Feuilleton

Sind unsere Haare krank?

Ein Essay über Arzneistoffe in Haarpflegemitteln*

Wer krank ist, wird mit Arzneimitteln behandelt, damit er wieder gesund wird. Die Wirkung, falls sie eintritt, beruht auf den darin enthaltenen Arzneistoffen

Wenn unsere Haare zu wünschen übrig lassen, werden sie mit Haarpflegemitteln behandelt. Der Erfolg, sofern er sich einstellt, beruht auf den darin enthaltenen Wirkstoffen. Was in Kosmetika (nicht) enthalten sein darf, regelt die am 24. Juli 2014 in Kraft getretene Kosmetik-Verordnung (KosmetikV) in ihren Anhängen. Nützliche Informationen geben auch die „Blaue Liste“ [1, 2] und (aktueller) das „Wörterbuch der Kosmetik“ [3].

Ich war bass erstaunt, unter den Inhaltsstoffen von Haarpflegemitteln viele Arzneistoffe zu entdecken!

Bleiacetat wird nach altem Rezept zusammen mit Natriumthiosulfat und Weinsäure als Haarfärbemittel zum Kaltbrünieren verwendet (steht nicht mehr im Wörterbuch der Kosmetik). Früher diente es auch zur Bereitung kühlender Umschläge und von entzündungshemmenden Augensalben und -tropfen, die heute obsolet sind. Zudem benutzte man es zum Süßen saurer Weine („Bleizucker“).

Borsäure wirkt in geringem Maße desinfizierend, ist aber als Arzneistoff schon lange obsolet. Sie verbessert die Struktur der Haare, wenn sie durch Färben, Entfärben, Wellenlegen, Kräuseln und Glätten geschädigt sind.

Chinin war (nach der Chinarinde, aus der es isoliert wird) das erste wirksame Antimalariamittel, das heute noch seinen Zweck erfüllt. Es wirkt auch antiseptisch und tonisierend und ist als Salz (Hydrochlorid und Sulfat) Bestandteil von Shampoos und Lotionen.

Coffein, täglich gebraucht als Analeptikum (in Form von Kaffee, Tee oder Powerdrinks), befreit seit einigen Jahren „Frauen ab 39“ von der Angst des Haarausfalls (laut Werbung). Coffein verbessert die Durchblutung der Kopfhaut. Dadurch soll es die Haarwurzel anregen und den Haarwuchs fördern.

Dichlorophen, ein phenolisches Algizid, Bakterizid und Fungizid, könnte diese Funktionen auch in Haarpflegemitteln ausüben. Jenseits von Medizin und Kosmetik wird es auch gegen Moose auf Nichtkulturland sowie zum Schutz von Gartenmöbeln und Textilien eingesetzt.

Etidronsäure, eines der Bisphosphonate, die zur Regelung der Calcium-Homöostase und der Knochendynamik dienen, ist als Komplexbildner in manchen Haarkosmetika enthalten, muss allerdings nach der Behandlung wieder ausgewaschen werden.

4-Hydroxybuttersäure wird medizinisch als intravenöses Narkotikum gebraucht und in der „Szene“ unter den Namen „Liquid Ecstasy“ oder „K.o.‑Tropfen“ missbraucht. Sie ist ein Dauerwellenmittel, weil sie Disulfidbrücken aufspaltet (fehlt im Wörterbuch der Kosmetik).

8-Hydroxychinolin ist ein obsoletes Antidiarrhoikum sowie Mund- und Hautdesinfektionsmittel, das als „Haarfarbzwischenprodukt“ eingesetzt wird (KosmetikV, Anlage II, Nr. 51).

Lidocain ist ein bekanntes Lokalanästhetikum und wurde wohl deshalb Rasierwässern (After Shave) zugesetzt (heute nicht mehr).

Resorcin(ol) und einige weitere bi- und trifunktionelle Phenole werden als Antiseptika bei Hauterkrankungen wie Psoriasis oder Akne in Form von Lotionen und Salben eingesetzt. In der Haaarpflege dienen sie zur Bekämpfung von Schuppen, seborrhoischem Ekzem und Haarausfall; zudem sind sie Grundstoffe der Oxidations-Haarfärbemittel. Die Phenole dürften bei niedriger Dosierung kaum schädlich sein.

Silbernitrat, auch als Höllenstein bezeichnet, ist ein ätzendes, bakterizides Agens, mit dem früher jeder Säugling unmittelbar nach seiner Geburt die schmerzhafte Bekanntschaft in Form der Credé’schen Augentropfen machte; deren Anwendung zur Prophylaxe einer eitrigen Bindehautentzündung bei Neugeborenen wurde 1884 in Deutschland eingeführt und wenig später zwingend vorgeschrieben (bis 1986). Die jetzige Anwendung von Silbernitrat bleibt immer noch in Augennähe, wenn es zum Färben von Wimpern und Augenbrauen dient (KosmetikV, Anlage II, Nr. 48).

Tosylchloramid-Natrium (Chloramin T), das man als „Prodrug“ für Natriumhypochlorit auffassen kann, ist als Wunddesinfektionsmittel geeignet und kann auch in Haarkosmetika Infektionen der Kopfhaut verhindern.

Wasserstoffperoxid wird heute immer noch zur Haut- und Wunddesinfektion gebraucht, andererseits ist es als starkes Oxidationsmittel das Mittel der Wahl zum Blondieren (Bleichen) der Haare.

Zinkchlorid und Zinksulfat dienen zur Substitutionstherapie des Spurenelementes Zink sowie als Adstringens in der Wundbehandlung und Ophthalmologie. Sie werden als Entkräuselungsmittel für Haare benutzt.

Zwei potente Arzneistoffe im Dienste der Haarkosmetik

Ergänzend seien noch die zweckentfremdeten Arzneistoffe Minoxidil und Finasterid genannt. Beide fördern das Haarwachstum, haben aber auch gravierende Nebenwirkungen:

Minoxidil war eigentlich als Antihypertonikum und Vasodilatator bei systemischer Anwendung zur Blutdrucksenkung gedacht und wird auch als solches verwendet. Mit dieser Anwendung konkurriert heute die Rolle als externes Haarwuchsmittel. Eine besonders für Frauen unangenehme Nebenwirkung des Minoxidils ist die Hypertrichose, worunter man den verstärkten Haarwuchs, besonders im Gesicht, versteht. Durch die Anwendung von Regaine® wird diese Nebenwirkung sozusagen therapeutisch genutzt: „Fördert den Haarwuchs und stoppt den Haarausfall.“

Finasterid ist für die Behandlung der benignen Prostatahyperplasie zugelassen. In der geringen Dosierung von 1 mg pro Tag eignet es sich als Mittel gegen die androgenetische Alopezie. Es wird im Gegensatz zum Minoxidil nicht als äußerliches Kosmetikum angewandt, sondern oral in Form einer Tablette (Propecia®) und wirkt systemisch. Dies ist, wie zu erwarten, nicht ganz frei von Nebenwirkungen – beim Mann kann es zu Potenzstörungen kommen und bei der Frau zur Bildung von Knoten in der Brust. Finasterid hemmt das Enzym 5α-Reduktase, das Testosteron und verwandte männliche Hormone zu Dihydrotestosteron (DHT) metabolisiert. DHT ist der eigentliche Übeltäter, der die Haarfollikel schädigt, sodass die Haare ausfallen.

*Frau Barbara Schäfer-Wiegand, der ehemaligen Ministerin für Arbeit, Gesundheit, Sozialordnung und Familie (BW) mit den besten Wünschen in Verehrung zum 80. Geburtstag gewidmet.

Literatur

[1] Fiedler HP (Hrsg). Blaue Liste: Inhaltsstoffe kosmetischer Mittel. 2. Aufl. Aulendorf 1993

[2] Kemper FH (ed). Blue list: cosmetic ingredients. 3. Aufl. Aulendorf 2000

[3] Fey H, Petsitis X. Wörterbuch der Kosmetik. 6. Aufl. Stuttgart 2010

[4] Bender S. Körperpflegekunde. 4. Aufl. Stuttgart 2014, S. 138–151, 191–195

[5] Kosmetik-Verordnung vom 16.7.2014, Anlage II; www.jusmeum.de/gesetz/KosmetikV/Anlage2

 

Autor

Prof. Dr. rer. nat. Dr. h.c. Hermann Roth,

Friedrich-Naumann-Str. 33, 76187 Karlsruhe

www.h-roth-kunst.com

info@h-roth-kunst.com

Literaturtipp

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