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Medizin
Rätselhafte Schmerzen
Das Fibromyalgie-Syndrom besser verstehen
Betroffen sind meistens Frauen im mittleren Lebensalter; aber auch jüngere und ältere Frauen und Männer können ein FMS entwickeln. Die Prävalenz liegt laut der bisher größten deutschen bevölkerungsbasierten Stichprobe bei 3,8% [1].
Diagnose auch ohne Tender Points
Die Diagnose wurde international bis vor Kurzem nach den 1990 vom American College of Rheumatology (ACR) definierten Kriterien gestellt [2]. Demnach konnte ein Fibromyalgie-Syndrom dann diagnostiziert werden, wenn chronische Schmerzen für länger als drei Monate in allen vier Körperquadranten bestanden und mindestens elf von 18 definierten Sehnenansatzpunkten (engl. tender points) auf Palpation schmerzhaft waren. An diesen Kriterien wurde kritisiert, dass den Tender Points zu viel Gewicht gegeben wurde und dass die eigentlichen und typischen Symptome des FMS nicht berücksichtigt wurden. Die erste deutsche S3-Leitlinie zum FMS führte daher die gleichberechtigte symptombasierte FMS-Diagnose ein (für die aktuelle Version von 2012 siehe www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/041-004.html). Zwischenzeitlich wurden auch die ACR-Kriterien revidiert, und die FMS-Diagnose kann auch ohne Tender Points gestellt werden [3].
Schmerzleitende Nerven sind überaktiv
Die Ursachen des Fibromyalgie-Syndroms können auch heute noch nicht eindeutig genannt werden. Zahlreiche biologische, lebensgeschichtliche und psychische Faktoren wurden auf einen möglichen pathophysiologischen Zusammenhang mit dem FMS untersucht. Als gesichert gelten ein gehäuftes Vorkommen von Missbrauch im Kindes- und Erwachsenenalter [4], aber auch Lebensstilfaktoren wie Rauchen, Übergewicht und mangelnde Bewegung [5]. Studien mit funktioneller Kernspintomographie zeigten eine veränderte zentrale Schmerzverarbeitung im Sinne einer Schmerzverstärkung an [6, 7]. Die am meisten verbreitete Vorstellung zur Pathophysiologie des FMS ist, dass es die gemeinsame Endstrecke verschiedener pathogenetischer Faktoren bei entsprechender genetischer und lebensgeschichtlicher Prädisposition ist, die allesamt in eine Störung der zentralen Schmerzverarbeitung münden [5, 8]. In den letzten Jahren mehren sich allerdings Befunde, die auf mögliche periphere Schmerzauslöser hinweisen. Zum einen wurde gezeigt, dass das Vorhandensein von regionalen myofascialen Schmerzen oft der Entwicklung eines Fibromyalgie-Syndroms vorausgeht [9].
Zum anderen wurde fast zeitgleich von mehreren Arbeitsgruppen eine Reduktion der Hautinnervation bei Patienten mit Fibromyalgie gezeigt [10 –15]. Dies war unerwartet, da FMS-Patienten selten auf die Haut projizierte Schmerzen haben, sondern die Schmerzen tief im Gewebe verspüren. Ein Erklärungsansatz ist, dass das Verschwinden von Nervenfasern aus der Haut nur ein Zeichen einer zugrunde liegenden Funktionsstörung ist, die mit der Zeit zu einer Rarefizierung der Hautinnervation führt. In der Tat konnte mit der Methode der Mikroneurographie nachgewiesen werden, dass schmerzleitende Nerven von FMS-Patienten überaktiv sind und sich deutlich von Nerven gesunder Personen entscheiden [16]. Sie unterschieden sich übrigens auch in ihren elektrischen Eigenschaften von peripheren Nerven von Patienten mit Small-fiber-Neuropathie (SFN, einer Neuropathie, die nur die kleinen, unbemarkten Axone betrifft). Auch diese Patienten leiden an Schmerzen, allerdings typischerweise an in der Haut verspürten Brennschmerzen. Sowohl bei SFN als auch bei FMS ist also die Hautinnervation reduziert, aber die pathologischen Eigenschaften der Nozizeptoren unterscheiden sich zwischen den beiden Erkrankungen. Die aktuelle Hypothese zur Schädigung des peripheren Nervensystems beim FMS lautet, dass eine Funktionsstörung der Nozizeptoren besteht, möglicherweise durch Fehlfunktion eines Ionenkanals, die wahrscheinlich nicht nur Hautnerven, sondern afferente Nerven auch aus dem tiefen Gewebe betrifft. Diese würde dann die tief im Gewebe empfundenen Schmerzen erklären. Was die Ursache dieser Funktionsstörung sein könnte, ob erworben, genetisch, multifaktoriell, ist noch unklar.
Auch das Immunsystem spielt wahrscheinlich eine Rolle in der Pathogenese des FMS. Patienten mit Fibromyalgie-Syndrom haben erniedrigte Spiegel des Zytokins Interleukin 4 (IL-4) [17]. IL-4 hat antientzündliche und analgetische Eigenschaften, so dass sein Fehlen sehr wohl mit einer Überempfindlichkeit für Schmerzen assoziiert sein kann. Die größte Aufgabe in der Pathophysiologieforschung des FMS wird sein, die verschiedenen Aspekte zu gewichten und in einen Zusammenhang zu bringen, wie auch eventuelle Subgruppen anhand der Pathophysiologie zu identifizieren.
Die Diagnose eines FMS darf nicht leichtfertig gestellt werden. Im Gegenteil, bei Verdacht auf ein FMS ist es wichtig, mögliche Differenzialdiagnosen sicher auszuschließen, die anders behandelt werden müssten. Diese kommen u. a. aus den Fachgebieten Neurologie, Innere Medizin, Orthopädie und Psychiatrie. Je nach im Vordergrund stehendem Symptom gibt es zahlreiche differenzialdiagnostische Möglichkeiten. Tabelle 1 gibt eine Zusammenfassung der Differenzialdiagnosen. Tabelle 2 fasst das in der aktuellen S3-Leitlinie empfohlene Mindestprogramm für die FMS-Diagnostik zusammen.
Differenzial-diagnose | Unterschied zum Fibromyalgie-Syndrom |
---|---|
entzündlich-rheumatische Erkrankungen (z. B. rheumatoide Arthritis) | Gelenkschwellung oder -rötungEntzündungskonstellation im Laborhochtitrige Antikörper |
Polymyalgia rheumatica | akuter/subakuter BeginnAllgemeinsymptomeprompt Steroid-responsivEntzündungskonstellation im Labor (hohe BSG) |
Hypothyreose | LethargieGewichtszunahmeMyxödembasales Thyreoidea-stimulierendes Hormon erhöht |
Hyperkalzämie (z. B. Hyperparathyreo-idismus) | PolydypsiePolyurieNierensteineAppetitlosigkeitBauchschmerzenObstipationCalcium erhöht |
Polymyositis/Dermatomyositis | Paresen Muskelatrophienakuter/subakuter Krankheitsbeginngegebenenfalls HautveränderungenEntzündungskonstellation im LaborCreatinkinasämie |
Myopathien | ParesenMuskelatrophienauffällige ElektromographieCreatinkinasämie |
Alkoholmyopathie | akute ParesenAlkoholabusus in der AnamneseRhabdomyolyse |
metabolisch | belastungsabhängige Muskelschmerzen |
medikamentös-toxisch | Medikamentenanamnese (z. B. Statine) |
Myasthenia gravis | PtoseDoppelbilderTages- und Belastungs-abhängige ParesenSchluck- und Sprechstörungen |
Untersuchung | |
---|---|
ausführliche Anamnese | inklusive Medikamentenanamnese, Begleitsymptome, psychosoziale Stressoren, Alltagsbeeinträchtigung, Krankheitsvorstellungen |
Schmerzskizze | |
vollständige körperliche Untersuchung | |
Labor-Untersuchungen | Blutsenkungsgeschwindigkeit (BSG), C-reaktives Protein (CRP), kleines Blutbild |
Creatinkinase | |
Calcium | |
basales Thyreoidea-stimulierendes Hormon | |
ohne klinische Hinweise ist eine routinemäßige Untersuchung auf mit entzündlich-rheumatischen Erkrankungen assoziierten Autoantikörpern nicht sinnvoll | |
in Abhängigkeit von der Anamnese und dem körperlichen Untersuchungsbefund können weitere Laboruntersuchungen sinnvoll sein | |
weiterführende apparative Diagnostik | Bei typischem Beschwerdekomplex und fehlendem klinischem Hinweis auf internistische, orthopädische oder neurologische Erkrankungen (Anamnese und klinische Untersuchung ohne Hinweis auf andere Erkrankungen als Ursachen von Schmerzen und Müdigkeit, unauffälliges Basislabor) wird empfohlen, keine weitere technische Diagnostik (weiterführendes Labor, Neurophysiologie, Bildgebung) durchzuführen. |
fachärztliche/fachpsychologische Untersuchung | bei folgenden Konstellationen wird eine fachärztlich-fachpsychologische Untersuchung empfohlen: aktuellen schwerwiegenden psychosozialen Stressorenaktuellen oder früheren psychiatrischen Behandlungen und/oder Einnahme von Psychopharmakaschwerwiegenden biografischen Belastungsfaktorenmaladaptiver Krankheitsverarbeitung |
Bei der Behandlung Präferenzen und Komorbiditäten des Patienten berücksichtigen
Die Behandlung des Fibromyalgie-Syndroms besteht aus medikamentösen und nicht-medikamentösen Maßnahmen, einschließlich psychotherapeutischer und physikalischer Therapieoptionen. So wird nach Leitlinie eine individuell angepasste Kombination aus den verschiedenen Bereichen empfohlen, bei schweren Verläufen auch in Form eines professionell erstellten multimodalen Therapieprogramms [18].
Amitriptylin in einer Tagesdosis von 25 mg bis 75 mg ist beim FMS in zahlreichen Studien untersucht und als wirksam befunden worden, hat aber für diese Indikation weltweit noch keine Zulassung [19]. Von der US-amerikanischen Zulassungsbehörde FDA sind zur Therapie des FMS die Wirkstoffe Pregabalin, Duloxetin und Milnacipran zugelassen worden [20], jedoch nicht von der europäischen Zulassungsbehörde EMA. Die aktuelle Studienlage mit meist kurzer Studiendauer erlaubt kaum Aussagen über die Langzeitwirkung und Nebenwirkungen der Medikation bei FMS, so dass der Einsatz von Pharmaka nur unter regelmäßiger Überprüfung von Risiken und Nutzen für den Patienten empfohlen wird. Tabelle 3 gibt eine Übersicht über die empfohlenen Medikamente beim Fibromyalgie-Syndrom [21].
Substanz | Dosis |
---|---|
Amitriptylin 1 | 25 bis 50 mg/d |
Duloxetin 1, 2 | 60 bis 120 mg/d |
Pregabalin 1, 3 | 300 bis 600 mg/d |
Fluoxetin 1, 3 | 20 bis 60 mg/d |
Paroxetin 1, 3 | 20 mg/d |
1 in Deutschland nicht zur Therapie des FMS zugelassen
2 bei komorbider Depression oder Angststörung, ansonsten offene Empfehlung
3 offene Empfehlung [21]
|
Unter den nicht-medikamentösen Verfahren wird in erster Linie aerobes Ausdauertraining empfohlen sowie zeitlich begrenzt auch Ganzkörperwärmetherapie und Balneo- bzw. Spa-Therapie [22]. Auch hier sollte die Wirksamkeit regelmäßig überprüft werden. Verfahren wie Tai Chi, Qi-Gong oder Akupunktur können innerhalb eines multimodalen Therapiekonzepts erwogen werden [23]. Unter den psychotherapeutischen Behandlungsverfahren wird eine zeitlich befristet angewendete kognitive Verhaltenstherapie empfohlen [24].
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass es zwar immer noch viele Rätsel um das Fibromyalgie-Syndrom, dessen mögliche Subtypen und Ursachen gibt, dass jedoch die Berücksichtigung der Leitlinien zur Diagnostik und Therapie sowohl Patienten als auch Therapeuten mehr Sicherheit gibt. |
Literatur
[1] Häuser W, Schmutzer G, Glaesmer H, Brahler E. Prävalenz und Prädiktoren von Schmerzen in mehreren Korperregionen. Ergebnisse einer repräsentativen deutschen Bevölkerungsstichprobe. Schmerz 2009;23:461-470
[2] Wolfe F, Smythe HA, Yunus MB, Bennett RM, Bombardier C, Goldenberg DL, Tugwell P, Campbell SM, Abeles M, Clark P et al. The American College of Rheumatology 1990 Criteria for the Classification of Fibromyalgia. Report of the Multicenter Criteria Committee. Arthritis Rheum 1990;33:160-172
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[4] Häuser W, Kosseva M, Üçeyler N, Klose P, Sommer C. Emotional, physical, and sexual abuse in fibromyalgia syndrome: A systematic review with meta-analysis. Arthritis Care Res (Hoboken) 2011;63:808-820
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[13] Üçeyler N, Zeller D, Kahn AK, Kewenig S, Kittel-Schneider S, Schmid A, Casanova-Molla J, Reiners K, Sommer C. Small fibre pathology in patients with fibromyalgia syndrome. Brain 2013;136:1857-1867
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[26] Sommer C, Häuser W, Alten R, Petzke F, Späth M, Tölle T, Üçeyler N, Winkelmann A, Winter E, Bär KJ. Medikamentöse Therapie des Fibromyalgiesyndroms : Systematische Übersicht und Metaanalyse. Schmerz 2012;26:297-310
Autorin
Prof. Dr. Claudia Sommer ist Leitende Oberärztin und Professorin für Neurologie mit Schwerpunkt Neuromuskuläre Erkrankungen am Universitätsklinikum Würzburg. Sie erhielt ihre Ausbildung in Psychiatrie, Neuropathologie, experimentelle Anästhesie und Neurologie. Am Universitätsklinikum Würzburg leitet sie das neuromorphologische Labor. Forschungsinteressen sind die Pathophysiologie von neuropathischen Schmerzen und des Fibromyalgiesyndroms, von Polyneuropathien und von Antikörper-vermittelten Krankheiten. Professor Sommer ist an der Entwicklung von nationalen und internationalen Leitlinien zu diesen Arbeitsbereichen beteiligt.
Prof. Dr. Claudia Sommer
Neurologische Klinik
Universitätsklinikum Würzburg
Josef-Schneider-Str. 11
97080 Würzburg
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