Vitamine und Mineralstoffe

Calcium – kein Schutz vor Knochenbrüchen?

Zwei neue Studien stellen Supplementierung infrage – eine differenzierte Betrachtung

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Von Johannes Pfeilschifter | Ende September 2015 wurden im British Medical Journal zwei systematische Reviews und Metaanalysen publiziert, die die Wirkung von Calcium auf die Knochendichte und auf Frakturen untersucht haben [1, 2]. Die Analysen kommen zu dem Fazit: Eine Steigerung der Calcium-Zufuhr mit der Nahrung hat nur einen geringen Einfluss auf die Knochendichte und keinen nachgewiesenen Einfluss auf Knochenbrüche. Die schützende Wirkung von Calcium-Supplementen vor Knochenbrüchen sei schwach und fraglich.

Seit Jahrzehnten gilt Calcium als „Basistherapie“ zum Schutz vor einer Osteoporose. Eine ausreichende Calcium-Zufuhr wird von den meisten osteologischen Fachgesellschaften und Leitlinien empfohlen. Die meisten der in den beiden systematischen Reviews und Metaanalysen analysierten Stu­dien sind auch nicht neu und wurden schon mehrfach von anderen Autoren analysiert. Insgesamt kommen die Autoren der beiden jetzt publizierten Analysen unter kritischer Bewertung der Studien zu dem Schluss, dass das „Glas halb leer“ ist, während nicht alle, aber zumindest einige Autoren der vorhergehenden Analysen geschlussfolgert haben, dass das „Glas halb voll“ ist. Für die Schlussfolgerung kommt es also entscheidend auf die Bewertung der Qualität und der Besonderheiten der zugrundeliegenden Studien und auf die Bewertung der Nutzen-Risiko-Relation an.

Was hat die Autoren dieser beiden Studien dazu bewogen, zu schlussfolgern, das das „Glas halb leer“ ist?

Ausgewertet wurden zwei Arten von Studien. Zum einen wurden Studien analysiert, in denen Calcium-Supplemente oder Calcium-haltige Nahrungsmittel randomisiert gegeben wurden. Zum anderen wurden prospektive Studien analysiert, in denen der Zusammenhang zwischen dem Konsum von Nahrungscalcium und der Rate an Knochenbrüchen beobachtet wurde. Die Autoren konstatieren, dass bei der Mehrzahl der bisherigen Beobachtungsstudien kein Zusammenhang zwischen der Menge der Calcium-Zufuhr mit der Nahrung und der Häufigkeit von Knochenbrüchen gefunden wurde. Eine Gabe von Calcium-Supplementen führte zu einem geringen Anstieg der Knochendichte und reduzierte die Rate aller Frakturen um 11% und die Rate von Wirbelkörperfrakturen um 14%. Bei einer Beschränkung der Auswertung auf diejenigen Studien, die nach Einschätzung der Autoren nur eine geringe Wahrscheinlichkeit systematischer Fehler aufweisen, die zu einer Verzerrung der Studienresultate führen könnten, war der Effekt auf Frakturen aber nicht mehr signifikant.

Nicht belegt: Zusatznutzen ohne Mangel

Einigkeit herrscht bei den meisten derzeitigen Empfehlungen darüber, dass es für Frauen und Männer ab dem 50. Lebensjahr nicht belegt ist, dass eine generelle Steigerung der Calcium-Zufuhr mit der Nahrung oder eine Supplementierung mit Calcium bei einer ohnehin schon reichlichen Calcium-Zufuhr von 1000 mg täglich oder mehr einen relevanten zusätzlichen Nutzen für den Knochen hat, nach dem Motto „viel hilft viel“. Im Gegenteil könnten bei einer hohen Calcium-Zufuhr negative Auswirkungen, wie die Bildung von Nierensteinen, eine vermehrte Calcium-Ausscheidung im Urin und möglicher­weise eine Begünstigung kardialer Ereignisse überwiegen, sodass viele Empfehlungen eine Begrenzung der Calcium-Zufuhr nach oben auf 2000 mg täglich vorsehen.

Effektiv bei schwerem Mangel

Es gibt auch eine relative Einigkeit, dass Personen mit einem schweren Calcium-Mangel, der oft mit einem gleichzeitigen Vitamin-D-Mangel einhergeht, von einer Calcium-Supplementierung profitieren. Bei einer sehr geringen Versorgung mit Calcium und Vitamin D3 kann es zu einer sogenannten Osteomalazie kommen, d.h. einer Untermineralisation des Knochens, die effizient mit Calcium und Vitamin D therapiert werden kann. Beobachtet wird eine Osteomalazie vor allem bei älteren Menschen, aber auch bei Menschen mit bestimmten Magen- und Darmerkrankungen und bei Besonderheiten des Calcium- und Vitamin-D-Stoffwechsels.

Unklar: die optimale Calcium-Zufuhr

Am strittigsten dürfte die Antwort auf die Frage sein, welchen Nutzen eine Steigerung der Calcium-Zufuhr auf die Knochenfestigkeit hat, wenn kein gravierender Calciummangel besteht, die geschätzte Calcium-Zufuhr mit der Nahrung aber geringer als 1000 mg täglich ist. Schaut man sich die Tabelle 4 der Beobachtungsstudien in einer der beiden Publikationen [2] genauer an, hat man den Eindruck, dass der prozentuale Anteil der Studien, die eine schützende Wirkung einer Calcium-Supplementierung vor Frakturen beobachtet haben, bei denjenigen Studien größer ist, die eine geschätzte Calcium-Zufuhr von weniger als 500 mg täglich mit einer höheren Calcium-Zufuhr verglichen haben. Für die randomisierten Studien konstatieren die Autoren zwar, dass die Gruppe der Personen mit einer geschätzten Calcium-Zufuhr von weniger als 800 mg täglich nicht mehr von einer Calcium-Supplementierung profitiert haben als die Gruppe der Personen mit einer Calcium-Zufuhr von 800 mg täglich und mehr. Nun liegt die Calcium-Zufuhr bei der Mehrzahl der Personen in Europa und den USA aber zwischen 700 mg und 900 mg täglich, sodass bei dieser Gruppenaufteilung vermutlich überwiegend Personen miteinander verglichen wurden, die sich nicht wesentlich in ihrer Calcium-Zufuhr voneinander unterschieden haben.

Tang und Kollegen haben in einer früheren Metanalyse randomisierter Studien, in der viele der jetzt analysierten Studien enthalten sind, eine niedrigere Calcium-Zufuhr von 700 mg täglich als Schwelle für eine Untergruppenanalyse gewählt [3]. Sie fanden in der Gruppe der Personen mit einer geschätzten Calcium-Zufuhr von weniger als 700 mg eine 20% niedrigere Gesamtfrakturrate bei einer Calcium-Supplementierung. Dagegen wurde die Frakturrate bei einer Calcium-Zufuhr von 700 mg und mehr täglich durch eine zusätzliche Calcium-Supplementierung nur um 5% reduziert. Welche Gesamtzufuhr an Calcium für den Knochen am vorteilhaftesten ist, ist also trotz aller bisherigen Analysen nicht eindeutig beantwortet. Eine isolierte Betrachtung der Calcium-Zufuhr ohne die Berücksichtigung der individuellen Versorgung mit Vitamin D könnte die Antwort zusätzlich erschweren. Wünschenswert wären hier weitere Metaanalysen, die dies für verschiedene Kategorien sowohl der der Calcium-Zufuhr, als auch der Vitamin-D-Versorgung detaillierter prüfen.

Calcium aus der Nahrung – wie wurde es erfasst?

Ein besonderes methodisches Problem aller Studien, egal, ob es sich um Beobachtungsstudien oder randomisierte Studien handelt, ist, dass das zusätzlich zu der Studien-bedingten Gabe von Calcium mit der Nahrung konsumierte Calcium nicht einfach zu quantifizieren ist. Auch die Autoren der beiden jetzt publizierten Analysen konstatieren, dass sie nur die generelle Qualität der Studien bewertet haben, nicht aber die Validität der Erfassung der Nahrungscalcium-Zufuhr in den einzelnen Studien. Es ist aber ein Unterschied, ob dies durch Selbstbefragungen, durch Fragebögen oder durch eine aufwendige Nahrungsmittelanalyse erfolgt. Aber selbst wenn sich ein „Schwellenwert“ für eine optimale Calcium-Zufuhr unter Studienbedingungen näher definieren ließe, ist noch nicht gewährleistet, dass ich einen solchen „Schwellenwert“ dann auch in der täglichen Praxis möglichst einfach und valide erfragen kann. Die Fortsetzung der bisherigen Praxis, bei einer anamnestisch als zu gering eingeschätzten Calcium-Zufuhr eine Steigerung der Calcium-Zufuhr zu empfehlen, dürfte auch wesentlich davon abhängen, welche schädlichen Auswirkungen einer Calcium-Zufuhr bereits bei einer Gesamtzufuhr von 1000 mg Calcium täglich nachweisbar sind. Gibt es auch hier einen „Schwellenwert“?

Viele Ausnahmen und Besonderheiten

Ganz wichtig ist auch der Hinweis, dass sich diese Diskussion primär auf Personen ab einem Lebensalter von 50 Jahren ohne Besonderheiten des Calcium-Stoffwechsels bezieht. Es gibt aber sehr viele Personen mit Besonderheiten des Calcium-Stoffwechsels, die bezüglich der für sie adäquaten Calciumzufuhr unbedingt ärztlich individuell beraten werden sollten. Dazu gehören z. B. Personen mit Nierensteinen, einer Hyperkalziurie, einer Osteomalazie, einem primären oder sekundären Hyperparathyreoidismus, einem Hypoparathyreoidismus, einer fortgeschrittenen Niereninsuffizienz, Personen mit einem Zustand nach Magenentfernung oder Magenverkleinerung und viele Personen mit Darmerkrankungen und Darmoperationen. Auch die Versorgung mit Calcium bei Kindern und Jugendlichen, Schwangeren und Stillenden erfordert getrennte Überlegungen. Man sollte also keinesfalls pauschale Empfehlungen für alle abgeben.

Eine große Gruppe von Personen, für die eine ausreichende Versorgung mit Calcium und mit Vitamin D sehr wichtig ist, sind auch die Patienten mit einer Osteoporose, die mit Medikamenten behandelt werden, die die Blutcalcium-Konzentration potenziell vermindern können. Eine Hypokalzämie ist eine absolute Kontraindikation dieser Medikamente. Vor allem bei einer parenteralen antiresorptiven Therapie mit ­Bisphosphonaten und mit Denosumab wurden z. T. schwere symptomatische Hypokalzämien beobachtet, sodass hier vor Therapiebeginn eine ausreichende Versorgung mit Calcium und mit Vitamin D gemäß den entsprechenden Fachinformationen dieser Medikamente sicherzustellen ist. Es wäre ein falsches Signal, wenn diese Patienten den Eindruck bekommen würden, Calcium sei unwichtig.

Auch die beiden jetzt publizierten Analysen können die Frage der für die Knochenfestigkeit optimalen Calcium-Zufuhr und der damit verbundenen möglichen Risiken nicht ausreichend klären. Für eine Beantwortung dieser Frage bedarf es weiterer Studien. |

Literatur

[1] Tai V, Leung W, Grey A, Reid IR, Bolland MJ. Calcium intake and bone mineral density: systematic review and meta-analysis. BMJ. 2015 Sep 29;351

[2] Bolland MJ, Leung W, Tai V, Bastin S, Gamble GD, Grey A, Reid IR. Calcium intake and risk of fracture: systematic review. BMJ. 2015 Sep 29;351

[3] Tang BM, Eslick GD, Nowson C, Smith C, Bensoussan A. Use of calcium or calcium in combination with vitamin D supplementation to prevent fractures and bone loss in people aged 50 years and older: a meta-analysis. Lancet. 2007,370:657-66

Autor

Prof. Dr. med. Johannes Pfeilschifter

Facharzt für Innere Medizin und Endokrinologie und Diabetologie, Klinische Schwerpunkte: Osteologie, Endokrinologie

Koordinator der Leitlinienkommission Osteoporose des Dachverbands Osteologie, Beiratsmitglied der Sektion Osteologie der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie, Mitglied im wissenschaftlichen Beirat des Bundesselbsthilfeverbands für Osteoporose

Ruhr-Universität Bochum, Abteilung für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie, Springorumallee 5, 44795 Bochum.

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