DAZ aktuell

Die zweite Meinung

Gerhard Schulze

Ab und zu rufe ich Edith an, das ist eine gute Freundin meiner Eltern, die letztes Jahr ihren 89. Geburtstag feierte. Wir plaudern ein wenig, doch nach ein paar Minuten kommt das Gespräch auf ihre Gesundheit, ihre Aussichten, ihre Medikamente. Hinterher stelle ich dann alle möglichen Nachforschungen an, denn Edith holt gerne über mich eine zweite Meinung ein.

Letzte Woche erzählte sie mir, dass sie jetzt Marcumar-Patientin ist. Vorhofflimmern und gelegentliches Schwindelgefühl veranlassten ihren Hausarzt, einen Gerinnungshemmer zu verordnen. "Essen Sie nun am besten nichts Grünes mehr", riet er zum Ende der Sprechstunde. "Alles, was größere Mengen Vitamin K enthält, sollten Sie von Ihrem Speiseplan streichen, weil das die Wirkung des Medikaments abschwächt. Trinken Sie vorsichtshalber auch keinen Alkohol mehr". "Muss ich das machen?" fragte mich Edith, und ich dachte an meine Mutter. Auch sie war Marcumar-Patientin, ihre Hausärztin hatte ihr die gleichen Einschränkungen auferlegt. Dennoch aß Mutter weiter ihre Blattsalate, ihr grünes Gemüse und trank ihre Flasche Abendbier, ihr Glas Abendrotwein und einen winzigen Schluck Abendcognac, in genau dieser Reihenfolge. Es war immer die gleiche Menge; nicht mehr, aber auch nicht weniger, an jedem Tag, der ihr noch vergönnt war, bis sie schließlich mit 94 Jahren an Altersschwäche starb.

Für viele betagte Menschen gehört das, was sie gerne essen und trinken, zu den Höhepunkten des Tages. Vieles davon ist ungesund, aber es schmeckt ihnen und macht sie glücklich. Meine Mutter fand die Frage, ob ihr geliebtes Grünzeug oder der Alkohol ihren Quick-Wert beeinflussten (was sie nicht taten), vollkommen irrelevant. Sie sah ihrem Lebensende entgegen und alles, was ihr diese Aussicht versüßte, war gut. Was ist dagegen zu sagen? Sie sind salatsüchtig und alkoholabhängig, gute Frau, machen Sie eine Entziehungskur? Versuchen Sie es stattdessen mit einer Tasse Kräutertee, das ist gesünder?

Auch Edith liebt grünen Salat zum Essen und trinkt jeden Abend eine Flasche Bier. Sie würde ihren Lebensstil gerne beibehalten und nur wenn unbedingt nötig etwas daran ändern. Die Frage ist also: Wie ist der ärztliche Rat zu beurteilen? Steht der Verdruss, den die Einschränkungen bereiten, in irgendeinem sinnvollen Verhältnis zu ihrem Ertrag?

Apothekerin Ann Katrin Hölkeskamp aus Sprockhövel schreibt auf der Homepage ihrer Apotheke: "Untersuchungen haben gezeigt, dass auch der Verzehr größerer Mengen Vitamin K-reicher Lebensmittel keinen oder nur einen unwesentlichen Einfluss auf den Quick- bzw. INR-Wert haben." Das gälte, so die Apothekerin weiter, selbst für eine ordentliche Portion Spinat, Broccoli oder Sauerkraut.

Eine Patienteninformation des Gesundheitszentrums in Mering unterstützt diese Sichtweise: "Ernähren Sie sich normal und vor allem gleichmäßig. Die Marcumar-Dosis können wir Ihren persönlichen Lebensgewohnheiten anpassen." Zum Thema Alkohol heißt es dort: "Sie können beruhigt mäßige Mengen Alkoholisches trinken."

Also Entwarnung. Edith weiß jetzt, dass es vor allem auf Gleichmäßigkeit und eine gewisse Zurückhaltung ankommt, nicht auf Totalverzicht. Sie wird es machen wie meine Mutter und mir hoffentlich noch viele Jahre gut gelaunt erhalten bleiben.

Drei Aspekte dieser Episode möchte ich hervorheben: Erstens ist es eine Apothekerin, die an vorderster Google-Front dazu beiträgt, eine sinnlose Übertreibung aus der Welt zu schaffen. Weiter so! Mischen Sie sich ein! Für den wachsenden Beratungsbedarf von Patienten, die nicht mehr alles glauben, was man ihnen erzählt, sind Apotheker eine wichtige Instanz. Als Pharmazeuten haben sie das Potenzial, genau das zu tun, was ohnehin immer häufiger passiert: ärztlichen Rat zu hinterfragen und gegebenenfalls zu widersprechen.

Zweitens: Arzneimitteltherapien orientieren sich meist nicht am Patienten und seinem Lebensstil. Rigoros werden Maßnahmen verlangt, die oft gar nicht notwendig sind, aber die Lebensqualität drastisch einschränken. Doch zumindest im Fall der Marcumar-Therapie geht es auch anders: Der behandelnde Arzt kann die Dosis an die Ernährungsgewohnheiten der Patienten anpassen und nicht umgedreht. Bei einer solchen Individualisierung müssen Fakten aus Pharmazie, Medizin und Biologie zusammenfließen – ein intelligenter Mix aus Spezialkenntnissen, den es derzeit kaum gibt.

Drittens: Die Relativierung der Ernährungsregeln für Marcumar-Patienten bedarf ihrerseits der Überprüfung. Satzanfänge wie "Untersuchungen haben gezeigt, dass …" weisen auf einen Konkretisierungsbedarf hin, auf Lücken, die noch zu füllen sind. Doch es ist ja gerade das Lückenhafte, das Vorläufige, das moderne Wissenschaft ausmacht und uns zu immer wieder neuen Erkenntnishorizonten führt.


Gerhard Schulze


Gerhard Schulze, geb. 1944, ist Professor für Soziologie an der Universität Bamberg. Seine Arbeiten untersuchen den kulturellen Wandel der Gegenwart.



DAZ 2013, Nr. 8, S. 20

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