die schleichende Deregulierung
Eine Übersicht über das italienische Apothekenwesen
Ein striktes Fremd- und Mehrbesitzverbot, eine engmaschige Bedarfsplanung, keine Boni (auch nicht auf OTC-Präparate) sowie alle Arzneimittel nur aus der Apotheke – so sah der italienische Apothekenmarkt noch Anfang der 1990er Jahre aus. Doch schon damals deuteten sich sowohl im Markt als auch in der Politik erste Tendenzen an, die das bewährte Apothekensystem infrage stellten. Denn schon Mitte der 1990er Jahre gab es in Europa erste internationale Zusammenschlüsse von Großhändlern, die zumeist von den großen Pharmahandelskonzernen gesteuert waren. In Italien schloss sich beispielsweise der von Stefano Pessina und seiner Lebensgefährtin Ornella Barra aufgebaute italienische Großhändler Alleanza Salute mit dem britischen Großhändler UniChem zusammen – es entstand Alliance UniChem, später wurde aus dem Unternehmen Alliance Healthcare, dann Alliance Boots, heute heißt der Konzern bekannterweise Walgreens Boots Alliance und ist in 25 Ländern aktiv.
Die Krankenversicherung in Italien
Ähnlich wie im britischen Gesundheitssystem ist auch die italienische Krankenversicherung über Steuergelder finanziert. Allerdings stammt in Italien nur ein Drittel der Gesundheits-Finanzierung aus öffentlichen Mitteln. Weitere 40 Prozent der Kosten übernehmen die Arbeitgeber, die regelmäßig Versicherungsbeiträge für ihre Angestellten abführen müssen. Die restlichen Gesundheitskosten müssen die Arbeitnehmer über die verschiedensten Zuzahlungen tragen. Es gibt einen nationalen Gesundheitsdienst, den Servizio Sanitario Nazionale (SSN), der die Gelder sammelt und national gültige Verträge mit den Leistungserbringern aushandelt. Auch in Italien werden die meisten Verhandlungen mit Leistungserbringern aber auf regionaler Ebene geführt. Dort heißen die Ableger des SSN Aziende Sanitarie Locali (ASL). In der Vergangenheit ist es insbesondere in Süditalien immer wieder zur Zahlungsunfähigkeit der regionalen Gesundheitsdienste gekommen. Oftmals konnten die ASL ihre Rechnungen bei den Apothekern nicht vollständig oder gar nicht begleichen. Die Pharmazeuten in Süditalien sind daher meistens hochverschuldet und nehmen immer wieder Kredite auf, um ihre Bestellungen beim Großhandel zu finanzieren.
Kommunale Apotheken werden privatisiert
1999 sorgte die italienische Politik dann für einen ersten Schritt in Richtung Deregulierung. Viele italienische Kommunen entschieden sich damals dazu, einen ganz besonderen Teil des italienischen Apothekenmarktes zu privatisieren: die „Farmacia communale“ (Gemeindeapotheke).
Von diesen, von den Kommunen betriebenen Apotheken gab es damals mehr als 1300, insbesondere in Mittel- und Norditalien. Die ersten Gemeindeapotheken wurden von den Städten und Kommunen bereits um das Jahr 900 gegründet, um die medizinische Versorgung der Armen zu sichern und die öffentliche Gesundheit zu stärken.
Nach den beiden Weltkriegen eröffneten die Kommunen immer mehr Apotheken, um die Versorgung eigenhändig zu stärken. Die Farmacie communali waren wie gemacht für eine Übernahme durch die zu dieser Zeit stark expandierenden Pharmahändler Celesio, Alliance UniChem und Phoenix: Schließlich hatten die Kommunen, um die Apotheken besser organisieren zu können, bereits selbst kettenähnliche Strukturen entwickelt. Beispielsweise waren Zwischenfirmen gegründet worden, die die Geschäfte der Apotheken abwickelten. 1999 war es dann der Bürgermeister von Bologna, der dem finanziellen Lockruf des Stuttgarter Pharmahändlers Gehe nicht mehr widerstehen konnte. Die Gehe sicherte sich damals 36 Apotheken in und um die norditalienische Großstadt. Nur wenige Zeit später stieg auch Phoenix ins Geschäft mit den Gemeindeapotheken ein. Heute gibt es fast in jeder nord- und mittelitalienischen Stadt solche privatisierte Apotheken.
Neue Konkurrenz entsteht
Auf diese erste folgte schon bald eine Reihe weiterer politischer Entscheidungen, die den Apothekenmarkt nachhaltig verändern sollten. 2005 griff die italienische Regierung erstmals in die Preisbindung ein und erlaubte es Apothekern, Boni von bis zu 20 Prozent auf nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel (OTC) zu gewähren. Damals boykottierten die Apotheker das Gesetz aber und einigten sich darauf, die Preise nicht abzusenken. Nur ein Jahr später wurde mit dem „Bersani-Gesetz“ (benannt nach dem damaligen Minister für wirtschaftliche Entwicklung Pier Luigi Bersani) diese 20-Prozent-Grenze aber ganz gekippt. Seitdem sind Boni jeglicher Art in Italien Gang und Gäbe. Noch viel gravierendere Auswirkungen auf die Apotheker hatte allerdings die Neuregelung, dass OTC-Arzneimittel auch außerhalb von Apotheken in Einkaufsstraßen und -zentren verkauft werden dürfen. Einzige Bedingung: Ein Apotheker muss anwesend sein.
Mit dieser Entscheidung gründete sich im italienischen Gesundheitswesen ein komplett neuer Industriezweig: Innerhalb weniger Monate eröffneten insbesondere in den Zentren großer Städte hunderte OTC-Shops („Parafarmacia“). Doch Bersani hatte 2006 noch weitere Überraschungen für die Apotheker bereit: Er hob das Mehrbesitzverbot auf. Seitdem dürfen Apotheker insgesamt vier Apotheken besitzen und sich auch in Gesellschaften zusammenschließen, um neue Standorte zu eröffnen.
Die Preisbindung wird gelockert
2007 fiel dann die Preisbindung für alle Arzneimittel, die nicht der Rezeptpflicht unterliegen. Im gleichen Jahr erlaubte es der Gesetzgeber auch, für fast alle Produkte im Apothekensortiment – Rx-Arzneimittel inklusive – Werbung zu betreiben. Vier Jahre später entließ die Arzneimittelbehörde AIFA eine ganze Reihe von Arzneimitteln aus der Rezeptpflicht und ermöglichte es den OTC-Shops somit, ihr Sortiment zu erweitern. Im gleichen Jahr folgte der erste Angriff auf die sogenannte „Fascia C“. Zu dieser Medikamentenliste gehören alle Präparate, die zwar der Rezeptpflicht unterliegen, aber nicht erstattungsfähig sind. In Italien sind das fast alle Antibiotika, Analgetika, aber auch starke Beruhigungsmittel, etwa Lorazepam. Der Gesetzgeber erlaubte es erstmals, für solche Arzneimittel Boni anzubieten.
In dieser Zeit musste sich der Apothekenmarkt nicht nur gegen die politischen Kräfte wehren, sondern auch gegen das Einwirken der großen Pharmahandelskonzerne. Gegen die italienische Apothekenregulierung wurde gleich mehrfach Klage beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) eingereicht, auch der Stuttgarter Pharmahändler Celesio beschwerte sich über Niederlassungsbeschränkungen. Angegriffen wurde auch ein Vertikalisierungsverbot, das der italienische Gesetzgeber 2005 erlassen hatte. Demnach durften zwischen Apothekenbetreibern und Großhändlern keine Interessenskonflikte mehr entstehen. Wie im Fall „Deutschland“ bestätigte der EuGH aber im Jahr 2009 sowohl die italienische Bedarfsplanung als auch das Fremdbesitzverbot.
Die Technokraten deregulieren weiter
Der Abgang Silvio Berlusconis als Ministerpräsident im Herbst 2011 hinterließ in Italien ein politisches Chaos: Im Parlament gab es keine Mehrheit, die einen Nachfolger hätten wählen können. Staatspräsident Giorgio Napolitano beauftragte daher den Wirtschaftsprofessor Mario Monti mit der Bildung einer Zwischenregierung. Monti etablierte kurzerhand ein Kabinett aus politisch nicht erfahrenen Fachleuten. Das sogenannte Technokraten-Kabinett sollte mit dem Gesetz „Wachse, Italien!“ für eine der umfangreichsten Deregulierungen der italienischen Geschichte sorgen.
Auch der Apothekenmarkt war betroffen. Ursprünglich wollte Monti das Fremd- und Mehrbesitzverbot komplett kippen, scheiterte damit jedoch im Parlament. Auch seinen Wunsch, die „Fascia C“-Präparate für den Verkauf in OTC-Shops freizugeben, musste er begraben. Durchsetzen konnte er allerdings eine weitreichende Aufweichung der Bedarfsplanung. In hoch frequentierten Bereichen (Flughäfen, Einkaufszentren, Bahnhöfe, Häfen, etc.) wurde die Bedarfsplanung sogar ganz aufgehoben, um die Gründung neuer Apotheken zu provozieren. Jegliche Boni-Verbote im Rx-Bereich hob Monti zudem auf und liberalisierte auch die Öffnungszeiten der Apotheken. Seit 2012 dürfen die OTC-Shops außerdem auch Tier-Arzneimittel verkaufen und einige Rezepturen herstellen.
Die wirtschaftlichen Folgen
Natürlich hatten insbesondere die Deregulierungen im Bereich der Bedarfsplanung Auswirkungen auf die Apothekenzahl. Zwischen 1975 und 2015 ist die Anzahl italienischer Apotheken um 37,1 Prozent angestiegen (von 13.271 auf 18.201), wobei es im gleichen Zeitraum einen Bevölkerungsanstieg von etwa 10 Prozent gab. In Europa liegt Italien neben Deutschland aber immer noch etwa im Durchschnitt. Die schrittweise Ausgliederung des OTC-Sortimentes hatte zumindest bislang keine großen finanziellen Auswirkungen auf die Apotheker. Der durchschnittliche Umsatz ist seit 2010 nur leicht gesunken und lag 2014 bei rund 1,18 Millionen Euro. Beim Gewinn konnte die Durchschnitts-Apotheke in Italien sogar rund 1000 Euro im Jahr zulegen.
Trotz der schleichenden Marktöffnung hat der Gesetzgeber in Italien aber auch positive Entwicklungen im Apothekenmarkt angestoßen. Der italienischen Regierung war schon immer sehr viel an einer starken Landversorgung gelegen. Italien ist von den Zahlen her zwar dicht besiedelt, insbesondere im Norden und in Mittelitalien sind viele Regionen in den Bergen aber infrastrukturell schlecht erschlossen. Versorgt eine Apotheke einen Bezirk mit weniger als 5000 Einwohnern, gilt sie deshalb offiziell als Landapotheke und hat das Recht auf zusätzliche Unterstützungsgelder der Bundesländer (Regionen). Der Apothekerverband hat in den vergangenen Jahren zudem einen Fonds für Apotheken mit einem Umsatz von weniger als 250.000 Euro aufgebaut. Im vergangenen Jahr erhielten 175 Apotheken finanzielle Hilfen aus diesem Fonds. Landapotheken versorgen in Italien fast ein Fünftel der Gesamtbevölkerung.
Heute Teil der Primärversorgung
In vielen ländlichen Regionen Italiens ist die ärztliche Versorgung zudem ausgedünnt. Oft betreibt ein niedergelassener Mediziner mehrere Ambulatorien in verschiedenen Ortschaften, ist in jeder aber nur wenige Stunden pro Woche anwesend. 2009 hat der Gesetzgeber den Apothekern daher wichtige Aufgaben der Primärversorgung übertragen. So können Patienten bei ihren Apothekern beispielsweise Facharzt- und Krankenhaustermine vereinbaren. Die Pharmazeuten dürfen Blutzucker-Tests anbieten, im Auftrag der Ärzte regelmäßig den Blutdruck überprüfen und andere Präventionsleistungen durchführen. In vielen Regionen hakt es aber noch an der Umsetzung, weil sich die dortigen Apothekerverbände mit den Regionen und den Krankenversicherern nicht auf eine Vergütung einigen können. Auch die Digitalisierung des Gesundheitswesens und die Einbindung der Apotheker ist in Italien weiter fortgeschritten als in Deutschland: Mehr als 80 Prozent aller Verordnungen werden in Italien elektronisch abgewickelt. Den gesamten Digitalisierungsprozess hat der Apothekerverband mit eigenen Subunternehmen begleitet und organisiert.
Italiens Apotheken in Zahlen
- In Italien gab es im vergangenen Jahr 18.201 Apotheken
- In jeder Nacht haben etwa 1500 Apotheken ihre Pforten während eines Notdienstes geöffnet
- Zu den Dienstleistungen neben der Packungsabgabe in der Apotheke gehören: Wundkontrollen, Urintests, Ernährungsberatungen, Blutdruck-Screenings, Einnahme aller Zuzahlungen für den Gesundheitsdienst, Terminservice für Kliniken und Arztpraxen
- 1,5 Millionen Italiener nehmen regelmäßig Präventionsmaßnahmen in einer Apotheke wahr
- Mit einer Apotheke auf ca. 3340 Einwohner liegt Italien bei der Apothekendichte im europäischen Mittelfeld
- Mehr als 6000 Apotheken profitieren von Extra-Zahlungen, weil sie als Landapotheken gelten.
- In Italien arbeiten rund 50.000 Pharmazeuten in öffentlichen Apotheken, das sind im Schnitt 2,8 Pharmazeuten pro Apotheke
- Der durchschnittliche Umsatz einer Apotheke beträgt etwa 1,19 Millionen Euro
- Für die Packungsabgabe erhalten Apotheker eine prozentuale Marge, die je nach Höhe des Arzneimittelpreises zwischen 6 und 21,25 Prozent variiert.
Die nächste Welle droht
Schon in Kürze droht den Apothekern aber der nächste Schritt auf der Deregulierungs-Leiter. Das Parlament steht kurz vor dem Beschluss des „Konkurrenz-Gesetzes“, mit dem das Fremdbesitzverbot nach jetzigem Stand fallen würde. Auch das Mehrbesitzverbot steht auf der Streichliste. Allerdings sollen die Apothekenketten in jeder Region maximal 20 Prozent der Apotheken kontrollieren dürfen. Ganz ungebremst würden sich Celesio, Walgreens Boots Alliance, Phoenix und Co. aber nicht verbreiten können. Denn jede Apotheke muss sich weiterhin einer Bedarfsprüfung unterziehen. Die Wettbewerbsbehörde, die sich in vergangenen Jahren mehrfach für eine Deregulierung im Apothekenmarkt stark gemacht hat, wird beauftragt, den Einfluss der Ketten kritisch unter die Lupe zu nehmen.
Dabei hätte es noch schlimmer kommen können für die Pharmazeuten: In einigen Änderungsanträgen ging es darum, den OTC-Shops und In-Store-Apotheken in Supermärkten zu ermöglichen, auch fast alle Rx-Arzneimittel zu verkaufen. Doch im letzten, beschlussfähigen Gesetzentwurf ist davon keine Rede mehr. Vielleicht liegt es auch an dieser Abmilderung des Gesetzes, dass der Apothekerverband in den vergangenen Monaten kaum noch gegen die Deregulierungspläne protestierte. Hört man sich in der Apothekerschaft um, ist die neue Ketten-Regelung gar nicht das am meisten gefürchtete Szenario. Vielmehr wollen die Apotheker die Bedarfsplanung nicht verlieren. Denn wenn auch die strengen Niederlassungskriterien fallen, sind den Kettenkonzernen Tür und Tor geöffnet.
Angst bereitet den Apothekern jedoch eine fast in Vergessenheit geratene Regelung aus dem Jahr 1968, die die Gemeindeapotheken betrifft. Demnach haben die Kommunen noch vor den Apothekern ein Recht auf die Eröffnung neuer Apotheken. Wenn die Arzneimittelbehörde in der Bedarfsplanung also einen „offenen“ Apotheken-Sitz erkennt, kann rein theoretisch die Kommune als erstes zuschlagen. In der Vergangenheit ist das selten passiert, weil die Kommunen nicht genügend Geld hatten, um zu investieren. Fällt nun das Fremdbesitzverbot komplett, könnten die Kommunen massenweise ihr Recht auf Apothekengründung ausüben und die Apotheken nach ein paar Jahren an die Kettenkonzerne gewinnbringend verkaufen. Die Kommunen könnten sich so die Staatskasse aufbessern und die Konzerne hätten einen neuen Standort ohne Ausschreibungsteilnahme gewonnen. |
1 Kommentar
Noch ein Unterschied !
von gabriela aures am 06.10.2016 um 18:38 Uhr
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