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Beratung

„Allergisch“ auf Arzneimittel

Lösen Antibiotika häufig Überempfindlichkeitsreaktionen aus?

 In einer aktuellen Studie wurde untersucht, welche verschreibungspflichtigen Arzneimittel in der ambulanten Versorgung am häufigsten Ursache schwerer Überempfindlichkeitsreaktionen sind. Insbesondere Antibiotika wurden hier sehr häufig als Auslöser für anaphylaktische Reaktionen und schwere Hautreaktionen wie der toxisch-epidermalen Nekrolyse bzw. des Stevens-Johnson-Syndroms detektiert. Bei der Bewertung der Ergebnisse sind jedoch methoden­immanente Einschränkungen zu beachten. Darüber hinaus wurden OTC-Arzneimittel wie nicht-steroidale Analgetika bei der zugrunde liegenden Datenbank­recherche nicht berücksichtigt.  | Von Damaris Mertens-Keller

Im „Bulletin für Arzneimittelsicherheit“, das vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) und dem Paul-Ehrlich-Institut (PEI) gemeinsam vierteljährlich herausgegeben wird, wurde kürzlich eine aktuell publizierte Studie vorgestellt, die verschreibungspflichtige Arzneimittel in der ambulanten Verordnung hinsichtlich ihres Risikos für schwere Überempfindlichkeitsreaktionen untersucht hat. In der vorliegenden Arbeit wurde zwischen Reaktionen vom Soforttyp, zu denen anaphylaktische Reaktionen zählen, und verzögerten Reaktionen, wie der toxisch-epidermalen Nekrolyse (TEN) oder dem Stevens-Johnson-Syndrom (SJS) differenziert.

Für die Studie wurde die Nebenwirkungs-Datenbank (UAW-Datenbank) des BfArM herangezogen, um die Arzneimittel herauszufiltern, die am häufigsten als Auslöser dieser Reaktionen gemeldet wurden. Um eine Recherche der Fälle innerhalb der Datenbank zu ermöglichen, wurden die gemeldeten Nebenwirkungen in der UAW-Datenbank mit international standardisierten medizinischen Begriffen (MedDRA) verknüpft und ein entsprechendes standardisiertes Suchprofil, ein sogenanntes standardised MedDRA query (SMQ), eingesetzt. Betrachtet wurden zunächst alle Verdachtsmeldungen über anaphylaktische Reaktionen und schwere Hautreaktionen innerhalb der UAW-Datenbank von Januar 1998 bis Dezember 2012. Diese wurden nach ihrer Häufigkeit bezüglich des mutmaßlich auslösenden Wirkstoffes geordnet. Als relevanter Parameter wurde die Berichtsrate analysiert, die als Quotient aus der Anzahl der Verdachtsmeldungen bezogen auf die Verordnungshäufigkeit des jeweiligen Wirkstoffes definiert wurde.

Auswahl der Wirkstoffe

Im Fokus der Untersuchung standen ausschließlich ambulant verschriebene Wirkstoffe, da nur für diese belastbare Verordnungshäufigkeiten öffentlich verfügbar waren. Explizit ausgeschlossen wurden in der Studie OTC-Arzneimittel, obwohl diese ebenfalls relevante Berichtsraten für anaphylaktische Reaktionen oder schwere Hautreaktionen aufweisen können. Insbesondere nicht-steroidale Analgetika sind für Überempfindlichkeitsreaktionen bekannt. Ferner nicht berücksichtigt wurden vorzugsweise im Krankenhaus gegebene Wirkstoffe wie z. B. Kontrastmittel oder Onkologika, da die Expositionszahlen auch für diese Wirkstoffe nicht öffentlich zugänglich waren. Der Ausschluss der oben genannten Arzneimittel führte folglich zu einer höheren Präsenz anderer Wirkstoffklassen, z. B. Antibiotika unter den Wirkstoffen mit den höchsten Berichtsraten. Insgesamt wurden im betrachteten Zeitraum mehr als 190.000 UAW-Verdachtsfälle dem BfArM gemeldet. Davon erfüllten 5,2% den Algorithmus für das Suchprofil „anaphylaktische Reaktion“ und 2,9% für das Suchprofil „schwere Hautreaktionen“.

Berichtsraten zu anaphylaktischen Reaktionen

Die Untersuchung hat ergeben, dass Moxifloxacin mit ca. sieben Verdachtsmeldungen (siehe Tabelle 1) pro einer Million definierter Tagesdosen (DDD) die höchste Berichtsrate für das Suchprofil „anaphylaktische Reaktionen“ aufwies (Platz 1). Auf Platz 3 lag Levofloxacin mit rund einer Meldung pro einer Million DDD, gefolgt von Ciprofloxacin auf Platz 5. Bei den genannten Fluorchinolonen sind allerdings neben Anaphylaxien auch mildere Verlaufsformen identifiziert worden. Die Angaben sind daher mit den Ergebnissen entsprechender Literatur vergleichbar. Da sich das Risiko anaphylaktischer Reaktionen bezüglich Moxifloxacin schon seit Längerem in der Fachinformation widerspiegelt, ergab sich kein neues Signal. Auffallend war, dass insgesamt sechs der ersten zehn detektierten Wirkstoffe Antibiotika waren. Leider konnte im Rahmen der Studie nicht geklärt werden, ob dies möglicherweise an einer differenziellen Meldebereitschaft bezüglich der verschiedenen Antibiotika-Gruppen, einem unterschiedlichen Potenzial der verschiedenen Antibiotika-Gruppen für anaphylaktische Reaktionen, Unterschieden des jeweiligen Patientenkollektivs hinsichtlich des Risikos für anaphylaktische Reaktionen oder anderen Gründen lag. Merkliche Unterschiede in der Verordnungshäufigkeit führten zu teils deutlichen Differenzen zwischen den Berichtsraten. Somit belegte der Arzneistoff Glatirameracetat, für den sowohl Post-Injektionsreaktionen als auch anaphylaktische Reaktionen unterschiedlicher Ausprägungen in der Fachinformation beschrieben sind, aufgrund hoher Meldebereitschaft bei geringer Anwendungshäufigkeit Platz 2 der Untersuchung. Daher ergab sich für Glatirameracetat kein neues Signal in Bezug auf anaphylaktische Reaktionen. Clindamycin stand erstaunlicherweise auf Platz 4 der Liste, denn sowohl in der Literatur als auch nach Erfahrung der Autoren ist dieses Antibiotikum nicht häufig als Auslöser anaphylaktischer Reaktionen anzutreffen und gilt bei Betalaktam-Allergie als mögliche Alternative. Vermutlich wurde die Exposition dieses Wirkstoffes zu niedrig angesetzt, da im betrachteten Zeitraum entsprechende zahnärztliche Verordnungen nicht berücksichtigt wurden.

Tab. 1: Zehn Wirkstoffe mit den höchsten Berichtsraten für das Suchprofil „Anaphylaktische Reaktionen“ (Anzahl der Berichte pro einer Million DDD; Zeitraum 1. Januar 1998 bis 31. Dezember 2012; nach [1]).
Platzierung nach
höchster
Berichtsrate
Wirkstoff
kumulative Anzahl Berichte zum Suchprofil „Anaphylaktische Reaktionen“*
kumulative Exposition in Millionen DDD
lt. AVP
Berichtsrate** zum Suchprofil „anaphylaktische Reaktionen“
1
Moxifloxacin
481
67
7,18
2
Glatiramer
164
39,3
4,57
3
Levofloxacin
109
112,5
0,97
4***
Clindamycin
59
101,6
0,58
5
Ciprofloxacin
54
179,7
0,30
6
Cefuroxim
57
259,8
0,22
7
Metamizol
190
1123,9
0,17
8***
Amoxicillin
61
1064,7
0,06
9
Enalapril
52
8561,8
0,01
10
Ramipril
90
21.344,8
0,00

* Kombination Suchprofil plus Algorithmus, ** Berichtsrate gerundet, *** zahnärztliche Verschreibungen konnten nur für das Jahr 2012 berücksichtigt werden. Da insbesondere Clindamycin, aber auch Amoxicillin häufig von Zahnärzten verschrieben werden, lag die tatsächliche Exposition mit diesen beiden Wirkstoffen höher.

Cefuroxim rangierte in der vorliegenden Untersuchung zu anaphylaktischen Reaktionen auf Platz 6. Entsprechend der aktuellen Literatur wurden Soforttyp-Reaktionen auf Cephalosporine aufgrund ihres zunehmenden Gebrauchs hier öfter gesehen. Auch die Berichtsrate für Metamizol auf Platz 7 stellt kein neues Signal dar, da das Auftreten anaphylaktischer Reaktionen, z. B. im Rahmen einer Analgetika-Intoleranz, ebenfalls bekannt ist. Erstaunlicherweise fand sich Amoxicillin erst auf Platz 8, was möglicherweise darauf zurückzuführen ist, dass dieser Zusammenhang bekannt ist und daher seltener darüber berichtet wird. Denn gemäß Literaturrecherche gelten Betalaktam-Antibiotika als häufigste Auslöser für Soforttyp-Reaktionen unterschiedlicher Schweregrade. Ebenso geläufig ist unter ACE-Hemmern das Auftreten von Angioödemen, die zu den anaphylaktischen Reaktionen zählen. Enalapril belegte hier Platz 9 und Ramipril den 10. Platz. Die Berichtsraten stellen somit kein neues Signal in Bezug auf Soforttyp-Reaktionen dar.

Berichtsraten zu schweren Hautreaktionen

Auch bezüglich der schweren Hautreaktionen wurde die Berichtsrate im Wesentlichen von der Verordnungshäufigkeit beeinflusst. Interessanterweise fanden sich unter den Top Ten vier Antibiotika (siehe Tabelle 2). Ferner waren Clindamycin, Ciprofloxacin, Amoxicillin und Metamizol in beiden Suchanfragen unter den zehn Wirkstoffen mit den höchsten Berichtsraten vertreten. In einer Fall-Kontroll-Studie von 2008 [2], welche die Entwicklung von einer toxisch-epidermalen Nekrolyse oder eines Stevens-Johnson-Syndroms analysierte, gab es fünf von zehn Übereinstimmungen mit den hier vorliegenden Ergebnissen; Sulfamethoxazol + Trimethoprim, Allopurinol und die Antiepileptika Lamotrigin, Phenytoin und Carbamazepin wurden gleichermaßen genannt. Widersprüchlich ist die Platzierung für Metamizol (Platz 7). Es wird vermutet, dass es einerseits häufig kurz vor Auftreten von Hautveränderungen als Analgetikum eingenommen wurde (confounding by indication) und andererseits im Suchprofil schwere Hautreaktionen abbildete, auch wenn sie klinisch nicht einer schweren Hautreaktion entsprachen. Ein signifikant erhöhtes Risiko hat sich auch für Fluorchinolone und Aminopenicilline abgezeichnet, welches aber in der Fall-Kontroll-Studie insgesamt niedriger als das der Hochrisiko-Wirkstoffe war. Auffällig in der aktuellen Untersuchung ist die Platzierung für Allopurinol (Platz 10), denn laut einer Publikation von 2008 [3] birgt dieser Wirkstoff das größte Risiko für Stevens-Johnson-Syndrom und toxisch-epidermale Nekrolyse in Europa. Möglicherweise entfällt aufgrund der allgemeinen Bekanntheit dieser Assoziation häufig eine entsprechende Meldung. Ebenso erstaunlich war in der vorliegenden Studie die hohe Berichtsrate für schwere Hautreaktionen unter Clindamycin (Platz 1). Sehr wahrscheinlich wäre unter Berücksichtigung der zahnärztlichen Verordnungen im entsprechenden Zeitraum die tatsächliche Berichtsrate niedriger. Jedoch auch in einer deskriptiven Analyse der öffentlichen Nebenwirkungsdatenbank der amerikanischen Arzneimittelbehörde (FDA) wurde ein Signal für eine erhöhte Berichtsrate bezüglich schwerer Hautreaktionen (TEN, SJS) unter Clindamycin beobachtet. Die Platzierung von Methotrexat (Platz 8) entsprach den Erwartungen, denn schwere Hautreaktionen sind laut Fachinformationen bekannt. Die Wahrscheinlichkeit für toxisch-epidermale Nekrolyse bzw. Stevens-Johnson-Syndrom wird in der Literatur unabhängig vom auslösenden Arzneimittel mit ca. einem pro einer Million Anwendern/Jahr angegeben. Für Wirkstoffe mit hohem Risiko (z. B. Carbamazepin, Allopurinol) liegt sie bei einem pro 1000 Anwendern bis zu einem pro 100.000 Anwendern. Dies deckt sich unter Berücksichtigung des Underreportings mit den beobachteten Berichtsraten von 0,06 bis 0,93 pro einer Million DDD.

Tab. 2: Zehn Wirkstoffe mit den höchsten Berichtsraten für das Suchprofil „schwere Hautreaktionen“ (Anzahl der Berichte pro einer Million DDD; Zeitraum 1. Januar 1998 bis 31. Dezember 2012; nach [1]).
Platzierung nach
höchster
Berichtsrate
Wirkstoff
kumulative Anzahl Berichte zum Suchprofil „schwere Hautreaktionen“*
kumulative Exposition in Millionen DDD lt. AVP
Berichtsrate** zum Suchprofil „schwere Hautreaktionen“ (Berichte pro 1 Million DDD)
1***
Clindamycin
94
101,6
0,93
2
Sulfamethoxazol + Trimethoprim
202
318,6
0,63
3
Lamotrigin
133
212,5
0,63
4
Ciprofloxacin
110
179,7
0,61
5
Phenytoin
93
237,7
0,39
6
Carbamazepin
173
914,5
0,19
7
Metamizol
205
1123,9
0,18
8
Methotrexat
94
755,99
0,12
9***
Amoxicillin
118
1064,7
0,11
10
Allopurinol
276
4350
0,06

* breite Suche, ** Berichtsrate gerundet, *** zahnärztliche Verschreibungen konnten nur für das Jahr 2012 berücksichtigt werden. Da insbesondere Clindamycin, aber auch Amoxicillin häufig von Zahnärzten verschrieben werden, lag die tatsächliche Exposition mit diesen beiden Wirkstoffen höher.

Fazit

Die vorliegende deskriptive Analyse der gemeldeten UAW-Verdachtsfälle zeichnet sich aus durch die große Fallzahl von mehr als 190.000 Spontanberichtsmeldungen. Ebenso hervorzuheben ist die Betrachtung der Berichtsrate, das heißt des Quotienten aus der Anzahl der Meldungen bezogen auf die jeweiligen Verordnungszahlen als relevantester Parameter. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass eine Analyse der einzelnen Berichte hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit eines kausalen Zusammenhanges zwischen der Anwendung des Arzneimittels und der beobachteten Nebenwirkung oder in Bezug auf die Richtigkeit der gemeldeten Diagnose aufgrund der großen Fallzahl nicht möglich war. Die Gesamtmenge der identifizierten Verdachtsmeldungen enthält demnach auch Berichte, in denen ein kausaler Zusammenhang unwahrscheinlich oder nicht beurteilbar ist. Außerdem wurden Verdachtsfälle aus klinischen Prüfungen und solche, die in der wissenschaftlichen Literatur publiziert worden sind, ebenfalls nicht berücksichtigt. Darüber hinaus wurden laut Report ungefähr 10% aller Antibiotika-Verordnungen von Zahnärzten ausgestellt, wobei Clindamycin mit mehr als 50% der am häufigsten verordnete Wirkstoff war, gefolgt von Penicillinen mit erweitertem Wirkspektrum (zu 99% Amoxicillin) und Schmalspektrum-Penicillinen. Bezüglich der zahnärztlichen Verordnungen konnte nur der im Jahr 2012 erstmals veröffentlichte Arzneiverordnungsreport berücksichtigt werden, für die Jahre 1998 bis 2011 lagen keine Daten vor. Eine vollständige Erfassung der Exposition im genannten Zeitraum hätte die Berichtsraten tendenziell nach unten verändert. Bei der Bewertung der Ergebnisse dieser Analyse ist ferner zu beachten, dass aufgrund methodenimmanenter Limitierungen nur Signale in Bezug auf ein erhöhtes Risiko anaphylaktischer Reaktionen oder schwerer Hautreaktionen erkannt werden können. Ebenso ist ein Reporting Bias, unter anderem Nichtmelden von UAW (Underreporting) und gehäufte Meldungen bestimmter Arzneimittel (Stimulatereporting, z. B. bei neuen Arzneimitteln), im Spontanberichtssystem nicht zu unterschätzen. Die vorgestellte Studie verfolgt daher auch das Ziel, auf die öffentlich zugänglichen Quellen zu UAW-Verdachtsmeldungen sowie zu Verordnungszahlen aufmerksam zu machen und für die Besonderheiten bei der Interpretation dieser Daten zu sensibilisieren. In diesem Zusammenhang sei nochmals darauf hingewiesen, dass das Meldesystem für Verdachtsfälle von Nebenwirkungen ein wichtiges Früherkennungssystem im Bereich der Arzneimittelsicherheit nach der Zulassung darstellt. |

Literatur

[1] Sachs B, Fischer-Barth W. Überempfindlichkeitsreaktionen auf verschreibungspflichtige Arzneimittel in der ambulanten Versorgung. Bulletin für Arzneimittelsicherheit 2015;4:16-27, www.bfarm.de, www.pei.de

[2] Mockenhaupt M et al. Stevens-Johnson syndrome and toxic epidermal necrolysis: assessment of medication risks with emphasis on recently marketed drugs. The EuroSCAR-study. J Invest Dermatol 2008;128:35-44

[3] Halevy S et al. Allopurinol is the most common cause of Stevens-Johnson syndrome and toxic epidermal necrolysis in Europe and Israel. J Am Acad Dermatol 2008;58(1):25-32

Autorin

Damaris Mertens-Keller, Apothekerin, PharmD, Studium der Pharmazie an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz. Praktikum am UC Davis Medical Center, Sacramento, USA. Studium an der University of Florida mit dem Abschluss PharmD. Wissenschaftliche Mitarbeiterin der WestGem-Studie und Tutorin bei ATHINA, Autorin der POP-Serie in der DAZ und des Buches „Angewandte Pharmakotherapie“.

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