Thema Leitlinien

Für die Praxis

Allgemeine Tipps zur Leitlinienrecherche

Von Mirjam Gnadt | Während es im Beitrag "Keine Scheu vor Leitlinien" (siehe Link unten) um die Entstehung und die Hintergründe, also die Theorie hinter den Leitlinien ging, geht es nun um die Praxis. Anhand von Fallbeispielen gibt es nun allgemeine Tipps zur Leitlinienrecherche.

Fallbeispiel 1

Selbstmedikation – Phytopharmaka bei unkomplizierten Harnwegsinfekten. Verschiedene Phytopharmaka oder Nahrungsergänzungsmittel mit pflanzlichen Inhaltsstoffen werden in der Apotheke zur Behandlung von unkomplizierten Harnwegsinfektionen immer wieder verlangt. Doch wie wird dieser Therapieansatz von den Fachgesellschaften bewertet? Die Bewertung der gegenwärtigen Studienlage zu einzelnen Phytopharmaka bezüglich Wirksamkeit und Sicherheit gestaltet sich für den Einzelnen im praktischen Alltag oftmals als zu zeitaufwendig. Daher lohnt es sich, auf der Internetseite der AWMF nach relevanten Leitlinien zu recherchieren (Tab. 4 im Beitrag "Keine Scheu vor Leitlinien", siehe Link unten). Unter Leitlinien-Suche findet man hier mit den Suchbegriffen „Blasenentzündung“ oder „Harnwegsinfektion“ zwei passende S3-Leitlinien, die per Definition als evidenzbasiert zu bezeichnen sind. Die Leitlinie „Harnwegsinfektion“ wurde federführend von der Deutschen Gesellschaft für Urologie in Abstimmung mit anderen Fachgesellschaften im Jahr 2010 erstellt und ist bis 2015 gültig. Mit einem Empfehlungsgrad B (= Empfehlung) und einem Evidenzgrad Ib (= belegt mit einer randomisiert-kontrollierten Studie) wird hier eine Antibiotika-Gabe auch bei akuter unkomplizierter Blasenentzündung als Therapie der Wahl empfohlen, da nachgewiesenermaßen die Symptome rascher abklingen als ohne Therapie. Durch ein Minderheitenvotum der DEGAM findet man jedoch die zusätzliche Angabe, dass auch die alleinige symptomatische Therapie eine Behandlungsoption darstellt (Empfehlungsgrad C = Empfehlung offen, Evidenzgrad Ia = belegt durch systematische Übersicht über kontrollierte Studien). Die Art der symptomatischen Therapie wird allerdings nicht weiter definiert [14]. Beim Lesen der zweiten relevanten Leitlinie „Brennen beim Wasserlassen“ stellt man fest, dass diese sich aktuell in Überarbeitung befindet (Erstellung 2009). In diesem Dokument findet man einen eigenen Abschnitt zur Anwendung konkreter Phytopharmaka (z.B. Preiselbeere, Cranberry, Bärentraube, diuretische wirksame Teedrogen). Auch hier wird die wissenschaftliche Basis derartiger Therapieansätze als sehr gering eingestuft und eine Empfehlung dementsprechend nicht ausgesprochen. Die überarbeitete Leitlinie mit an den aktuellen Wissensstand angepassten Empfehlungen bleibt abzuwarten [15].

Aspekt: Alternative Therapien

Auch bei Fragen zur wissenschaftlichen Datenlage bei alternativ-medizinischen Therapieansätzen und der daraus abgeleiteten Empfehlungen kann es sich lohnen, in der betreffenden Leitlinie nach diesbezüglichen Angaben zu recherchieren. Ist eine gewisse Studienlage vorhanden, findet man oftmals zumindest kurze Absätze, in denen zu pflanzlichen oder traditionell angewendeten Substanzen oder alternativen Therapieoptionen ein Statement der Fachgesellschaften abgegeben wird. Angaben zu sehr exotischen oder neuen Substanzen wird man in der Regel nicht finden. Achten Sie hierbei auf die Definition der Evidenz- und Empfehlungsgrade.

Fallbeispiel 2

Prophylaxe einer oralen Mukositis nach Radio-Chemotherapie. Welche Maßnahmen werden aktuell zur Prävention einer Radio- bzw. Chemotherapie-induzierten oralen Mukositis (= Entzündung der Mundschleimhaut) empfohlen? Existieren hierzu aktuelle Leitlinien? Welche Präparate können angeboten werden? Diese Fragestellungen könnten Ihnen in der Apotheke durchaus von Ärzte- oder Patientenseite entgegengebracht werden. Bei einer Recherche auf der Internetseite der AWMF finden Sie mit dem Suchbegriff „Mukositis“ eine S1-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Radioonkologie, die sich momentan in Überarbeitung befindet und nicht mehr gültig ist. Auch auf den Internetseiten der deutschen Arztbibliothek und der AkdÄ finden Sie keine weiteren aktuellen Leitlinien bzw. Therapieempfehlungen zum Thema. Daher recherchieren Sie in einem nächsten Schritt in Datenbanken für internationale Leitlinien mit dem englischen Suchbegriff „mucositis“ (Tab. 4 im Beitrag "Keine Scheu vor Leitlinien", siehe Link unten). In der Literaturdatenbank Pubmed erzielen Sie unter Zuhilfenahme des Filters „Practice Guideline“ unter Article types eine übersichtliche Trefferliste mit 15 Publikationen und finden hier eine aktuelle Leitlinie aus dem Jahr 2014 der onkologischen Fachgesellschaft Multinational Association of Supportive Care in Cancer and International Society of Oral Oncology (MASCC/ISOO). Die ausgesprochenen Empfehlungen in dieser Leitlinie orientieren sich am Grad der zugrunde liegenden Evidenz. Die Definition der Evidenzgrade I-V und deren Zuordnung zu den jeweiligen Empfehlungsgraden findet man wie üblich zu Beginn der Publikation. Die Empfehlungen für oder gegen konkrete Maßnahmen werden im Weiteren in Tabellen übersichtlich zusammengefasst. Zur Prophylaxe einer oralen Mukositis werden z.B. eine 30-minütige Kryotherapie mit Eiswürfeln bei Chemotherapie mit 5-Fluorouracil (Evidenzgrad II) oder eine Mundspülung mit Benzydamin bei Radiotherapie (Evidenzgrad I) empfohlen [16].

Aspekt: Spezielle Therapiebereiche

Wenn Sie bei einer Leitlinienrecherche in deutschen Suchportalen keinen zufriedenstellenden Erfolg haben (keine oder nur veraltete Leitlinien), zögern Sie nicht, auch in englischsprachigen Leitlinienbibliotheken zu recherchieren. Achten Sie dabei auf die korrekte englische Schreibweise der medizinischen Fachbegriffe. In internationalen Leitlinienportalen oder der öffentlich zugänglichen Literaturdatenbank Pubmed finden Sie häufig, vor allem zu speziellen Therapiebereichen, wie z.B. Supportivtherapien, Palliativmedizin oder seltene Erkrankungen, einen größeren Fundus an guten Leitlinien und systematisch generierten Therapieempfehlungen. Die bewertete Evidenz in internationalen Leitlinien anerkannter Fachgesellschaften kann bereits bezüglich neuer Therapieansätze aktueller sein.

Fallbeispiel 3

Orale Antikoagulation bei nicht valvulärem Vorhofflimmern. Eine gut eingestellte antikoagulative Therapie ist bei Patienten mit nicht valvulärem Vorhofflimmern (VHF) und hohem thromboembolischem Risiko für eine Schlaganfallprophylaxe essenziell [17]. Lange Zeit wurden als orale Antikoagulanzien lediglich die Wirkstoffe Phenprocoumon und Warfarin als Vitamin K-Antagonisten in Deutschland eingesetzt. Doch in den letzten drei Jahren hat sich durch die Einführung direkter (ehemals: neuer) oraler Antikoagulanzien (DOAK wie Rivaroxaban, Dabigatran, Apixaban) und deren Zulassung bei VHF die therapeutische Landschaft in diesem Segment gravierend verändert. Über deren Einsatz und vor allem Sicherheit herrscht aufgrund mangelnder praktischer Erfahrung bei Ärzten und Apothekern teilweise noch große Unsicherheit. Grundsätzlich enthalten die veröffentlichten Fachinformationen der neuen Antikoagulanzien umfangreiche verbindliche Angaben zur Anwendung, Dosierung (u.a. bei besonderen Patientengruppen) und Vorgehensweise bei Medikationsumstellung, bevorstehenden Operationen u.v.m. [18]. Um das eigene Wissen für die tägliche Praxis, gerade bei beratungsintensiven bzw. kritischen Arzneistoffen, up to date zu halten, ist neben der Lektüre der Fachinformationen auch die Kenntnis zu deren Stellenwert in der Therapie wichtig, um dem Arzt und Patienten gegenüber kompetent beraten zu können. Ob nun auf eine Anfrage hin oder zu eigenen Fortbildungszwecken ist eine Leitlinienrecherche sinnvoll. Da in den letzten Jahren die Datenlage zu den direkten oralen Antikoagulanzien durch neu veröffentlichte Studien stetig wächst, ist es bei dieser Recherche sehr wichtig, auf die Aktualität der gefundenen Leitlinien zu achten. Auf der Internetseite der AWMF finden Sie bei der Leitlinien-Suche unter Eingabe des Suchbegriffs „Vorhofflimmern“ eine S1-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin (DEGAM), was definitionsgemäß einer Handlungsempfehlung von Experten entspricht (Tab. 2 im Beitrag "Keine Scheu vor Leitlinien", siehe Link unten). Hier finden Sie kurz gefasste Therapieempfehlungen und einen schematischen Therapiealgorithmus, in denen die DOAK allgemein als Behandlungsoption genannt werden. Die Interessenkonflikte der Autoren sind hier transparent dargestellt [19]. Auf der Seite der AkdÄ wurde bereits 2012 ein umfangreicher praxisnaher Therapieleitfaden zum Thema DOAK bei VHF veröffentlicht, in dem ausführlich auf die Eignung zum Einsatz bei bestimmten Patientengruppen oder zur Vorgehensweise bei Blutungen eingegangen wird. Allerdings wird hier z.B. Apixaban lediglich als Therapie im Ausblick beschrieben, da zum Zeitpunkt der Veröffentlichung noch keine Zulassung bei VHF bestand. Diesbezüglich kann also der Therapieleitfaden als nicht mehr aktuell angesehen werden [20]. Bei einer Recherche in der Arztbibliothek wird wiederum auf den Therapieleitfaden der AkdÄ verwiesen. Die Leitlinie der deutschen Gesellschaft für Kardiologie erwähnt die DOAK lediglich in einem kurzen Absatz, ohne weitere praxisrelevante Empfehlungen zu geben [17]. Bei Ausweitung Ihrer Recherche auf internationale Leitliniendatenbanken finden Sie auf der Seite des National Institute for Health and Care Excellence (NICE) über die Suchfunktion eine sehr aktuelle Leitlinie von Juni 2014 in Kurz- und Langfassung. In dieser Leitlinie sind die einzelnen Empfehlungen mit der Jahreszahl des Eintrags vermerkt, so dass die Aktualität schnell erfasst werden kann. Für die Klassifizierung der zugrunde liegenden Evidenz für eine Empfehlung wurde das englische Grade-System verwendet. Für die Definition der Empfehlungsgrade wird lediglich auf die Homepage des NICE verwiesen. In dieser Leitlinie werden nun für jeden Vertreter der DOAK explizite Empfehlungen auf Basis der aktuellsten Datenlage für den Einsatz ausgesprochen [21].

Aspekt: Aktualität

Sollten sich durch Einführung einer neuen Wirkstoffklasse die Therapieempfehlungen zu einer Erkrankung grundsätzlich ändern, so ist es bei einer Leitlinienrecherche wichtig, die Aktualität der gefundenen Literatur richtig einzuschätzen. Leitlinien zu Fachgebieten, in denen über einen kurzen Zeitraum viel neues Wissen durch Studien generiert wird, z.B. in der Krebs- oder Hepatitis-C-Therapie, können schnell veraltet sein. Dieses neue Wissen muss erst gesammelt und bewertet werden, bevor dieses Einzug in Leitlinien hält. Am Fallbeispiel 3 erkennt man auch sehr gut, dass die Klassifizierungen von Evidenz- und Empfehlungsgraden nicht einheitlich gehandhabt werden. Daher ist es notwendig, sich bei jeder Leitlinie die Definitionen vorab anzuschauen, um die Empfehlungen richtig interpretieren zu können.

Literatur

[14] www.versorgungsleitlinien.de/ themen, Zugriff am 10.09.2014

[15] S-3 Leitlinie AWMF-Register-Nr. 053/001: Brennen beim Wasserlassen; DEGAM-Leitlinie Nr. 1 2009, Gültigkeit abgelaufen, z. Zt. in Überarbeitung

[16] Lalla RV et al. MASCC/ISOO Clinical Practice Guidelines for the Management of Mucositis Secondary to Cancer Therapy. Cancer 2014;120:1453

[17] Deutsche Gesellschaft für Kardiologie – Herz- und Kreislaufforschung e.V. Leitlinien für das Management von Vorhofflimmern 2012

[18] Fachinfo-Service®. Verfügbar mit DocCheck-Passwort: www.fachinfo.de/

[19] DEGAM S1-Handlungsempfehlung AWMF-Registernr. 053/031: Neue orale Antikoagulantien (bei nicht valvulärem Vorhofflimmern), Version 1.0 August 2013

[20] AkdÄ. Orale Antikoagulation bei nicht valvulärem Vorhofflimmern – Empfehlungen zum Einsatz der neuen Antikoagulantien Dabigatran (Pradaxa®) und Rivaroxaban (Xarelto®), Version 1.0 September 2012

[21] National Clinical Guideline Centre. Atrial fibrillation: the management of atrial fibrillation. Clinical guideline, Methods, evidence and recommendations; June 2014

Autorin

Dr. Mirjam Gnadt ist Apothekerin in der Apotheke des Universitätsklinikum Erlangen und Leiterin der dort ansässigen Arzneimittelinformationsstelle der Bayerischen Landesapothekerkammer. Das Studium der Pharmazie und die Promotion absolvierte sie in der Julius-Maximilians-Universität Würzburg.

Apotheke des Universitätsklinikums Erlangen

Palmsanlage 3; 91054 Erlangen;

mirjam.gnadt@uk-erlangen.de

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