Arzneimittel und Therapie

Ohne Antidot und Monitoring?

Eine Analyse zur Diskussion um die Sicherheit des neuen oralen Antikoagulans Dabigatran

Von Thomas Herdegen | Zwei aktuelle Publikationen beschreiben die Abhängigkeit des Wirkprofils von Dabigatran (Prafaxa®) von der Nierenfunktion [8] sowie von Blutspiegel, Alter und weiteren biologischen Faktoren [11]. Die analysierten Daten stammen aus dem RE-LY (Randomized Evaluation of Long-term Antikoagulation Therapy)-Studienprogramm [2] zum neuen oralen Antikoagulans (OAK) Dabigatran, einem direkten Hemmstoff von aktiviertem Thrombin (F-IIa). Der Verzicht des Herstellers auf Labortests wurde als „Skandal“ bezeichnet [1], ohne dass eine differenzierte Analyse der komplexen Pharmakologie vorgenommen wurde.

Nieren und Alter bestimmen das Sicherheitsprofil

Die Plasmakonzentration korreliert positiv mit der Wirkung: hohe Spiegel reduzieren Schlaganfälle und thromboembolische Ereignisse, verursachen aber mehr Blutungen. Das Blutungsrisiko steigt mit abnehmender glomerulärer Filtrationsrate (GFR) und dem Alter. Beide Faktoren sind per se Risikofaktoren für die Indikation Vorhofflimmern wie für dessen thromboembolische Folgen und das Blutungsrisiko. Deshalb müssen die Ergebnisse immer im Vergleich mit dem Kompetitor, hier Vitamin-K-Antagonisten, gesehen werden. Verglichen mit Warfarin war selbst bei Risikopatienten die therapeutische Wirkung von Dabigatran ebenso gut und sein Nebenwirkungsprofil nicht schlechter – mit einer Ausnahme (s.u.).

Korrelation mit der Nierenfunktion

Die Wirksamkeit von Dabigatran wird durch die Nierenfunktion nicht beeinflusst und ist unter 150 mg zweimal täglich etwas größer als unter 110 mg zweimal täglich [8]. Der leichte Vorteil gegenüber Warfarin bleibt unabhängig von der glomerulären Filtrationsrate (GFR) über 50 ml/min erhalten. Dabigatran wird zu 80% renal ausgeschieden. Je schlechter die Nierenfunktion bzw. die GFR (eingeteilt in Gruppen >80, 80–50 und <50 ml/min), desto höher die Blutungsgefahr durch Dabigatran. Das gilt jedoch auch für Warfarin.

Üblicherweise wird die GFR auf Basis des Creatinin-Serumspiegels bestimmt. Da zu Beginn einer Nierenfunktionsstörung im Serum noch keine Creatinin-Veränderungen nachweisbar sind (Creatinin-blinder Bereich), kann auf Cystatin C zurückgegriffen werden. Cystatin-C-Serumspiegel zeigen deutlich früher eine Verschlechterung der Nierenfunktion an und korrelieren enger mit der Progression von Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Eine herkömmliche GFR <45 ml/min entspricht einer schlechteren Cystatin-basierten GFR [12]. Auf der Basis einer Cystatin-GFR bleibt das Blutungsrisiko zwischen Warfarin und 110 mg Dabigatran zweimal täglich gleich; jedoch nehmen unter 150 mg Dabigatran zweimal täglich die schweren (nicht die intrakraniellen) Blutungen bei einer GFR <50 ml/min im Vergleich zu Warfarin zu.

Korrelation mit der Plasmakonzentration

Bei niedrigen Blutspiegeln sinkt die Wirksamkeit, bei hohen Spiegeln steigt das Blutungsrisiko von Dabigatran. Das geometrische Mittel der tiefsten und höchsten Konzentrationen war bei 150 mg um ca. 40% höher als bei 110 mg, d.h. die Konzentrationsverläufe sind proportional zur Dosis [11].

  • Die Plasmakonzentration hing maßgeblich von der Nierenfunktion (Creatinin-Clearance, CrCl) und dem Alter ab. Bei einer CrCl von 30 bis 50 ml/min bzw. 50 bis 80 ml/min war die Plasmakonzentration um das 2,3-Fache bzw. 1,5-Fache erhöht, verglichen mit einer normalen Creatinin-Clearance von >80 ml/min. Patienten über 75 Jahre hatten durchschnittlich einen um 68% erhöhten Blutspiegel verglichen mit Patienten unter 65 Jahren. Die Plasmaspiegel sind bei Frauen gegenüber Männern um 30% erhöht und steigen auch mit sinkendem Körpergewicht. Grundsätzlich sind die Plasmaspiegel sehr variabel (bis um das Fünffache).

  • Patienten mit schweren bzw. letalen Blutungsereignissen hatten um 55% bzw. 36% höhere Tal- und Spitzenkonzentrationen als Patienten ohne Ereignisse. Unabhängig davon waren jedoch die Nierenfunktion und das Alter, die beide stark miteinander korrelieren, die stärksten prädiktiven Kovariablen von Blutungsereignissen.

Wäre ein Monitoring von Dabigatran nützlich?

Blutspiegelbestimmung. Das Blutungsrisiko von Dabigatran korreliert zwar mit dem Blutspiegel, aber beide Parameter sind unterschiedlich beeinflussbare Größen. Da Alter und Nierenfunktion die entscheidenden Risikofaktoren sind, ist die sehr variable Blutkonzentration als Prädiktor nur wenig nützlich. Bei der Bestimmung der Blutspiegel wäre zu klären, ab welcher Blutkonzentration von Dabigatran die Dosis zu reduzieren oder abzusetzen wäre. Spiegelbestimmungen scheinen bei der hohen Variabilität wenig hilfreich, zumal auch das Ausmaß der intraindividuellen Schwankungen unklar ist. Die kurze Halbwertszeit und Wirkdauer der neuen OAK würde mehrfache Messungen zur exakt gleichen Zeit erfordern, und Dabigatran mit seiner niedrigen und variablen Bioverfügbarkeit müsste zusätzlich unter besonders standardisierten Alltags-Bedingungen gemessen werden.

Gerinnungsmonitoring. Die Gerinnungstests für Dabigatran (aPTT, TT) sind alle mit Nachteilen behaftet und liefern nur ungenaue Daten. Es ist unklar, wieweit diese Tests für die Langzeiteinstellung mit OAK nützlich sind [9]. Wie soll im ärztlichen Praxisalltag damit verfahren werden?

Gerinnungsmonitoring ist nicht der Heilsbringer der Sicherheit von Antikoagulanzien: Zunächst gilt nochmals festzuhalten, dass Warfarin mit seiner INR-Kontrolle den neuen OAK an Sicherheit nicht überlegen ist. Die Unterbrechung der Einnahme von Warfarin erhöht die Zahl der thromboembolischen Ereignisse [10] – gilt dies auch für die neuen OAK, wenn infolge des Monitorings die Dosierungen ständig verändert werden? Die Genotyp-gesteuerte Gabe von Warfarin – ein Drittel seiner Dosisvariabilität wird von Polymorphismen seiner metabolisierenden Enzyme gesteuert – brachte keinen Vorteil. Der Einfluss von Omeprazol auf Clopidogrel ist wesentlich geringer als es die Tests vorhersagen und auch für die laborchemisch nachgewiesene Antagonisierung der Thrombozytenaggregationshemmung von ASS durch Metamizol fehlen bisher die entsprechenden klinischen Daten einer erhöhten thromboembolischen Ereignisrate.

Weniger Blutungskomplikationen durch Tests?

Hätten durch Labortests schwere Blutungsereignisse im RE-LY-Programm vermieden werden können? Die Antwort muss offen bleiben. Zum einen gibt es zahlreiche Risikofaktoren unabhängig von der Gerinnung. Alle Gerinnungstests liefern nur grobe Anhaltspunkte zum Ausmaß der Gerinnungshemmung und dem Antikoagulanzien-Blutspiegel. Bei einer weiteren Dosisreduktion von Dabigatran auf unter 110 mg zweimal täglich nimmt die Wirkung ab. Damit hätten die Patienten ein höheres Risiko für thromboembolische Ereignisse, das in keinem Verhältnis zu der gewonnenen Sicherheit steht. Statt Labortests schützen strengere Ausschlusskriterien z.B. schlechte Nierenfunktion bei Dabigatran. Das ist einfach und billig.

Bringt ein Antidot wirklich Sicherheit?

Seit Jahren entwickeln spezialisierte Firmen Antidote gegen die neuen oralen Antikoagulanzien [4]. Ihre fehlende Verfügbarkeit spiegelt weniger das angeblich mangelnde Interesse der Hersteller als die Komplexizität der klinischen Anwendung wider. Noch müssen wichtige Fragen geklärt werden: wie wird sichergestellt, dass die Gerinnungsfähigkeit des Patienten nicht verändert wird? Sind Notfalleingriffe möglich? Steigt das thromboembolische Risiko im Sinne eines Rebound-Effektes? Wann soll das Antidot eingenommen werden, wer sollte es vorrätig haben und wer soll es verabreichen? Wann kann ein OAK wieder eingenommen werden? Wie oft kann ein Antidot verabreicht werden?

Die Wirkung von Vitamin K gegen Warfarin und Phenprocoumon setzt ungefähr mit einer Verspätung ein, die der Halbwertszeit der neuen OAK entspricht. Bei intrakraniellen Blutungen verursachten die OAK eine geringere Mortalität als Warfarin plus sein Antidot Vitamin K. Für die Unterbrechung von schweren Blutungen im Praxisalltag sind vor allem die schnelle Diagnose und Einlieferung in die nächste Notfallstation wichtig, hier helfen keine Antidote.

Schlechte Problemlösung: triviale Skandalisierung

Im Zuge der in den USA anhängigen Schadensersatzklagen gegen Boehringer Ingelheim, den Hersteller von Dabigatran, wurden E-Mails veröffentlicht, die auf eine Ablehnung der Entwicklung von Labortests (Monitoring) zugunsten der Vermarktung von Dabigatran schließen lassen [13]. Hier soll nicht im Kaffeesatz firmeninterner E-Mails gestochert werden, was meist nur Momentaufnahmen, aber kein scharfes Gesamtbild einer Angelegenheit liefert. Aus fehlenden Labortests einen trivialen „Skandal“ zu beschwören [1], ist unsachlich angesichts der differenziert zu diskutierenden Probleme.

Warum kommen Veröffentlichungen so spät?

Die relevante Frage lautet: warum werden diese Daten erst jetzt publiziert, fünf Jahre nach Veröffentlichung der ersten RE-LY-Ergebnisse [2]? Von einer Substanz, die zu vielen Todesfällen geführt hat, die zu 80% renal ausgeschieden wird und eine Bioverfügbarkeit von nur 6% aufweist, müssen besonders viele pharmakokinetische Informationen für Arzt und Patienten zur Verfügung stehen. Mit diesen Daten hätten schon früher Hochrisikopatienten von der Dabigatran-Einnahme ausgeschlossen werden können.

Fazit

Nierenfunktion und Alter bestimmen das Blutungsrisiko von Dabigatran. Verglichen mit Warfarin ist bei den meisten Patienten Dabigatran mindestens so sicher und effektiv, aber bei einer GFR <50 ml/min ist unter 150 mg Dabigatran zweimal täglich das Blutungsrisiko erhöht. Durch die niedrige Dosierung (110 mg zweimal täglich statt 150 mg zweimal täglich) wird der therapeutische Effekt vermindert, aber die anti-thromboembolische Sicherheit bleibt gegenüber denjenigen Patienten erhalten, die überhaupt kein OAK erhalten. Es ist generell unklar, was Monitoring und Blutspiegelbestimmungen der neuen OAK bringen können. Warfarin hatte trotz INR-Kontrolle und dem Einsatz des Antidots von Vitamin K keinen Vorteil (Ausnahme: 150 mg Dabigatran zweimal täglich bei schlechter Nierenfunktion).

In der Alltagspraxis helfen Monitoring und Blutspiegelbestimmung der neuen OAK wenig, die bestehenden Indikations- bzw. Ausschlusskriterien (Alter, Nierenfunktion, Gewicht, Arzneimittelinteraktionen u.a.) sollten strikt eingehalten und kontrolliert werden. Im Zweifel ist auf ein anderes neues OAK zu wechseln, das bezüglich eines Risikofaktors sicherer ist. Dass jetzt mehrere neue orale Antikoagulanzien zur Verfügung stehen, ist ein Vorteil zu den früher sehr eingeschränkten Alternativen Phenprocoumon bzw. Warfarin. Auch dies gilt es zu würdigen. 

Quelle

 [1] Arzneimitteltelegramm. Dabigatran (Pradaxa®) zur Antikoagulation bei Vorhofflimmern. a-t 2014; 3: 25-26.

 [2] Connolly SJ, Ezekowitz MD, Yusuf S, et al. Dabigatran versus warfarin in patients with atrial fibrillation. N Engl J Med. 2009; 361: 1139–1151.

 [3] Diener H-C, Hohnloser SH. Kritischer Kommentar zu den „Empfehlungen zum Einsatz der neuen Antikoagulantien Dabigatran (Pradaxa) und Rivaroxaban (Xarelto®)“ der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ). Deutsche Gesellschaft für Neurologie; Deutsche Schlaganfall-Gesellschaft 2013.

 [4] Dolgin E. Antidotes edge closer to reversing effects of new blood thinners. Nat Med. 2013; 251, doi: 10.1038/nm0313-251.

 [5] Epple C, Steiner T. Therapie von Blutungskomplikationen bei Antikoagulanzientherapie. AMT 2012; 11: 338–348.

 [6] Haeusler KG, Konieczny M, Endres M, Villringer A, Heuschmann PU. Impact of anticoagulation before stroke on stroke severity and long-term survival. Int J Stroke 2012; 7: 544–550.

 [7] Hart RG, Diener HC, Yang S, Connolly SJ, Wallentin L, Reilly PA, Ezekowitz MD, Yusuf S. Intracranial hemorrhage in atrial fibrillation patients during anticoagulation with warfarin or dabigatran: the RE-LY trial. Stroke 2012; 43: 1511–1517.

 [8] Hijazi Z, Hohnloser SH, Oldgren J, Andersson U, Connolly SJ, Eikelboom JW, Ezekowitz MD, Reilly PA, Siegbahn A, Yusuf S, Wallentin L. Efficacy and Safety of Dabigatran Compared With Warfarin in Relation to Baseline Renal Function in Patients With Atrial Fibrillation: A RE-LY (Randomized Evaluation of Long-term Anticoagulation Therapy) Trial Analysis. Circulation 2014; 129: 961–970.

 [9] Mani H, Kasper A, Lindhoff-Last E. Labortests und Monitoring der neuen oralen Antikoagulantien. Klinikarzt 2013; 42(S1): 40–46.

[10] Raunsø J, Selmer C, Olesen JB et al. Increased short-term risk of thrombo-embolism or death after interruption of warfarin treatment in patients with atrial fibrillation. Eur Heart J. 2012; 33: 1886–1892.

[11] Reilly PA, Lehr T, Haertter S et al. The effect of dabigatran plasma concentrations and patient characteristics on the frequency of ischemic stroke and major bleeding in atrial fibrillation patients: the RE-LY Trial (Randomized Evaluation of Long-Term Anticoagulation Therapy). J Am Coll Cardiol 2014; 63: 321–328.

[12] Shlipak MG, Coresh J, Gansevoort RT. Cystatin C versus creatinine for kidney function-based risk. N Engl J Med 2013; 369: 2459.

[13] New York Times: Unsealed Court Documents in Pradaxa Case, 5. Februar 2014; www.a-turl.de/?k=amwe

 

Autor

Prof. Dr. med. Thomas Herdegen, Institut für Experimentelle und Klinische Pharmakologie, Universitäts- Klinikum Schleswig-Holstein, Campus Kiel, Hospitalstraße 4, 24105 Kiel

0 Kommentare

Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.