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Zwischen Systemversagen und Pragmatismus

Neue Rezept-Formalien in der Arzneimittelverschreibungsverordnung

Seit am 1. Juli dieses Jahres die neuen Regeln für das Ausfüllen von Arzneirezepten in Kraft traten, schlugen und schlagen die Wellen hoch. Von vielen Seiten gibt es mehr oder weniger gut gemeinte Ratschläge und Warnhinweise, was zu tun oder besser zu unterlassen sei und welche Gefahren vermeintlich oder tatsächlich drohten. Das Problem: So vielfältig die Wortmeldungen sind, so vielfältig und dementsprechend widersprüchlich sind ihre Inhalte. Die Verunsicherung an der Apothekenbasis ist groß, das Retaxationsgespenst allgegenwärtig. Aber auch bei den Ärzten rumort es.

Von Thomas Friedrich

Guter Wille – schlecht gemacht?

Dabei stand am Anfang doch nur der gute Wille des Gesetzgebers: Mit der Novelle der Arzneimittelverschreibungsverordnung (AMVV) soll die Arzneimitteltherapiesicherheit erhöht werden. Die Ergänzungen zielen auf die verbesserte Kommunikation zwischen Arzneimittel-verschreibender und Arzneimittel-abgebender Person, also zwischen Ärzten und Apothekern. Eine langgehegte Forderung der Apothekerschaft.

Hat also der Gesetzgeber seinen guten Willen schlecht umgesetzt? Nein!

Die Anforderungen an den zwingenden Inhalt einer ärztlichen Arzneimittelverschreibung wurden lediglich um den Vornamen und eine Telefonnummer erweitert. Der neue § 2 Abs. 1 AMVV lautet nun:

Die Verschreibung muss enthalten:

1. Name, Vorname, Berufsbezeichnung und Anschrift der Praxis oder der Klinik der verschreibenden ärztlichen, tierärztlichen oder zahnärztlichen Person (verschreibende Person) einschließlich einer Telefonnummer zur Kontaktaufnahme.

Es handelt sich also um Angaben, die dazu dienen, die verschreibende Person leichter kontaktieren zu können. Nicht mehr und nicht weniger.

Trotzdem titelt zum Beispiel ein namhafter Software-Anbieter eines Praxisverwaltungssystems (PVS) für Ärzte in einer Mitteilung an seine Kunden: „Bürokratiewahnsinn Rezeptstempel“. Was es damit auf sich hat, dazu später.

Arzneimittelrezept als Abgabeerlaubnis

Zunächst vergegenwärtigen wir uns, was die AMVV eigentlich ist. Sie regelt in Ausführung des Arzneimittelgesetzes die Anforderungen an eine ärztliche Verschreibung, auf deren Grundlage die Apotheke verschreibungspflichtige Arzneimittel abgeben darf. Sie definiert also den Inhalt eines Rezeptes als Legitimationsgrundlage. In der Regel muss dieser in geschriebener oder elektronischer Form (sowie ausnahmsweise auch fernmündlich) übermittelt werden und in der Apotheke vor Abgabe eines verschreibungspflichtigen Arzneimittels vorliegen. Zu den weiteren Einzelheiten enthält die AMVV nichts. Also weder ob bestimmte Muster für die Anordnung des Inhalts verwendet noch ob die Informationen handschriftlich, maschinenschriftlich oder per Stempel aufgetragen werden müssen. Im Grunde reicht als Abgabeerlaubnis ein weißes Blatt Papier mit per Hand geschriebenen Angaben aus.

Arzneimittelrezept als GKV-Gutschein

Die Verunsicherungen entstehen offenbar erst im System der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), denn hier bekommt das Rezept eine zweite Funktion. Es ist nicht mehr nur eine Abgabeerlaubnis, sondern zugleich auch ein geldwerter Gutschein. Diese Gutscheinfunktion ist Bestandteil des im GKV-System vorherrschenden Sachleistungsprinzips. Und jetzt wird es spannend! Der Anspruch der GKV-Versicherten auf Versorgung im Krankheitsfall nach dem Sachleistungsprinzip ist in § 2 SGB V geregelt. Im selben Paragrafen wird zugleich bestimmt, dass die Krankenkassen über die Erbringung der Sach- und Dienstleistungen Verträge mit den Leistungserbringern schließen. Ein Teilbereich dessen, was in solchen Verträgen geregelt werden muss, sind die inhaltlichen und formalen Anforderungen an das ärztliche Arzneimittelrezept als GKV-Gutschein.

Krankenkassen machen ihre „Hausaufgaben“ nicht

Zwar werden auf Bundesebene zwischen GKV-Spitzenverband und Kassenärztlicher Bundesvereinigung (KBV) formale und inhaltliche Anforderungen an die Verordnung von Arzneimitteln in § 29 Bundesmantelvertrag - Ärzte (BMV-Ä) sowie in dessen Anlage zum „Muster 16: Arzneiverordnungsblatt“ geregelt. Aber die Inhalte der AMVV werden nicht aufgegriffen, auch nicht mit Bezug zum dort erwähnten Begriff „Vertragsarztstempel“. Gleichwohl geht die Arztwelt verbreitet davon aus, dass sich die Angaben nach AMVV im Arztstempel wiederfinden müssten. Eine belastbare Rechtsgrundlage gibt es dafür nicht. Die Vorgaben für den zwingenden Inhalt eines Arztstempels sind nicht bundeseinheitlich geregelt, sondern auf der Ebene der KV-Bezirke föderal zwischen den Kassenärztlichen (Landes-)Vereinigungen und den Landesverbänden der Krankenkassenarten in sogenannten Gesamtverträgen. Eine Analyse zeigt, dass die Vorgaben oft veraltet und wegen fehlender Anpassung an die AMVV unvollständig und untereinander uneinheitlich sind. Entsprechend uneinheitlich sind auch die aktuellen Vorgaben für den Stempelaufdruck, die von den Kassenärztlichen Vereinigungen einseitig vorgegeben werden. Die KV Schleswig-Holstein verlangt unter anderem stets die Lebenslange Arztnummer (LANR) und die Betriebsstättennummer (BSNR), die KV Hamburg verzichtet auf beide, die KV Nordrhein gibt nur die LANR im Stempel vor. Die KV Berlin verlangt hingegen zwingend die BSNR im Stempel und verweist zugleich darauf, dass die LANR nicht im Stempel erscheinen dürfe. Der „Bürokratiewahnsinn Rezeptstempel“ erscheint also hausgemacht und hat mit der AMVV nur bedingt etwas zu tun.

Kasseninduziertes Systemversagen

Die Krankenkassen schließen aber nicht nur Verträge mit den Ärzteverbänden, in denen Inhalt und Form der ärztlichen Arzneimittelverordnung – wie dargestellt durchaus widersprüchlich und unvollständig – geregelt werden, sondern auch Arzneilieferverträge mit den Apothekerverbänden. In ihnen werden zahlreiche Anforderungen an ein ordnungsgemäß ausgestelltes Rezept statuiert, wobei es auch hierbei zu föderalen Abweichungen kommt. Einige davon sind alternierend vorgegeben, andere zwingend, wie zum Beispiel der Stempel. Das ist insofern erstaunlich, weil dessen Inhalt gar nicht einheitlich geregelt ist. Letztlich ist dies ein doppelter Fall von Systemversagen, in dessen Zentrum die Krankenkassen stehen. Sie schließen mit den Beteiligten der Arzneimittelversorgung jeweils nur bilaterale Verträge, in denen aber durchaus verbindliche Vorgaben zulasten Dritter geregelt werden. Idealtypisch sollte man generell davon ausgehen können, dass die Kassen sich in ihrer Scharnierfunktion mit den Verbänden der Ärzte und Apotheker an einen Tisch setzen würden, um die Anforderungen an eine gesetzeskonforme Umsetzung der AMVV und ihr systemgerechtes Funktionieren in der GKV zu organisieren. Stattdessen räsonieren einige von ihnen bereits über Retaxationsmöglichkeiten. Das kasseninduzierte Systemversagen ist offensichtlich.

Umsetzungsprobleme trotz Informationen durch die Verbände

Stattdessen mussten die Spitzenverbände der Leistungserbringer jeder für sich agieren. Die KBV informierte die Anbieter für die PVS über die erforderlichen Anpassungen, auch die Landesverbände haben – oft in Abstimmung mit den jeweiligen Landesapothekerverbänden – die Ärzte über die erforderlichen erweiterten Anforderungen informiert. Ob die auch für den ambulanten Bereich verschreibenden Krankenhausärzte gleichermaßen erreicht wurden, ist zweifelhaft. Jedenfalls sind viele Rezepte, die in Apotheken vorgelegt werden, unvollständig und somit im formalen Sinne ungültig. Eine Kieler Apotheke berichtete, dass von den 300 im Sonntagsnotdienst vorgelegten Rezepten 295 nicht vollständig formgerecht ausgestellt waren. Das betraf nicht nur den ausgeschriebenen Vornamen oder die Telefonnummer, sondern vor allem auch die Kennzeichnung der verschreibenden Person bei mehreren Namen im Praxisstempel. Ursache sind nicht nur fehlende Kenntnisse und fehlender Umsetzungswille bei den Ärzten, sondern oft auch technische Probleme. So kommt es beim Aufdrucken im in der Größe limitierten Rezeptfeld auf dem Muster 16 zu Zeilenverlusten, weil insbesondere Nadeldrucker die Schriftgröße nicht beliebig nach unten skalieren können. Die KBV und einige KV empfehlen in diesen Fällen handschriftliche Ergänzungen. Und damit sind wir mitten drin in den Fragen, wie mit den auftretenden Problemen – möglichst pragmatisch – umgegangen werden kann.

Ergänzungs- und Korrekturmöglichkeiten des Arztes

Für die Ärzte gilt: Soweit die ärztliche Software nicht in der Lage ist, alle erforderlichen Angaben aufzudrucken, oder der vorhandene Stempel (noch) nicht alle Angaben enthält, können diese vom Arzt auch handschriftlich aufgetragen werden. So auch die Empfehlung der KBV und einiger Kassenärztlichen Vereinigungen. Ein (nochmaliges) Abzeichnen ist nicht erforderlich. Es handelt sich bei der kombinierten Ausstellung nicht um eine (nachgelagerte) Änderung und Ergänzung im Sinne von § 29 Abs. 10 BMV-Ä, zumal die darin geregelten Vorgaben für die Rezeptausstellung, wie dargelegt, überhaupt nicht betroffen sind. Und die AMVV lässt alle drei Varianten – Handschrift, Druck oder Stempel – zu. Die Hervorhebung der verschreibenden Person kann z. B. durch wiederholtes Auftragen des Namens oder durch Ankreuzen oder Unterstreichen im Stempel bzw. Aufdruck erfolgen. Bei der Telefonnummer muss es sich um eine Rufnummer handeln, unter der die verschreibende Person zu erreichen ist, also z. B. auch eine Zentrale, die weiterleiten kann.

Handlungsempfehlungen für die Apotheke

Wird dagegen ein im Sinne der AMVV unvollständiges Rezept in der Apotheke vorgelegt, gibt es drei Handlungs­optionen:

1.) Da es sich formal um ein ungültiges Rezept handelt, kann es zurückgewiesen werden. Apotheken tun sich mit dieser Variante schwer, weil sie ihre Verpflichtung zur Versorgung des Patienten im Vordergrund sehen. Von einigen Krankenkassen und leider auch der Rechtsprechung mit ihrer Theorie vom Nichtzustandekommen eines Vertrages bei nicht ordnungsgemäß ausgestelltem Rezept mit der Rechtsfolge Nullretaxation wurde diese Patientenzuwendung nicht goutiert. Deshalb sollte die Apotheke in Abhängigkeit des Rezeptwertes und des aus der Vergangenheit bekannten Verhaltens der Krankenkasse, z. B. der DAK, diese Variante prüfen. Im Einzelfall kann es auch gegenüber einem sich hartnäckig verweigernden Arzt die geeignete erzieherische Maßnahme sein.

2.) Die Apotheke kann das unvollständige Rezept auch als eine unklare Verordnung nach § 17 Abs. 5 Satz 2 ApBetrO behandeln, die Unklarheit durch Rücksprache mit dem Arztklären, das Rezept entsprechend ergänzen und muss es dann zusätzlich abzeichnen. Gelegentlich wird in diesem Zusammenhang behauptet, weil die AMVV ausdrücklich nur bestimmte Heilungsmöglichkeiten für den Apotheker regelt, seien darüber hinausgehende nicht erlaubt. Liest man den § 2 Abs. 6 AMVV gründlich, wird deutlich, dass die dort geregelten Fallkonstellationen (fehlendes Geburtsdatum oder fehlende Angaben zum Ausfertigungsdatum, zur Darreichungsform oder zur Gebrauchsanweisung bei Rezepturen) im dringenden Einzelfall auch ohne Rücksprache mit dem Arzt ergänzt werden dürfen. Sie erweitern in diesen Fällen die Handlungsoptionen nach ApBetrO und schränken sie nicht etwa ein.

3. Die Apotheke kann das Rezept zur Korrektur an die Arztpraxis zwecks Ergänzung zurückreichen – in diesem Fall sollte die Ergänzung durch den Arzt dann doch vorsorglich vom Arzt auch abgezeichnet werden.

Zwischenfazit: Es kann also gültige Rezepte mit handschriftlicher Ergänzung ohne Abzeichnen geben oder mit Abzeichnen durch den Apotheker oder durch den Arzt. Welche Fallkonstellation ursächlich war und welchen Weg das Rezept genommen hat, ist ihm im Nachhinein nicht mehr anzusehen.

Retaxationsgefahr?

Angesichts der Versäumnisse der Krankenkassen bei der Umsetzung der AMVV im GKV-System sollten sich Retaxationen durch Krankenkassen grundsätzlich verbieten. Gleichwohl lehren die Vergangenheit und das aktuelle Retaxationsgebaren einzelner Krankenkassen, dass auch bei diesem Thema entsprechende Versuche nicht auszuschließen sind.

Hilfreich ist in diesem Zusammenhang, dass der Deutsche Apothekerverband (DAV) für die Ersatzkassen einen zunächst auf drei Monate befristeten Retaxationsverzicht erwirken konnte. Der vdek teilt in einem Schreiben an den DAV mit, dass die Ersatzkassen keine Retaxationen beim Fehlen der Telefonnummer bzw. einer fehlenden oder unvollständigen Angabe des Vornamens der verschreibenden Person für eine Übergangszeit von drei Monaten – mithin für Verordnungen vom 01.07.2015 bis 30.09.2015 – vornehmen werden. Das Fatale an diesem „Spatz in der Hand“ ist die mitschwingende Annahme, dass das Fehlen einzelner Angaben – und über den Vornamen und die Telefonnummer hinaus – überhaupt ein Retaxationsgrund sein könnte. Kontrovers diskutiert wird in diesem Zusammenhang auch die Frage, ob der Ersatzkassenvertrag eine Korrektur, wie oben als Variante 2 beschrieben, zulässt. Die Verneinung stützt sich auf § 4 Abs. 2 vdek-AVV, weil dort nur die Heilung konkret aufgezählter Punkte erlaubt wird. Dem ist zu widersprechen: Die im Ersatzkassenvertrag geregelten Heilungsmöglichkeiten dürfen – vergleichbar den Sonderfällen der AMVV – ohne Rücksprache mit dem Arzt vorgenommen werden. Die weiterreichenden Befugnisse nach ApBetrO nach Rücksprache mit dem Arzt werden dadurch nicht eingeschränkt.

Differenziert ist das Bild bei den Primärkassen. Gemäß § 3 Abs. 3 Satz 4 ALV Schleswig-Holstein können Formfehler im Einzelfall vom Apotheker – ohne Einschränkung – geheilt und durch Abzeichnung kenntlich gemacht werden. Nach § 3 Abs. 1 ALV Hamburg können bestimmte Formfehler durch den Apotheker ohne Rücksprache mit dem Arzt, andere nach Einholung entsprechender Auskünfte von der Arztpraxis geheilt und abgezeichnet werden. Außerdem bestehen zusätzliche Heilungsmöglichkeiten im Taxbeanstandungsverfahren, wenn Formfehler übersehen wurden, die Krankenkasse aber von ihrer Sachleistungsverpflichtung gegenüber ihrem Versicherten durch die Arzneimittelab­gabe frei geworden ist. Welche Regelungen in den übrigen Ländern gelten, muss anhand der jeweiligen Verträge ermittelt werden. Die hier erörterten Auslegungsgrundsätze ­gelten entsprechend. |

Autor

Dr. Thomas Friedrich ist Geschäftsführer des Apothekerverbands Schleswig-Holstein und des Apothekervereins Hamburg

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