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Sozialgerichte müssen Kurs korrigieren
Schiedsstellen-Mitglied Dr. Elmar Mand erläutert im DAZ-Interview den Retax-Kompromiss
DAZ: Denken Sie, der jetzt erzielte Retax-Kompromiss ist ein Ergebnis mit dem beide Seiten gut leben können?
Mand: Aus meiner Sicht trägt der Schiedsspruch einen echten Kompromisscharakter. Nachdem die gegensätzlichen Positionen lange Zeit verhärtet schienen, ist es gelungen, nach intensiven Diskussionen und zahlreichen Schiedsterminen einen Konsens zu erzielen. Dieser Konsens verlangt beiden Seiten – gemessen an den Ausgangspositionen – einiges ab.
DAZ: Wo müssen die Kassen Zugeständnisse machen?
Mand: Die Kassen mussten den vom Bundessozialgericht entwickelten Grundsatz, dass nur eine in jeder Hinsicht ordnungsgemäße Leistungserbringung Vergütungsansprüche der Leistungserbringer gegen die gesetzlichen Krankenkassen (GKV) entstehen lässt, im Bereich der Arzneimittelversorgung teilweise räumen. Der Grundsatz bleibt zwar erhalten, wird durch die Neuregelung anhand des Verhältnismäßigkeitsprinzips aber deutlich eingeschränkt. Fehler, die die Sicherheit und Wirtschaftlichkeit der Arzneimittelversorgung nicht wesentlich tangieren, berechtigen die Kassen künftig nicht mehr zur Rechnungskürzung auf „Null“ und letztlich zur Retaxation. Das wird insbesondere – aber entgegen anders lautenden Presseberichten nicht nur – bei der Arzneimittelabgabe aufgrund lediglich formal fehlerhafter Verordnungen relevant.
Die Schiedsstelle
Die Schiedsstelle, die bei Streitigkeiten über den Rahmenvertrag angerufen wird, hat 13 Mitglieder. Ihr gehören neben einem unparteiischen Vorsitzenden und zwei weiteren unparteiischen Mitgliedern jeweils fünf Vertreter der Kassen und Apotheker in gleicher Zahl an. Den Vorsitz hat der ehemalige Chef des Gemeinsamen Bundesausschusses inne, der Jurist Dr. Rainer Hess. Die beiden anderen unabhängigen Mitglieder sind ebenfalls Rechtswissenschaftler. Im aktuellen Schiedsverfahren waren es Dr. Elmar Mand (Uni Marburg) und Prof. em. Dr. Ingwer Ebsen (Uni Frankfurt). Mand war dabei Stellvertreter von Prof. Christian Starck (Uni Göttingen).
DAZ: Und wo der DAV?
Mand: Der DAV musste sich von der Position verabschieden, dass bereits eine Arzneimittellieferung, durch welche die Kasse von den Leistungsansprüchen ihrer Versicherten frei wird, den Vergütungsanspruch der Apotheke auslöst. Das scheint ein weitreichendes Zugeständnis zu sein. Es ist jedoch zu bedenken, dass wir es bei der Arzneimittelabgabe zulasten der GKV nach der maßgebenden Rechtsprechung des Bundessozialgerichts nicht (mehr) mit einem zivilrechtlich, sondern einem sozialrechtlich geprägten Verhältnis zu tun haben. Bereicherungsrechtliche Argumente können deshalb – ebenso wie in allen anderen Versorgungsbereichen der GKV – praktisch nicht (mehr) vorgebracht werden! Diese verbindliche Rechtsprechung konnten die Vertragsparteien nur in den gesetzlich gezogenen Grenzen (§ 129 Abs. 4 SGB V) modifizieren, nicht aber außer Kraft setzen. Abgesehen davon weist das Arzneimittel- und Apothekenrecht den Apothekern eine besondere Verantwortung in Bezug auf die Sicherheit und Wirtschaftlichkeit der Arzneimittelversorgung auch und gerade bei der Kontrolle ärztlicher Verordnungen zu. Diese besondere heilberufliche Verantwortung bildet die Basis zahlreicher Sonderregelungen für Apotheker – angefangen vom Arzneimittelpreisrecht bis hin zum Fremdbesitzverbot für Apotheken. Eine Vergütungsregelung für Apotheker, welche Fehler bei der Prüfung ärztlicher Verordnungen für gänzlich irrelevant erklärt hätte, würde deshalb – wäre sie rechtswirksam – letztlich die Rechtfertigung für fundamentale Prinzipien im geltenden Apothekenrecht infrage stellen.
DAZ: Welche Kernregelungen enthält der Kompromiss?
Mand: Es gibt einige, evident geringfügige Fehler der Verordnung, welche die Sicherheit und Wirtschaftlichkeit der Arzneimittelversorgung nur ganz unwesentlich tangieren. Dazu gehören fehlerhafte Abkürzungen (auch Groß-Kleinschreibung), Schreibfehler oder unvollständige Angabe zu Arzt und Versichertem, die deren Identifikation nicht infrage stellen. Sie führen künftig generell nicht mehr zu einer Retaxation. Für den Apotheker dürfte es zudem eine große Erleichterung sein, dass er, beziehungsweise sein pharmazeutisches Fachpersonal darüber hinaus auch praktisch alle weiteren Fehler einer Verordnung, die bei der Arzneimittelabgabe auffallen – gegebenenfalls nach Rücksprache mit dem Arzt – soweit beheben kann, dass sein Vergütungsanspruch gegen die Kassen erhalten bleibt. Der Apotheker muss den Patienten also nicht wieder zum Arzt zurückschicken, um einen Vergütungsanspruch zu erhalten.
„Natürlich wird es auch in Zukunft Sachverhalte geben, die umstritten bleiben (...). Eine vollständige Regelung sämtlicher Einzelfälle wäre angesichts der Vielfalt von Sachverhalten, über die zu entscheiden war, schlicht unmöglich gewesen.“
DAZ: Was ist, wenn eine Verordnung trotz Mängeln schon zur Abrechnung eingereicht wurde?
Mand: Selbst in diesem Fall gibt es in bestimmten Konstellationen noch die Möglichkeit, einer Retaxation zu entgehen. Bei fehlerhafter eigener Dokumentation (z. B. bei fehlender Verfügbarkeit eines Arzneimittels) kann der Apotheker zum Beispiel nachweisen, dass die Arzneimittelabgabe doch korrekt war. Ergänzend möchte ich darauf hinweisen, dass die Kassen – auch jenseits der explizit geregelten Einzelfälle – Apotheker trotz entsprechender Fehler vergüten dürfen. Sofern der Apotheker objektivierbare Nachweise nachliefern kann, sind sie dazu aufgrund des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes unter Umständen sogar verpflichtet. Eine pauschale Zurückweisung etwaiger Eingaben der Apotheke im Beanstandungsverfahren bei Retaxationen ist deshalb beispielsweise in Fällen, in denen aus einer Serie gleichförmiger Verordnungen auf die Richtigkeit einer beanstandeten Verordnung geschlossen werden kann, meines Erachtens nicht zulässig.
DAZ: Ist der Kompromiss praxistauglich?
Mand: Die Vereinbarung enthält eine grundsätzliche Regelung über das Entstehen des Vergütungsanspruchs des Apothekers bei Fehlern, die praktisch alle Konstellationen abdeckt. Zugleich werden zahlreiche Einzelfälle explizit geregelt. Es besteht deshalb die berechtigte Hoffnung, dass in vielen Streitfragen die Entscheidung direkt aus dem Regelungstext abgeleitet werden kann.
DAZ: Was sagen Sie zur Kritik, die neuen Vorgaben ließen zu viel Interpretationsspielraum?
Mand: Meines Erachtens trägt der Kompromiss dem berechtigten Anliegen nach Rechtssicherheit so weit wie möglich Rechnung. Natürlich wird es auch in Zukunft Sachverhalte geben, die umstritten bleiben und für die auf die allgemeinen Grundsätze der Regelung zurückgegriffen werden muss. Eine vollständige Regelung sämtlicher Einzelfälle wäre angesichts der Vielfalt von Sachverhalten, über die zu entscheiden war, schlicht unmöglich gewesen. Andererseits war es ein Grundanliegen, eine umfassende Regelung zu treffen, die auch die Lösung bisher unbekannter Sachverhaltsgestaltungen vorgibt beziehungsweise anleitet. Deshalb ist großer Wert auf die Gesamtsystematik der Regelung wie auch den Wortlaut der Einzelbestimmungen gelegt worden. Dies dürfte, so die Hoffnung, eine klare Auslegung anhand der üblichen Auslegungsmethoden in den meisten Fällen ermöglichen. Insbesondere sollte es möglich sein, durch Analogie- und Gegenschlüsse vielfach verlässliche Auslegungsergebnisse zu erzielen. Übergreifend wird für die Anwendung der Regelung zu berücksichtigen sein, dass eine Ergänzung und Korrektur von fehlerhaften Verordnungen anlässlich der Arzneimittelabgabe durch den Apotheker oder sein Personal zumeist möglich ist. Für eine spätere Heilung nach Einreichung des Rezepts gelten dagegen striktere Vorgaben.
„Die Nichtberücksichtigung von Rabattverträgen (...) erweist sich nicht mehr als ein nur ‚unwesentlicher‘ Fehler. Hätte man dennoch entsprechende Regelungen im Rahmenvertrag getroffen, würde dies die Rechtmäßigkeit der Gesamtregelung nachhaltig infrage stellen.“
DAZ: Droht damit nicht weiterhin eine unterschiedliche Interpretation durch die einzelnen Kassen?
Mand: Selbstverständlich werden – wie auch sonst im Recht – unterschiedliche Interpretationen möglich bleiben. Diese Streitigkeiten müssen notfalls vor Gerichten ausgetragen werden. Dabei dürfte der Schiedsspruch – gerade weil er im Konsens angenommen wurde und auf einer klaren Systematik aufbaut – die Entscheidung der Gerichte entscheidend anleiten. Dies wird die Sozialgerichte meines Erachtens zu einer erheblichen Kurskorrektur zwingen. Sofern die Parteien bei einzelnen Fragen weiteren Klärungsbedarf erkennen, bleibt es ihnen unbenommen, klarstellende Absprachen zu treffen. Auch sind ergänzende Regelungen auf Landesebene möglich. Denkbar erscheint mir beispielsweise eine ergänzende Regelung hinsichtlich der Anforderungen an den „objektivierbaren Nachweis“, den der Apotheker bei von der Verordnung abweichenden Arzneimittelabgaben (z. B. im Rahmen der Akutversorgung, des Notdienstes oder bei pharmazeutischen Bedenken) auch noch im Beanstandungsverfahren erbringen kann, wenn er vergessen hat, Vermerk und Sonderkennzeichen auf der Verordnung selbst zu notieren.
DAZ: Wo sehen Sie die Schwachstellen aus Apothekersicht?
Mand: Ich halte den Begriff der „Schwachstellen“ für nicht glücklich. Dieses Wort suggeriert, dass ein anderes, für die Apotheken „wirtschaftlich besseres“ Ergebnis nicht nur in den Verhandlungen durchsetzbar, sondern auch rechtlich möglich gewesen wäre. In vielen Fällen sind die teilweise ausgemachten „Schwachstellen“ des vorliegenden Kompromisses jedoch schon durch zwingendes Gesetzesrecht vorgegeben. Das gilt zum Beispiel für die strikte Beachtung der Substitutions- und Abgabepflichten bei bestehenden Rabattverträgen.
DAZ: Warum wurde hierzu keine Regelung getroffen?
Mand: Bei derartigen Verstößen dürfte der Vergütungsanspruch der Apotheken gegen die Kassen von Gesetzes wegen in aller Regel zwingend entfallen. Eine gegenteilige Regelung im Rahmenvertrag wäre schlicht rechtswidrig und unwirksam. Denn sie würde, wie das Bundessozialgericht bereits festgestellt hat, zentrale Steuerungsmechanismen der Arzneimittelversorgung in der GKV aushöhlen und das Wirtschaftlichkeitsgebot verletzen. Die Nichtberücksichtigung von Rabattverträgen bei der Arzneimittelabgabe erweist sich also nicht mehr als ein nur „unwesentlicher“ Fehler. Hätte man dennoch entsprechende Regelungen im Rahmenvertrag getroffen, würde dies die Rechtmäßigkeit der Gesamtregelung nachhaltig infrage stellen und jedenfalls ihre Bedeutung insgesamt erheblich schwächen.
DAZ: Bei Rabattverträgen ist also weiterhin erhöhte Vorsicht angesagt?
Mand: Apotheker sollten sich also bewusst sein, dass der Gesetzgeber ihnen durch Zuweisung von Substitutionsrechten und -pflichten bei Rabattverträgen die Stellung und Aufgabe von „Wirtschaftlichkeitsdienstleistern“ überantwortet hat. Dementsprechend sollten Apotheker, soweit Rabattverträge bei der Abgabe zu berücksichtigen sind, bei der Auswahl des Arzneimittels äußerst sorgsam handeln.
DAZ: Vielen Dank für das Interview! |
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