DAZ aktuell

Individualisierte Pharmakotherapie der Zukunft

Mithilfe der Pharmakogenomik, einer jungen und dynamisch wachsenden Wissenschaft, können Patienten bzw. Patientengruppen viel individueller als heute behandelt werden. Neue molekulardiagnostische Verfahren werden es ermöglichen, präzise Aussagen zur Wirksamkeit und Verträglichkeit von Arzneimitteln bei einem individuellen Patienten oder einer Patientengruppe zu treffen. Weil die Pharmakogenomik der Schlüssel zu einer optimierten Pharmakotherapie sein kann, müssen Apotheker umfassend über dieses neue Forschungsgebiet informiert sein.

Die Entschlüsselung des humanen Genoms vor zwölf Jahren lieferte eine gewaltige Menge an genetischen Informationen und bildete die Grundlage für eine neue Forschungsrichtung in der Pharmazie, die Pharmakogenomik. Die Pharmakogenomik hat zum Ziel, Polymorphismen oder seltene genetische Varianten von Genen zu identifizieren, durch welche die pharmakokinetischen Prozesse eines Arzneimittels kontrolliert werden oder welche für die Pharmakodynamik, z. B. die Interaktion mit dem Target, relevant sind. Im menschlichen Körper ist das sogenannte ADME (Absorption, Distribution, Metabolism, Excretion)-System für die Absorption, die Verteilung, den Metabolismus und die Sekretion des Wirkstoffs zuständig. Finden sich Mutationen in Genen, die für Komponenten dieses ADME-Systems kodieren, führt dies zu pharmakokinetischen Veränderungen und damit zu unterschiedlichen Arzneimittelwirkungen. Gene, die hier relevant sind, kodieren zum Beispiel für die Enzyme der Phase-I- und Phase-II-Metabolisierung, also Enzyme wie die Cytochrom-P450-Isoenzyme (CYPs) oder die N-Acetyltransferase (NAT). Solche Enzyme weisen häufig Mutationen auf und werden daher als polymorph eingestuft.

Mutationen bei den arzneimittelrelevanten Genen sind nicht erworben, sondern vererbt. Sie korrelieren auch nicht mit den aktuellen oder künftigen Krankheiten eines Menschen, sondern stellen ein charakteristisches Merkmal jedes Menschen dar. Weil die Kenntnis der individuellen Konstellation der arzneimittelrelevanten Gene ein wichtiges Kriterium für die Auswahl eines geeigneten Medikaments sein kann, wäre es sehr sinnvoll, wenn Patienten vor Beginn der Therapie oder noch früher hinsichtlich dieser arzneimittelrelevanten Gene getestet würden. Mithilfe einer solchen prädiktiven Diagnostik könnten Risikopatienten frühzeitig identifiziert werden und gegebenenfalls auf Alternativpräparate umgestellt werden. In vielen Fällen würde schon eine Dosisanpassung genügen. Da wir einen großen Arzneimittelschatz zur Verfügung haben und somit Alternativen verfügbar sind, bedeuten die Ergebnisse von Gentests im Zusammenhang mit Medikamenten keinen "Schicksalsschlag" für die betroffenen Patienten.

Zu unterscheiden von der Diagnostik arzneimittelrelevanter Gene sind diagnostische Verfahren, die darauf abzielen, nicht vererbte, sondern im Laufe einer Krankheit erst erworbene Mutationen von Genen bzw. die von ihnen kodierten Proteine zu identifizieren. Ein Beispiel für den Nachweis solcher erworbenen molekularen Krankheitscharakteristika mithilfe der Gendiagnostik ist die Identifizierung bestimmter Wachstumsfaktorrezeptoren an Tumorzellen vor Beginn der Therapie. Der Nachweis des Rezeptors ist zwingend erforderlich, wenn etwa monoklonale Antikörper oder Inhibitoren verabreicht werden, die genau an diese Rezeptoren binden sollen. Wenn die Tumorzellen eines Patienten nicht die Zielstruktur tragen, gegen die sich ein zu verabreichendes Arzneimittel richtet, macht es keinen Sinn, dieses Medikament bei dem Patienten einzusetzen. Stattdessen muss dann eine alternative Therapie veranlasst werden. Mithilfe der Tests können die Tumorpatienten somit vor Therapiebeginn in Gruppen unterteilt werden. Viele neu entwickelte Tumortherapeutika richten sich z. B. gegen Tumore mit bestimmten genetischen Veränderungen (z. B: Imatinib, Crizotinib, Vemurafenib). Die Folge davon ist, dass das Arzneimittel nur bei einer Subpopulation der Patienten, deren Tumor eine ganz bestimmte genetische Veränderung aufweist, besonders gut wirkt. Eine solche Gruppenbildung ("Stratifizierung") über klinische Biomarker wird in der Medizin angewendet, wenn Subpopulationen von Patienten definiert werden sollen, für die es unterschiedliche Therapieschemata gibt. Bei einer stratifizierten Arzneimitteltherapie erfolgt die Wahl des "richtigen" Arzneimittels bereits heute auf der Basis molekularer Krankheitscharakteristika. Künftig wird man die Therapie noch weiter individualisieren und damit optimieren können, indem man genetische Biomarker bestimmt, die Vorhersagen über die Aufnahme, den Abbau und die Ausscheidung von Arzneimitteln erlauben.

Mithilfe der Pharmakogenomik ist es erstmals möglich, bereits vor Therapiebeginn Aussagen zur Arzneimittelwirksamkeit und Arzneimittelverträglichkeit bei einem bestimmten Patienten zu machen. Voraussetzung für die Etablierung dieses neuen, rasant sich entwickelnden Wissenschaftszweigs ist eine breite Akzeptanz in der Bevölkerung. Es wird noch viel Aufklärung notwendig sein, bis die Menschen in Deutschland beim Wort "Gendiagnostik" nicht gleich an die Vorhersage schwerer Erbkrankheiten und Schicksalsschläge denken, sondern im Bereich der Pharmazie die Möglichkeit sehen, mit vergleichsweise einfachem Aufwand die Arzneimitteltherapie zu optimieren. Apothekerinnen und Apotheker sind als Arzneimittelexperten hier besonders gefordert, das Image der Gendiagnostik zu verbessern.


Prof. Dr. Theo Dingermann, ehemaliger Präsident

Prof. Dr. Stefan Laufer, Vizepräsident

Kathrin Müller, Vizepräsidentin

Dr. Olaf Queckenberg, Vizepräsident

Dr. Thomas Maschke, Vizepräsident Finanzen

Prof. Dr. Andreas Link, Generalsekretär

Dr. Michael Stein, Geschäftsführer

Prof. Dr. Dieter Steinhilber, Präsident



DAZ 2013, Nr. 5, S. 24

0 Kommentare

Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.