Arzneimittel und Therapie

Was Herz und Kreislauf schadet

Neuer kardiovaskulärer Risikoscore stößt auf Kritik

Die neue Leitlinie der AHA/ACC (American Heart Association/American College of Cardiology) zur Cholesterinsenkung sorgt weiterhin für heftige Diskussionen. Sie hatte sich eigentlich zum Ziel gesetzt, die Dyslipidämie-Therapie deutlich zu vereinfachen und somit sicherzustellen, dass mehr Patienten als bislang eine optimale Pharmakotherapie mit Statinen erhalten.

In DAZ 2013 Nr. 48, S. 22 berichteten wir bereits, dass die Abkehr von den LDL-Zielwerten (‚treat to target’) hin zu festen Statinregimes (‚fire and forget’) eigentlich keine allzu große Neuerung ist. Zumindest, wenn man unterstellt, dass auch schon zuvor stets mit einem Statin therapiert wurde und nicht etwa der LDL-Zielwert mit anderen Wirkstoffen eingestellt wurde, für die kaum Evidenz gegeben ist. Dann kommt man in der Therapie bei konsequenter Anwendung nach beiden Vorgaben zu ähnlichen – wenn nicht gleichen – Statindosierungen.

Neben der Abkehr von den LDL-Zielwerten wurde in der aktualisierten Leitlinie auch ein neuer ACC/AHA-Risiko-Score veröffentlicht, der aber vermehrt in die Kritik geraten ist. Er soll die Berechnung des kardiovaskulären Risikos vereinfachen und kann auf den Seiten der American Heart Association und des American College of Cardiology als Excel-Tabelle kostenlos geladen werden (www.cardiosource.org/science-and-quality/practice-guidelines-and-quality-standards/2013-prevention-guideline-tools.aspx). In seiner Handhabung ist er wesentlich einfacher als die bisherigen SCORE-Charts. Die beiden Harvard-Medical-School Professoren Paul M. Ridker und Nancy Cook äußerten sich nun wiederholt öffentlich dahingehend, dass der neue Risiko-Score das kardiovaskuläre Risiko überbewerte und damit zu falschen Therapieentscheidungen führen würde.

In der Leitlinie werden zunächst vier Indikationsgebiete genannt, die dann entweder mit einer hochdosierten Statintherapie (LDL-Senkung um ≥ 50%) oder einer moderat dosierten Statintherapie (LDL-Senkung um 30 bis 50%) behandelt werden sollen.

Diese vier Indikationsgebiete sind:

  • arteriosklerosebedingte kardiovaskuläre Erkrankungen und ein Alter ≤ 75 Jahre (hochdosierte, bei älteren Patienten moderat dosierte Statintherapie)
  • ein LDL-C ≥ 190 mg/dl (hochdosierte Statintherapie)
  • Diabetes im Alter von 40 bis 75 Jahren. Bei diesen Diabetikern wird mit dem neuen Rechner wiederum nach kardiovaskulärem Zehn-Jahres-Risiko gewichtet. Liegt das Risiko hier bei ≥ 7,5% wird eine hochdosierte Statintherapie empfohlen, andernfalls eine moderat dosierte.
  • ein Risiko von ≥ 7,5% für ein kardiovaskuläres Ereignis in den nächsten zehn Jahren bei 40- bis 75-jährigen Patienten (moderat bis hochdosierte Statintherapie), auch hier wird mit dem neuen Rechner gearbeitet.

Der neue Risikoscore kommt also an mehreren für die Therapieentscheidung relevanten Stellen zur Anwendung. Ridker und Cook haben den neuen Risikotest, der als Weiterentwicklung des Framingham-Scores mit Daten der ARIC-, CARDIA und CHS-Studien angereichert wurde, an mehreren Studienpopulationen der WHS (women’s health study), PHS (physicians’ health study) und WHI-OS (women’s health initiative observational study) getestet. In allen drei Fällen führte der neue Risikorechner nach ihrer Angabe zu einer Überbewertung des kardiovaskulären Risikos von immerhin 75 bis 150% verglichen mit den tatsächlich in den Studien beobachteten Risiken. Eine mögliche Erklärung für die Fehleinschätzung ist die Veränderung im kardiovaskulären Risiko in den letzten Jahren. So hat sich das Rauchverhalten in den Industriestaaten deutlich geändert, die Geschlechterunterschiede sind geringer geworden. Eigentlich sollte der neue Risikorechner genau diese Entwicklung mit berücksichtigen, die Daten der zugrunde liegenden Studien sind aber möglicherweise auch schon zu alt gewesen.

Ridker und Cook schrieben in einem Kommentar im Lancet, dass 40 bis 50% der Amerikaner nun möglicherweise falsch mit Statinen behandelt würden, und trugen ihre Kritik auch in die Tagespresse wie die New York Times oder The Boston Globe. Wegen dieser großen Fehlerhaftigkeit sollte eine weitere Validierung durchgeführt werden, bevor der Score implementiert werden kann.

Das Leitlinien-Komitee nimmt die Kritik an dem Risikorechner sehr ernst, äußerte sich nach kurzer Denkpause und einem anberaumten Expertentreffen aber dahingehend, dass hier die besten verfügbaren Daten aus fünf-jähriger Arbeit zusammengetragen worden seien und man nun erneut prüfen würde, ob Fehler unterlaufen sein könnten. Bis dahin wolle man keine vorschnellen Schlüsse aus der Kritik ziehen.

Alter und Ethnie überbewertet?

Steven Nissen, ehemaliger ACC-Präsident, plädierte hingegen sogar für ein Aussetzen der Leitlinie, bevor sie sich womöglich fehlerhaft zu etablieren beginne. Er äußerte den Verdacht, dass besonders Alter und Ethnie im Risikorechner zu stark gewichtet worden seien. Besonders ärgerlich: Ridker und Cook hatten schon vor einem Jahr ihre Kritik geäußert, als die neue Leitlinie in einer Vorabversion zur Konsensusbildung auch an die Harvard-Medical-School gesendet wurde. Allerdings hatten sie ihre Bewertung an das National Heart, Lung, and Blood Institute (NHLBI) gesendet, dort hat man aber offensichtlich versäumt, diese Information an die ACC/AHA weiterzuleiten. Mitglieder der Leitlinien-Arbeitsgruppe zeigten sich nun irritiert durch die medienwirksam vorgetragene Kritik. Sie sorge für eine übermäßige Verunsicherung bei Patienten und Therapeuten und sei daher kontraproduktiv, man solle sich vielmehr wissenschaftlich mit den Daten auseinandersetzen. Zudem wolle man den Risikorechner über die nächsten Jahre weiterentwickeln und immer wieder an neue Daten anpassen, so dass er stets aktuell bleibe und mit jedem Update besser werde.

Diskussion sollte nicht zu einer Unterversorgung führen

Von beiden Seiten werden nun auch besonders drastische Patientenbeispiele genannt, die für zusätzliche Emotionen sorgen. Während Ridker und Cook das Beispiel eines Patienten nannten, der bei einem Zehn-Jahres-Risiko für ein kardiovaskuläres Ereignis von 4% im neuen Rechner mit 8% Risiko erscheine und daher fälschlich ein Statin erhalte, konterte die AHA, dass der alte Score allen Afroamerikanern mit einem Herzinfarkt eine für sie nützliche Therapie vorenthalten habe. Vereinzelt ging die Kritik auch schon soweit, dass dem ACC und der AHA die Glaubwürdigkeit abgesprochen wurde und industrielle Einflussnahme unterstellt wurde, was bei den vielen renommierten Autoren der Leitlinie weiteren Unmut erzeugte. Inzwischen haben die ACC/AHA-Experten aber Gegenposition bezogen. Die AHA-Präsidentin Mariell Jessup sprach der Leitlinien-Kommission ihr volles Vertrauen aus. Gleichzeitig wünschte sie sich, dass jede neue Leitlinie in Zukunft eine solche Beachtung in der Presse fände. David Goff als Vorsitzender des Experten Panels des Risikorechners äußerte sich so, dass die Kritik an einer Risiko-Überbewertung im Vorfeld durchaus berücksichtigt worden sei. Zwar sei der Rechner selbst nicht verändert worden, aber der Grenzwert zur Behandlung sei bewusst von 5% auf 7,5% kardiovaskuläres Zehn-Jahres-Risiko hochgesetzt worden, da man selbst bei der Überprüfung einen Trend zu Überschätzungen festgestellt habe. Dies sei den Kritikern offensichtlich entgangen. Zudem seien die Populationen in den von Ridker und Cook überprüften Ärzte- und Krankenschwester-Studien vermutlich besonders gesund gewesen. Man stelle sich daher der wissenschaftlichen Diskussion und fordere die Kritiker auf, ihre Daten detailliert zur Verfügung zu stellen. Es ist allerdings zu befürchten, dass die heftigen Diskussionen um eine übermäßige Statin-Verschreibung schon jetzt zu großer Verunsicherung bei Laien und kritisch eingestellten Therapeuten führen und somit eine Unterversorgung resultiere – das genaue Gegenteil von dem, was die neue Leitlinie eigentlich erreichen wollte. 

Apotheker Olaf Rose, Pharm.D.

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