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Arzneimittel und Therapie
Off-label-Use im großen Stil
Stimmenfang zur intravitrealen Gabe von Bevacizumab trotz fehlender Zulassung
Dr. Valentin Saalfrank, Rechtsanwalt, zur Rechtslage: Als Arzneimittel, das mittels eines biotechnologischen Verfahrens hergestellt wird, unterliegt Avastin® der zentralen Genehmigungspflicht gemäß Artikel 3 der Verordnung EG 726/2004. Eine solche Genehmigung liegt für Avastin® zur Behandlung bestimmter Krebserkrankungen vor. Um das Arzneimittel für die von der Genehmigung nicht umfasste Behandlung der altersbedingten feuchten Makuladegeneration (AMD) einsetzen zu können, wird es allerdings auf Grundlage ärztlicher individueller Verordnungen in Fertigspritzen umgefüllt. Ob das Inverkehrbringen dieser Fertigspritzen ohne erneute Genehmigung statthaft ist, war lange umstritten.
Nach der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 11. April 2013 (Az.: Rs. C-535/11) ist eine neue Genehmigung für nach Art 3 VO 726/2004 genehmigte Arzneimittel dann entbehrlich, wenn der Umfüllvorgang des bereits genehmigten Arzneimittels auf Grundlage individueller Rezepte mit entsprechenden Verschreibungen stattfindet und das Arzneimittel dabei unverändert bleibt. In diesen Fällen fußt die Erlaubnisfreiheit für das Inverkehrbringen auf dem sog. „Apothekenprivileg“, das auch in Artikel 2 des Gemeinschaftskodex für Humanarzneimittel verankert ist. Denn der Gesetzgeber sieht die Sicherheit von Arzneimitteln, die in der Apotheke hergestellt worden sind, auch dann als gewährleistet an, wenn diese Mittel vor ihrem Inverkehrbringen hinsichtlich ihrer Wirksamkeit und Vertretbarkeit vom Arzt und hinsichtlich ihrer Qualität vom für die Herstellung verantwortlichen Apotheker und damit in zweifacher Hinsicht von einer kompetenten und unabhängigen Stelle geprüft werden (vgl. BGH, Urt. v. 14.04.2016, Az.: I ZR 129/09).
Unverändert im Sinne der Rechtsprechung des EuGH bedeutet dies – wie das Oberlandesgericht Hamburg unlängst ausgeführt hat (Urt. v. 18.12.2015, Az.: 3 U 43/14) –, dass keine Veränderung der Zusammensetzung des Arzneimittels eintreten darf. Auch infolge des Umfüllvorgangs zwingend zu erwartende Veränderungen der biologischen, chemischen oder physikalischen Eigenschaften gegenüber dem Originalzustand des Arzneimittels sind relevant. Nicht von Bedeutung hingegen sind durch den Abfüllvorgang bedingte Abweichungen von den formalen Vorgaben der Verkehrsgenehmigung. Das Oberlandesgericht Hamburg hatte daher keine Bedenken gegen das Inverkehrbringen solcher Fertigspritzen.
Der Einsatz des in Fertigspritzen umgefüllten Arzneimittels Avastin® für die Behandlung der feuchten altersbedingten Makuladegeneration kollidiert demnach grundsätzlich nicht mit arzneimittelrechtlichen Normen.
In sozialversicherungsrechtlicher Hinsicht ist die Verwendung des in Avastin® enthaltenen Wirkstoffs Bevacizumab in mit den Krankenkassen geschlossenen sog. IVOM-Verträgen geregelt. Versicherte können allerdings aufgrund fehlender Genehmigung des Arzneimittels Avastin® zur Behandlung der AMD ihre Versorgung mit Avastin® nicht verlangen (BSG, Urt. v. 3.7.2012, Az.: B 1 KR 25/11 R).
Hersteller Roche zur Frage, ob es Bestrebungen gibt, Bevacizumab zur intravitrealen Applikation zuzulassen: Mit Lucentis® gibt es für Patienten mit feuchter altersbedingter Makuladegeneration (AMD) ein zugelassenes Medikament. Lucentis® wurde speziell für die effektive und sichere Behandlung von AMD in den kleinen Augengefäßen entwickelt. Wirksamkeit und Sicherheit dieser Substanz wurden in 43 Studien weltweit unter Teilnahme von mehr als 12.500 Patienten untersucht. Roche konzentriert sich darauf, neue Medikamente für Erkrankungen zu entwickeln, für die derzeit noch keine wirksame oder sichere Behandlungsoption zur Verfügung steht. Ein Entwicklungsprogramm für die Anwendung von Bevacizumab im Auge plant Roche nicht, da ein zugelassenes Medikament bereits vorhanden ist und die Zulassung von Avastin® den Patienten keinen zusätzlichen Nutzen bringen würde.
Das Paul-Ehrlich-Institut zur Frage, ob es in Deutschland möglich ist, basierend auf der mittlerweile guten Datenlage zur intravitrealen Anwendung von Bevacizumab eine Zulassung auch ohne Antrag des Herstellers zu erteilen: Diese Möglichkeit besteht nach derzeitiger Gesetzeslage nicht. Monoklonale Antikörper wie Bevacizumab kommen gemäß Verordnung (EC) 726/2004 nur im zentralisierten Verfahren der Europäischen Union zur Zulassung, eine Zulassung auf nationaler Ebene erfolgt nicht. Die Zulassung eines Arzneimittels oder eine Erweiterung der Indikation erfolgt nur auf Antrag des pharmazeutischen Unternehmers, der Qualität, Wirksamkeit und Sicherheit mit geeigneten Studien belegen muss. Die Koordination der Zulassungsverfahren übernimmt die European Medicines Agency (EMA) mit Sitz in London, die Zulassung spricht die Europäische Kommission aus.
AOK Baden-Württemberg zur Frage, wie der Off-label-Gebrauch von Bevacizumab zur intravitrealen Anwendung derzeit vertraglich geregelt ist: Im IVOM-Vertrag der AOK Baden-Württemberg mit der QMBW ist die Behandlung verschiedener augenärztlicher Indikationen, bei denen eine intravitreale Injektion angezeigt ist, geregelt. Dabei ist auch der Gebrauch von Rezepturarzneimitteln durch verantwortungsbewusste und qualifizierte Ärzte bei einer ausführlichen Aufklärung der Patienten über den Off-label-Einsatz von Arzneimitteln inbegriffen. Die Entscheidung, welches Arzneimittel eingesetzt wird, trifft der behandelnde Arzt. Außerdem bestehen zur Sicherung der Qualität von Rezeptur-Arzneimitteln Verträge mit herstellenden Apotheken. Durch dieses System wird die Sicherheit der Behandlung der Patienten in den Mittelpunkt gestellt und die Überprüfung der Behandlungsqualität gewährleistet.
Prof. Dr. Horst Helbig, Regensburg, Präsident der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft (DOG) mit einer Stellungnahme der DOG: Aus der Sicht der wissenschaftlichen Fachgesellschaft der Augenärzte können potenziell zur Erblindung führende Augenerkrankungen wie feuchte Makuladegeneration oder diabetisches Makulaödem mit den anti-VEGF Medikamenten Aflibercept, Bevacizumab und Ranibizumab wirksam und sicher behandelt werden. Das ursprünglich als Krebsmedikament entwickelte Bevacizumab ist nach Auseinzelung deutlich kostengünstiger, aber für die Anwendung am Auge arzneimittelrechtlich nicht zugelassen. Die breite „Off-label“-Anwendung von Bevacizumab birgt auch juristische Haftungsrisiken für den behandelnden Augenarzt. Die DOG unterstützt den Gedanken der Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen. Für Augenärzte sollten durch die gesetzlichen Rahmenbedingungen aber keine haftungsrechtlichen Nachteile entstehen. Die Fachgesellschaft begrüßt es, wenn mehrere Medikamente für eine Indikation zur Verfügung stehen. Wegen der individuell unterschiedlichen Wirksamkeit sollte für jeden Patienten die Anwendung verschiedener Präparate im Rahmen der ärztlichen Therapiefreiheit möglich sein. Die DOG befürwortet den Einsatz der für den individuellen Patienten wirksamsten und sichersten Medikamente in einem sicheren rechtlichen Rahmen.
Apotheker Andreas Scheuerle, Inhaber der Obertor-Apotheke Esslingen, zur Frage, unter welchen Voraussetzungen die rezepturmäßige Herstellung von Bevacizumab zur intravitrealen Anwendung in der Apotheke erfolgt: Derzeit besteht folgende Sachlage: Mit Lucentis® (Ranibizumab) und Eylea® (Aflibercept) stehen zwei zugelassene Arzneimittel zu Behandlung der altersabhängigen feuchten Makuladegeneration zur Verfügung. Avastin® (Bevacizumab) wird seit Längerem im Off-label-Use eingesetzt. Seine Wirksamkeit wurde in mehreren Studien festgestellt.
Es hat den Anschein, dass der Off-label-Use von Bevacizumab von allen Seiten – vornehmlich Ärzten und Kostenträgern im Gesundheitswesen – geduldet und genutzt wird. Ein Ersetzen von Bevacizumab durch die zugelassenen Präparate würde zu einer enormen Kostensteigerung im Gesundheitswesen führen.
Was die praktische Off-label-Zubereitung von Bevacizumab anbelangt, so müssen folgende Voraussetzungen gegeben sein: Es muss eine ärztliche Verschreibung vorliegen und Vorgaben des Produkt- und Personenschutzes müssen erfüllt werden. Das heißt, die Zubereitung erfolgt in GMP-konformen Räumen durch geschulte pharmazeutische Mitarbeiter. Da zwischen Zubereitung und Applikation nur ein kurzer Zeitraum liegen darf, ist darüber hinaus eine hohe Flexibilität erforderlich. Ferner erfordern unterschiedliche Abrechnungsmodalitäten einen großen personellen Aufwand. |
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