- DAZ.online
- DAZ / AZ
- DAZ 4/2016
- Schlechter schlafen mit ...
Arzneimittel und Therapie
Schlechter schlafen mit Methylphenidat
Neue Daten bestätigen Wirksamkeit und Nebenwirkungen von Stimulanzien
Methylphenidat ist bei Kindern und Jugendlichen mit ADHS der am häufigsten verordnete Wirkstoff. Trotz zahlreicher Studien zu dessen Wirksamkeit und Sicherheit fehlte bisher ein umfassender, systematischer Überblick über alle Erkenntnisse. Eine dänische Arbeitsgruppe hat kürzlich einen Cochrane-Review veröffentlicht, in dem 185 Studien des Zeitraums 1981 bis 2014 analysiert wurden. Die 12.245 Teilnehmer – Kinder und Jugendliche zwischen drei und 18 Jahren – hatten Methylphenidat durchschnittlich 75 Tage lang eingenommen. Das Durchschnittsalter über alle Studien lag bei rund zehn Jahren, das Verhältnis Jungen zu Mädchen betrug 5 : 1. Es handelte sich um 38 Studien mit Parallelgruppen-Design und 147 Studien mit Cross-over-Design. Die Kontrollgruppen erhielten entweder Placebo (175 Studien) oder keine Intervention (10 Studien).
Die Hauptergebnisse zur Wirksamkeit von Methylphenidat bezüglich ADHS-Symptome, Verhaltensauffälligkeiten und Lebensqualität lassen sich wie folgt zusammenfassen:
- In 19 Studien mit 1698 Teilnehmern reduzierte Methylphenidat die von Lehrern auf der ADHD Rating Scale (0 bis 72 Punkte) bewerteten ADHS-Symptome durchschnittlich um 9,6 Punkte (95%‑Konfidenzintervall -13,75 bis -6,38), wobei ein Unterschied von mindestens 6,6 Punkten als klinisch relevant gilt.
- In fünf Studien mit 668 Teilnehmern reduzierte Methylphenidat die von Lehrern bewerteten Verhaltensauffälligkeiten um 0,87 Punkte (95%‑KI -1,04 bis -0,71).
- In drei Studien mit 514 Teilnehmern besserte sich unter Methylphenidat die von den Eltern beurteilte Lebensqualität im Child Health Questionnaire (CHQ, von 0 bis 100 Punkte) im Mittel um 8 Punkte, wobei eine Verbesserung um mindestens 7 Punkte als klinisch relevant gilt.
Diese Ergebnisse legen nahe, dass Methylphenidat die ADHS-Hauptsymptome – Hyperaktivität, Impulsivität und mangelnde Konzentrationsfähigkeit – verringern kann, so die Schlussfolgerung der Autoren. Außerdem verbessern sich unter der Medikation das allgemeine Verhalten und die Lebensqualität der Betroffenen. Allerdings besitzen die Aussagen zur Wirksamkeit eine geringe Evidenz. Daher sind sich die Autoren nicht sicher, ob die Ergebnisse den tatsächlichen Nutzen von Methylphenidat richtig widerspiegeln können. Die geringe Evidenz kommt unter anderem dadurch zustande, dass in den ausgewerteten Studien möglicherweise nicht alle Ergebnisse publiziert worden waren. Ein großes Problem aller Studien war, dass sich eine Methylphenidat-Einnahme aufgrund der typischen Haupt- und Nebenwirkungen nicht wirklich verblinden lässt.
Kein höheres Risiko für schwere unerwünschte Wirkungen
Es gab keine Hinweise darauf, dass Methylphenidat die Rate schwerer, d. h. lebensbedrohlicher Nebenwirkungen erhöht (relatives Risiko RR 0,98, 95%‑KI 0,44 bis 2,22 in 9 Studien mit 1532 Teilnehmern). Das Risiko für alle nicht schwerwiegenden Nebenwirkungen erhöhte sich unter Methylphenidat um 29 Prozent (RR 1,29, 95%‑KI 1,10 bis 1,51; 21 Studien mit 3132 Teilnehmern).
Die beiden häufigsten Nebenwirkungen waren Schlafprobleme und Appetitminderung. Kinder unter Methylphenidat besaßen ein um 60% höheres Risiko für Schlafstörungen (RR 1,60, 95%‑KI 1,15 bis 2,23; 13 Studien mit 2416 Teilnehmern) sowie ein 226 Prozent höheres Risiko für verminderten Appetit (RR 3,66, 95%‑KI 2,56 bis 5,23; 16 Studien mit 2962 Teilnehmern) als die Kinder in den jeweiligen Kontrollgruppen.
Hinweise für die Praxis
In einem Interview mit dem Portal MedicalResearch.com betonte der Erstautor des Cochrane-Reviews, Dr. Ole Jakob Storebø von der Süddänischen Universität (Syddansk Universitet) in Odense, dass bei einer so komplexen Störung wie ADHS noch weitere Untersuchungen notwendig sind, um die optimale Behandlungsstrategie identifizieren zu können. Kliniker sollten nicht zu hohe Erwartungen an das Medikament haben, aber andererseits die Behandlung auch nicht vorschnell beenden, falls nicht gleich Erfolge zu verzeichnen sind. Um die Risiken einer Langzeitbehandlung von über sechs Monaten besser beurteilen zu können, seien insbesondere Studien mit längeren Beobachtungszeiträumen notwendig. Derzeit bereiten die dänischen Forscher einen systematischen Review auf der Basis von nicht-randomisierten Studien vor in der Hoffnung, bessere Erkenntnisse über Langzeitnebenwirkungen zu bekommen.
Studie speziell zu Schlafproblemen
Die kürzlich veröffentlichte Metaanalyse einer amerikanischen Arbeitsgruppe widmete sich speziell der Schlafqualität, die unter einer Therapie mit Stimulanzien (Methylphenidat, Dexamfetamin oder Lisdexamfetamin) häufig beeinträchtigt ist. Ausgewertet wurden neun randomisierte klinische Studien mit 246 Teilnehmern. Die Schlafparameter waren nicht durch Befragungen, sondern mittels objektiver Methoden (Aktigrafie oder Polysomnografie, s. Kasten: Erfassung von Schlafparametern) ermittelt worden. Es fand sich eine signifikante Verlängerung der Einschlafzeit unter Methylphenidat, die in Zusammenhang mit der Applikationshäufigkeit stand, das heißt: Der negative Effekt war umso größer, je mehr Dosen am Tag verabreicht wurden.
Bezüglich der Erholsamkeit der Nachtruhe (Schlafeffizienz) zeigte sich ebenfalls ein signifikanter negativer Effekt einer Stimulanzien-Therapie. Interessanterweise nahm die Wirkstärke ab, wenn die Medikation über längere Zeit eingenommen wurde.
Stimulanzien verkürzten in den betrachteten Studien außerdem die Gesamtschlafdauer signifikant.
Erfassung von Schlafparametern
Aktigrafie:
Bei dieser Methode trägt der Patient ein Gerät am Handgelenk, das seine Bewegungen aufzeichnet. Mithilfe spezieller Algorithmen lassen sich aus diesen Daten Schlafparameter abschätzen. Vorteil dieser Methode ist, dass der Patient die Untersuchung zu Hause durchführen kann.
Polysomnografie:
Nach wie vor gilt diese Methode als Goldstandard der Schlafbeurteilung. Sie wird in einem Schlaflabor durchgeführt. Während der Nacht werden drei Parameter kontinuierlich aufgezeichnet: eine Elektroenzephalografie (EEG) misst die Hirnströme, eine Elektrookulografie die Augenbewegungen und eine Oberflächen-Elektromyografie die Erschlaffung der Muskulatur, die während bestimmter Schlafphasen eintritt. Somit liefert diese Methode zusätzliche Informationen über die Schlafphasen, hat aber den Nachteil, dass die Daten nicht in der gewohnten Umgebung des Patienten erhoben werden.
Quelle: Martin JL. Wrist Actigraphy. CHEST J. 2011;139:1514
Armon C et al. Polysomnography. Medscape Reference: reference.medscape.com, aktualisiert am 2. Mai 2014
Fazit: Stimulanzien können die Einschlafzeit verlängern sowie die Erholsamkeit und die Dauer des Schlafs verringern. Daher sollten Kinderärzte Schlafprobleme sorgfältig überwachen und die Behandlung entsprechend anpassen, um eine erholsame Nachtruhe zu ermöglichen.
Studie mit Erwachsenen
Ein großer Teil der Jugendlichen mit ADHS nimmt die Störung mit ins Erwachsenenalter. Die Symptome verändern sich mit zunehmendem Alter. So kann sich beispielsweise die offensichtliche Hyperaktivität und Impulsivität in eine innere Unruhe wandeln. Während für die ADHS-Prävalenz im Kindes- und Jugendalter recht verlässliche Daten vorliegen (zwischen 3 und 7%), ist diese bei Erwachsenen weniger gut belegt (Angaben von 2 bis ca. 5%). Für erwachsene ADHS-Patienten sind in Deutschland Methylphenidat und Atomoxetin zugelassen.
Zwischen 2007 und 2013 war an sieben deutschen Standorten (darunter die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Freiburg) eine prospektive Studie mit 433 ADHS-Patienten zwischen 18 und 58 Jahren durchgeführt worden. Es handelt sich nach eigenen Angaben um die weltweit größte ADHS-Studie mit Erwachsenen. Die Patienten erhielten eine ADHS-spezifische Gruppenpsychotherapie oder Nicht-ADHS-spezifische Einzelgespräche, jeweils in Kombination mit Methylphenidat oder Placebo. Die Hypothese war, dass die Gruppentherapie effektiver ist als die Einzelgesprächstherapie.
Die Patienten wurden wie folgt auf vier Gruppen randomisiert (insgesamt 419 auswertbare Datensätze):
- Gruppentherapie + Methylphenidat
- Gruppentherapie + Placebo
- Einzelgespräche + Methylphenidat
- Einzelgespräche + Placebo
Therapieoptionen für ADHS
Als Mittel der ersten Wahl steht das amphetaminartige Methylphenidat zur Verfügung. Darüber hinaus können der selektive Hemmer des präsynaptischen Noradrenalin-Transporters (SNRI) Atomoxetin, die Amphetaminderivate Dexamphetamin und Lisdexamphetamin sowie der α2-Agonist Guanfacin eingesetzt werden.
Die Diagnose muss auf einer vollständigen Anamnese und Untersuchung des Patienten basieren. Eine Medikation ist im Rahmen eines therapeutischen Gesamtkonzepts indiziert, wenn sich andere Maßnahmen allein als unzureichend erwiesen haben. Die Gesamtstrategie umfasst sowohl psychologische, pädagogische, soziale und pharmakotherapeutische Maßnahmen.
Zum Weiterlesen:
DAZ 2014, Nr. 25, S. 44: POP-Fall ADHS
DAZ 2013, Nr. 16, S. 54: Aktuelle Therapieoptionen für ADHS
Die Einzel- bzw. Gruppensitzungen wurden in den ersten drei Behandlungsmonaten wöchentlich, anschließend bis zu einem Jahr monatlich durchgeführt. Methylphenidat bzw. Placebo wurde ein Jahr lang verabreicht.
Primärer Endpunkt war die Veränderung im Conners Adult ADHD Rating Scale (CAARS), einem gebräuchlichen Fragebogen zur Evaluation der ADHS bei Erwachsenen, innerhalb der ersten drei Monate.
Der anfängliche Wert von 20,6 konnte bei den Patienten mit ausschließlich Gruppentherapie oder Einzelgesprächen mit Werten von 17,6 bzw. 16,5 nicht signifikant gesenkt werden.
Beim Vergleich der Gruppen mit und ohne Methylphenidat-Therapie, war Methylphenidat dem Placebo signifikant überlegen: Der CAARS-Wert wurde jeweils um 1,7 gesenkt (95%‑KI bei den Patienten mit Gruppentherapie -3,2 bis -0,1; 95%‑KI bei den Patienten mit Einzelgesprächen -3,3 bis -0,2).
Damit konnte gezeigt werden, dass psychologische Interventionen zu einem besseren Ergebnis führen, wenn sie mit Methylphenidat kombiniert werden. Die Hypothese eines Vorteils der Gruppentherapie gegenüber Einzelgesprächen wurde widerlegt. |
Quellen
Kidwell KM et al. Stimulant medications and sleep for youth with ADHD: A Meta-analysis. Pediatrics 2015; 136(6): 1144-53
Philipsen A et al. Effects of Group Psychotherapy, Individual Counseling, Methylphenidate, and Placebo in the Treatment of Adult Attention-Deficit/Hyperactivity Disorder. JAMA Psychiatry 2015; 72(12): 1199-1210
Storebø OJ et al. Methylphenidate for children and adolescents with attention deficit hyperactivity disorder (ADHD). Cochrane Database of Systematic Reviews 2015; 11:CD009885; www.thecochranelibrary.com
ADHS bei Erwachsenen: Psychologische Behandlungen sind einer medikamentösen Therapie unterlegen. Pressemitteilung des Universitätsklinikums Freiburg vom 17.12.2015; www.uniklinik-freiburg.de
Bruhn C. Auch Erwachsene haben ADHS. Dtsch Apoth Ztg 2014; 154(13): 39
Fachinformation Ritalin® 10 mg Tabletten, Stand Oktober 2014
Interview mit OJ Storebø: Cochrane Analysis Reviews Studies of Ritalin For ADHD; medicalresearch.com, 26.11.2015
1 Kommentar
Schlafprobleme unter Methylphenidat
von Erwachsener ADHSler am 15.02.2019 um 19:46 Uhr
» Auf diesen Kommentar antworten | 0 Antworten
Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.