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Praxis

„Das bekomme ich doch regelmäßig!“

Wann man ein verschreibungspflichtiges Arzneimittel ohne Rezept abgeben darf

TEST Die Abgabe von rezeptpflichtigen Arzneimitteln erfordert eine ärztliche Verordnung. So sagen es das Arzneimittelgesetz und die Arzneimittelverschreibungsverordnung eindeutig und unmissverständlich. Es könnte so einfach sein, wenn nicht die Patienten wären. |  Von Kirsten Lennecke

Jeder kennt diese Situation: An einem Abend (wahlweise auch Freitagnachmittag, Samstagmorgen oder im Notdienst) steht ein Stammkunde in der Apotheke und sagt: „Ich habe ein großes Problem! Ich brauche dringend meine Blutdrucktabletten (mein Asthmaspray, mein Schmerzmittel), sie sind mir ausgegangen. Sie wissen doch welche, nämlich die, die ich immer bekomme. Können Sie mir ausnahmsweise welche vorab geben?“

Die Antwort lautet: Nein. Eine einzige Ausnahme nennt die Arzneimittelverschreibungsverordnung (AMVV): Der behandelnde Arzt kann in der Apotheke anrufen, eine Verordnung mündlich durchgeben und eine Verschreibung kurzfristig nachliefern. Dieser Satz beinhaltet die Möglichkeit, dass die Apotheke in der aktuellen Situation beim Arzt des Patienten anruft und ihn fragt, ob eine dringende Abgabe jetzt sofort erfolgen darf und eine Verschreibung (zeitnah) ausgestellt wird. Das wird der Apotheker sicherlich auch sofort versuchen. Die Wahrscheinlichkeit, den Arzt zu den genannten Zeiten zu erreichen, ist jedoch gering.

Was tun? Ein Nein als Antwort ist unbefriedigend. Der Patient hat ein Problem und in der Apotheke möchten wir ihm eine Lösung anbieten: „Da haben Sie wirklich ein großes Problem, denn Sie sollten Ihre Blutdrucktabletten tatsächlich nicht absetzen. Leider kann ich Ihnen Ihre Tabletten ohne vorliegende ärztliche Verordnung nicht ausliefern. Vielleicht besteht die Möglichkeit, Ihren Arzt noch zu erreichen? Mit einer telefonischen Bestätigung des Arztes, dass er das Rezept in den nächsten Tagen ausstellen wird, kann ich Ihnen Ihr Arzneimittel sofort mitgeben.“

Indem der Apotheker versucht, mit der Arztpraxis zu telefonieren, sieht der Patient, dass hier eine Lösung für sein Problem gesucht wird. Wenn der Arzt nicht erreichbar ist, ist (im Urlaubsfall) ein Vertretungsarzt oder der ärztliche Bereitschaftsdienst bzw. der ärztliche Notdienst die zuständige Anlaufstelle. Die Apotheke kann die entsprechenden Telefonnummern bereithalten und eventuell anbieten, den Anruf für den Patienten zu übernehmen, um ihm diese Hürde zu nehmen. Mehr kann der Apotheker nicht tun – den Besuch beim ärztlichen Bereitschaftsdienst kann sie dem Patienten nicht abnehmen. Gern nehmen sich Apothekenmitarbeiter der Probleme der Patienten an und machen sie damit zu ihren eigenen Problemen. Eine professionelle Distanz kann hier hilfreich sein, nach dem Motto: „Das ist tatsächlich ein Problem, und es ist ein Problem des Patienten (und nicht meins).“

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Nur nach telefonischer Rücksprache mit dem behandelnden Arzt und der mündlichen Versicherung, dass er das Rezept in den nächsten Tagen ausstellen wird, kann ein verschreibungspflichtiges Arzneimittel ohne vorliegendes Rezept abgegeben werden.

Was denkt sich der Patient?

Den ärztlichen Notdienst aufzusuchen ist unnötig, denn streng genommen handelt es sich um gar keinen Notfall. Durch Selbstverschulden ist ein Engpass entstanden, der Patient selbst hat sich nicht um eine rechtzeitige Nachverordnung seiner Dauermedikation gekümmert. Es ist aufwendig, den ärztlichen Bereitschaftsdienst aufzusuchen. Es braucht Zeit, oft ist der ärztliche Notdienst räumlich weiter entfernt, der Weg dahin und die Parkplatzsituation dort sind unbekannt, der Arzt dort ist keine vertraute Person, sondern ein meist völlig Fremder. Der Arzt im Bereitschaftsdienst kennt den Patienten nicht. Ihm liegen keine Krankengeschichte, keine Untersuchungsergebnisse und keine Laborwerte vor. Es findet oft keine ärztliche Untersuchung oder Indikationsüberprüfung statt. Der ärztliche Bereitschaftsdienst verlässt sich auf die Worte des Patienten oder seinen schriftlichen Medikationsplan und verschreibt das gewünschte und benötigte Arzneimittel. Die notärztliche Verschreibung über eine N1-Packung der Dauermedikation ist meistens in der Apotheke nicht auf Lager und muss bestellt werden. Sie reicht nicht lange, sodass ein weiterer Arztbesuch in naher Zukunft ansteht, und sie kostet dieselbe (hohe) Zuzahlung wie eine normalerweise verschriebene N3-Packung des Hausarztes. Der Patient ist unzufrieden mit dieser Situation und wird deshalb versuchen, den Apotheker umzustimmen. Der Kasten „Einwände des Patienten und mögliche Gegenargumente“ zeigt, wie man in einer Beratungssituation reagieren könnte.

Einwände des Patienten und mögliche Gegenargumente

„Ich bezahle es Ihnen auch!“ Mögliche Antwort: „Es geht uns nicht um die Abrechnung, sondern um eine aktuelle Bestätigung der ärztlichen Verordnung. Denn Ihr Arzneimittel ist stark wirksam und darf deshalb nur unter ärztlicher Kontrolle angewendet werden.“

„Ich bekomme es doch immer!“ Mögliche Antwort: „Ich kann im Computer sehen, dass Sie es bisher verschrieben bekommen haben. Aber ich kann leider nicht einschätzen, ob sich etwas an Ihrer Situation (oder an der Einschätzung zur Indikation) geändert hat.“

„Ich bringe Ihnen auch so schnell wie möglich das Rezept!“ Mögliche Antwort: „Ein Rezept später bringen reicht leider nicht aus. Mit der Abgabe eines verschreibungspflichtigen Arzneimittels ohne aktuelle Verschreibung mache ich mich nach § 95 Abs. 1 Nr. 4 Arzneimittelgesetz strafbar. Dieser Straftatbestand kann mit Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren geahndet werden.“

„Sie können bei dieser Telefonnummer anrufen, meine Freundin ist Ärztin.“ Mögliche Antwort: „Es reicht leider nicht aus, irgendeinen Arzt anzurufen. Wir müssen mit Ihrem behandelnden Arzt sprechen und uns vergewissern können, dass er auch tatsächlich Ihr behandelnder Arzt ist. Auch wenn ich selber Ärztin wäre, könnte ich ohne eine weitere Untersuchung und ohne mir ein Gesamtbild Ihres körperlichen Zustands zu machen, keine Verantwortung für eine Fortsetzung Ihrer Therapie übernehmen.“

„Aber ich fahre morgen früh in den Urlaub!“ Mögliche Antwort: „Da haben Sie wirklich ein großes Problem! Wir sollten keine Zeit verlieren, damit Sie möglichst noch den ärztlichen Bereitschaftsdienst erreichen und die notwendigen Verschreibungen ausgestellt werden können.“

Verschreibungspflicht ist Verbraucherschutz

Arzneimittel sind nach § 48 (2) des Arzneimittelgesetzes (AMG) verschreibungspflichtig, wenn sie „die Gesundheit des Menschen (…) auch bei bestimmungsgemäßem Gebrauch unmittelbar oder mittelbar gefährden können, wenn sie ohne ärztliche (…) Überwachung angewendet werden“ und wenn sie „häufig in erheblichem Umfang nicht bestimmungsgemäß gebraucht werden“ und „dadurch die Gesundheit (…) gefährdet werden kann“. Die Verschreibungspflicht (wie auch die Apothekenpflicht allgemein) existieren nicht zur Bevormundung und Einschränkung der Verbraucher sondern zu ihrem Schutz.

Es gibt zahlreiche Beispiele im Bereich der Arzneitherapie, bei denen sich die Einschätzung der Nutzen-Risiko-Beurteilung oder die Zulassung für bestimmte Indikationen von heute auf morgen geändert hat. Bei der Hormonersatztherapie zur Behandlung klimakterischer Beschwerden wird seit Jahren über das Risiko für Schlaganfall, Thromboembolie oder Brustkrebs diskutiert. Mit einer neuen Veröffentlichung einer Studie kann die Bewertung des Nutzens plötzlich ins Gegenteil umschlagen. Wenn Patientinnen hier sagen: „Das bekomme ich doch immer!“, kann es sein, dass beim nächsten Arztbesuch der Gynäkologe sie darüber informieren wollte, die Therapie abzusetzen. Tolperison ist jahrelang zur Behandlung von muskulären Verspannungen verordnet worden, bis 2013 die Indikation eingeschränkt wurde und es nur noch bei Spastizität nach Schlaganfall eingesetzt werden darf. Im Fall der gewünschten Blutdruck­mittel des Patienten kann es sein, dass die letzte Blutuntersuchung oder ein geänderter gesundheitlicher Zustand des Patienten es erforderlich macht, die Therapie umzustellen.

Die Rechtsprechung ist eindeutig, wenn es darum geht, dass ein Patient nach der Anwendung eines Arzneimittels zu Schaden gekommen ist und er es ohne Verschreibung von einem Apotheker erhalten hat. Dann wird der Apotheker wegen Verstoßes gegen das Arzneimittelgesetz verklagt und kann je nach Schwere des Tatbestands nach § 95 Abs. 1 Nr. 4 Arzneimittelgesetz mit Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bestraft werden.

Zusätzlich verstößt ein Apotheker, der verschreibungspflichtige Arzneimittel ohne Rezept abgibt, gegen das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb. Auch hier gibt es Präzedenzfälle, in denen andere umliegende Apotheker Klage erhoben haben, weil ihnen durch das Vorgehen des Kollegen ein Schaden entstanden wäre. Hier wird von Gerichten unterschieden, ob ein solches Vorgehen ein außergewöhnlicher Einzelfall war, bei dem der Konkurrent keinen großen Schaden erlitten hat, oder ob es sich um ein gewohnheitsmäßiges Fehlverhalten des Apothekers handelt, was deutlich schwerwiegender einzustufen ist.

Akute Beschwerden als rechtfertigender Notstand

Wie verhält man sich, wenn der Patient mit einem Blutdruck von 210/120 mmHg im Beratungszimmer sitzt und um die Abgabe seines Calciumkanal-Blockers ohne Rezept bittet? Was, wenn der Patient mit schwerem Asthmaanfall in der Apotheke steht und nach seinem Salbutamol-Spray fragt?

Ist eine erhebliche, akute Gesundheitsgefährdung eines Patienten nicht auf andere Weise abzuwenden, kann ein Apotheker im Ausnahmefall ein verschreibungspflichtiges Arzneimittel abgeben, auch wenn ihm kein Rezept vorliegt. Das hat der Bundesgerichtshof bereits in einigen Fällen entschieden unter Anwendung von § 34 StGB „Rechtfertigender Notstand“: „Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut eine Tat begeht, um die Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden, handelt nicht rechtswidrig, wenn bei Abwägung der widerstreitenden Interessen, namentlich der betroffenen Rechtsgüter und des Grades der ihnen drohenden Gefahren, das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt. Dies gilt jedoch nur, soweit die Tat ein angemessenes Mittel ist, die Gefahr abzuwenden.“

In diesem Fall ist zwingend der Notruf 112 abzusetzen und der Notarzt direkt in die Apotheke zu holen. Den Patienten zur nächsten Praxis des ärztlichen Bereitschaftsdienstes zu schicken, wäre hier unterlassene Hilfeleistung. |

Autorin

Apothekerin Dr. Kirsten Lennecke ist, neben der Arbeit in einer öffentlichen Apotheke, Autorin zum Thema Kommunikation und aktive Beratung. 


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