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Kein Zusatznutzen und nun?

Marktrücknahme von Insulin degludec verunsichert Diabetiker

Foto: abidika – Fotolia.com
Seit 1. Januar 2011 ist das Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes (AMNOG) in Kraft. Ein wesentlicher Bestandteil des Gesetzes ist die frühe Nutzenbewertung, bei der die Hersteller für neue Wirkstoffe Nachweise über den Zusatznutzen für die Patienten vorlegen müssen. Für Arzneimittel ohne Zusatznutzen wird ein Festbetrag festgesetzt oder der Hersteller vereinbart mit der gesetzlichen Krankenversicherung einen Erstattungsbetrag. Gelingt keine Einigung, bleibt den Herstellern nur, ihr Präparat vom Markt zu nehmen. Leid­tragende sind die Patienten, für die Wirkstoffe dann nicht mehr zu Verfügung stehen. Einer der Arzneistoffe, die dieses Schicksal jüngst ereilt hat, ist das Ultralangzeitinsulin degludec.

M. (17) ist Typ-1-Diabetiker. Er erhält derzeit eine intensivierte konventionelle Insulintherapie mit Tresiba® (Insulin degludec) als Basalinsulin und Novorapid® (Insulin aspart) als Mahlzeiteninsulin. Die Diagnose Tpy-1-Diabetes erhielt er mit knapp 14 Jahren. Mit der aktuellen Kombination aus zwei Insulinen im Pen kommt er gut zurecht. Verunsichert kommt er in die Apotheke mit einem Rezept über seinen Quartalsbedarf Tresiba®, das sein Diabetologe beim letzten Kontrolltermin vor drei Wochen verordnet hatte. Er habe in einer Diabetiker-Facebook-Gruppe gelesen, dass Tresiba® vom Markt genommen werden soll. Warum sei ihm allerdings nicht ganz klar. Da sein Diabetologe derzeit im Urlaub ist, wolle er sich in der Apotheke mal erkundigen. Er berichtet, dass er vor der Therapie mit Tresiba® mit anderen Basalinsulinen immer wieder Probleme mit der Einstellung hatte und seine Werte häufig zu hoch waren. Nach mehreren Wechseln ist er dann schließlich bei Tresiba® gelandet und sehr zufrieden damit. Jetzt sei er unsicher, ob er das Präparat weiter verwenden soll. So eine Marktrücknahme gebe es ja nicht ohne Grund.

Fakten-Check:

Geschlecht: männlich

Alter: 17 Jahre

Diagnose: Typ-1-Diabetes

Problembeschreibung: Insulin degludec, auf das er eingestellt ist, wird vom Markt genommen. Bei anderen Präparaten gab es in der Vergangenheit Probleme.

Jugendliche scheinen zu profitieren

Tresiba® (Insulin degludec) hat von allen derzeit verfügbaren Insulinen (siehe auch DAZ 2015, Nr. 34, S. 30: „Lang, kurz oder mittel: Insuline und Insulinanaloga für jeden Bedarf“)die längste Wirkdauer (> 40 Stunden) und ein extrem flaches Wirkprofil ohne Wirkmaximum (s. Abb). In Studien traten unter Insulin degludec seltener nächtliche Hypoglykämien auf als unter anderen langwirksamen Insulinanaloga. Nächtliche Hypoglykämien sind in der Diabetes-Therapie gefürchtet, da sie oft unbemerkt bleiben und ein Vorbote für schwere Hypoglykämien sein können.

Foto: modifizierte Grafik des Herstellers Novo Nordisk

Insulin degludec senkt kontinuierlich den Blutzuckerspiegel über einen langen Zeitraum.

Nach Erfahrungsberichten von Diabetologen scheinen insbesondere Kinder und Jugendliche von Insulin degludec zu profitieren. Sie haben häufig Schwierigkeiten mit regelmäßiger Insulingabe und nach ersten klinischen Erfahrungen scheint sich das zeitlich flexibel injizierbare Insulin degludec in dieser Altersgruppe besonders bewährt zu haben. So werden Berichten zufolge weniger Hyperglykämien mit Ketonbildung im Alltag gesehen.

Kein Zusatznutzen

So wie alle neu eingeführten Wirkstoffe musste sich Insulin degludec der frühen Nutzenbewertung unterziehen. Dabei kam der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) zu dem Schluss, dass Insulin degludec keinen Zusatznutzen gegenüber der Vergleichstherapie mit Humaninsulin bringt. Auf einen Erstattungsbetrag konnten sich der Hersteller und der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen nicht einigen. Nach Wunsch des GKV-Spitzenverbandes hätte der Preis für eine Therapie mit Insulin degludec auf das Preisniveau der Therapie mit Humaninsulin gesenkt werden müssen, so wie es übrigens für die anderen Insulinanaloga auch der Fall ist. Daraufhin hat sich der Hersteller entschlossen, das Präparat in Deutschland Ende September vom Markt zu nehmen. Eine Entscheidung, die von Fach- und Patientenverbänden kritisiert wurde.

Rat aus der Apotheke

M. kann zuerst einmal beruhigt werden. Die Marktrücknahme erfolgt aus rein wirtschaftlichen und nicht aus medizinischen Gründen. Er soll seine Therapie also fortsetzen und sie keinesfalls eigenmächtig umstellen oder absetzen. Tresiba® ist laut Auskunft des Herstellers noch bis Ende September in Deutschland verfügbar. Die Belieferung des aktuellen Rezeptes stellt also auch kein Problem dar. M. soll allerdings möglichst schnell einen Termin bei seinem Diabetologen vereinbaren und eine Umstellung der Therapie beispielsweise auf eines der beiden anderen langwirksamen Insuline Insulin glargin (Lantus®) oder Insulin detemir (Levemir®) besprechen. Während der Umstellungsphase muss der Blutzucker generell besonders engmaschig kontrolliert werden. Da es bei M. in der Vergangenheit mit anderen Insulinen Probleme gegeben hatte, gilt das bei ihm besonders. Auch eine mehrmalige Gabe des Basalinsulins kann notwendig werden. Allerdings kann es auch gut sein, dass das die Einstellung jetzt, wo er etwas älter ist, besser gelingt als einige Jahre zuvor während der Pubertät.

Rat aus der Apotheke:

Therapieumstellung: möglichst schnell mit dem Arzt eine Umstellung planen, mögliche Alternativen, z. B. Lantus® oder Levemir®

Alternativ: Therapie mit einer Insulinpumpe in Erwägung ziehen

Was wäre, wenn ...

... mit einem anderen Basalinsulin keine zufrieden­stellende Einstellung möglich ist?

Eine weitere Therapieoption bei Typ-1-Diabetikern ist die Insulinpumpentherapie. Hier wird der Körper über eine elektrische Pumpe kontinuierlich mit dem notwendigen Insulin versorgt. Dabei werden nur kurzwirksame Insuline verwendet (wie Insulin aspart oder Insulin lispro). Über einen Katheter wird eine zuvor programmierte Dosis abgegeben und ersetzt so das langwirksame Insulin. Zu den Mahlzeiten oder bei erhöhtem Bedarf kann per Knopfdruck ein zusätzlicher, zuvor berechneter Bolus verabreicht werden. Das ermöglicht eine sehr individuelle Insulintherapie mit großer Flexibilität. Nächtliche Hypoglykämien und morgendliche Blutzuckerspitzen lassen sich so leichter vermeiden. Insbesondere Kinder und Jugendliche, die durch unregelmäßige Mahlzeiten und Bewegung oft einen schwankenden Insulinbedarf haben, profitieren häufig von der Pumpentherapie.

... der Diabetologe einen größeren Vorrat an Tresiba® ­verordnen möchte?

Wenn alle Rezeptformalien und Regelungen zur Mehrfachverordnung eingehalten werden, kann der Arzt auch größere Mengen verordnen. Bei der Abgabe wäre dann verstärkt auf die Laufzeit zu achten. Die einzige und wahrscheinlich ausschlaggebende Einschränkung ist sein Budget pro Quartal. Zusätzlich kann es sein, dass die gesetzlichen Krankenkassen bei verordneten Mengen, die einen Quartalsbedarf überschreiten, den Arzt kontaktieren und dieses Verordnungsverhalten hinterfragen. Deshalb ist in der Regel nicht damit zu rechnen, dass Vertragsärzte mehr als einen Quartalsbedarf verordnen, möglich ist es jedoch, unter Berücksichtigung der Budget-Limitation (und der Gefahr von den gesetzlichen Krankenkassen hinterfragt zu werden). Grundsätzlich kann auch ein Arzneimittel, das bereits als „AV = außer Vertrieb“ gekennzeichnet ist, weiter verordnet und abgegeben werden, sofern Restbestände vorhanden sind und die Verkehrsfähigkeit gegeben ist.

Eine solche Verordnung auf Vorrat verschiebt das Problem der Therapieumstellung allerdings nur in die Zukunft und löst es nicht.

... der Diabetologe vorschlägt, Tresiba® aus dem Ausland zu importieren?

Nach § 73 Arzneimittelgesetz ist ein Import unter anderem möglich, „wenn ein hinsichtlich des Wirkstoffs identisches und hinsichtlich der Wirkstärke vergleichbares Arzneimittel für das betreffende Anwendungsgebiet im Geltungsbereich des Gesetzes nicht zur Verfügung steht“. Ein Zustand der nach dem Vertriebsstopp gegeben wäre. Rein rechtlich stünde einem Import nichts entgegen.

Importe zulasten der GKV sind allerdings nur im Einzelfall zulässig und werden im Regelfall durch die Krankenkassen dem medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) vorgelegt, bevor eine Kostenübernahme zugesichert wird. Der Patient müsste also gemeinsam mit seinem Arzt einen Antrag auf Kostenübernahme des Imports stellen. Im Falle von Tresiba® ist ein Import aber eigentlich nicht vorgesehen, da in den Augen der Kostenträger ausreichend gleichwertige Therapien zur Verfügung stehen.

Es gab aber in der Vergangenheit auch schon andere Lösungsansätze. Bei dem Antiepileptikum Perampanel (Fycompa®), das ebenfalls nach negativer Nutzenbewertung vom deutschen Markt genommen wurde, wurden die Mehrkosten für den Import vom Hersteller getragen, so dass keine Zusatzkosten auf die Patienten zugekommen sind.

... der Patient sich an Protesten gegen die Marktrück­nahme beteiligen möchte?

Die Deutsche Diabeteshilfe hat Diabetiker zum Protest aufgerufen. Die Organisation macht auch Vorschläge, wie jeder einzelne sich engagieren kann. So gibt es beispielsweise auf der Plattform change.org eine Online-Petition an den GKV-Spitzenverband. Außerdem sollen Diabetiker ihre Bundestagsabgeordneten auf das Problem aufmerksam machen und bei ihrer Krankenkasse nach Optionen fragen. |

Autorin

Julia Borsch, Apothekerin, Studium an der Ludwig-Maximilians-Universität München, Redakteurin bei der Deutschen Apotheker Zeitung.

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