Meinung

Datensammelwut

Sind wir nicht alle ein wenig NSA?

Von Reinhard Herzog | NSA – National Security Agency – diese drei Buchstaben halten unsere Medienwelt in Atem. Abgesehen davon, wie (un-)ehrlich die ganze Diskussion geführt wird, wie viel Mitwissen trotz geheucheltem Unwissen dahinter steckt, welch technisches Versagen ganz Europas letztlich sichtbar wird: Wären wir nicht alle gerne ein bisschen „NSA“? Gut, nennen wir das „HSA“ – Health Safety Agency –, die ebenfalls natürlich nur zum Besten der Bürger wirken soll. So wie dort die nationale Sicherheit, der Schutz vor bösen Terroristen im Vordergrund steht, soll hier die Gesundheit, das so schützenswerte Gut, dominieren. Indes werden bekanntlich auch die größten Torheiten in dem Sendungsbewusstsein, nur das Beste zu wollen, begangen.

Der Sammelwahn von Gesundheitsdaten könnte vor dem Hintergrund der ökonomischen Herausforderungen des Gesundheitswesens in nicht allzu ferner Zukunft ähnliche Dimensionen annehmen wie schon heute beim Thema Sicherheit. Und mal ehrlich: Würden wir nicht gerne genau wissen, welche Medikamente Onkel Fritz nimmt (ja, alle – auch die Sildenafil-Freudentabs und die Großpackungen privat gekaufter Schmerzmittel), in welche Apotheken er sonst noch so schleicht, ob er ganz und gar untreu wird und im Versandhandel bestellt? Das Medikationsmanagement wäre doch ein guter Aufhänger (ja, nur zum Besten des Kunden!), hier Transparenz zu fordern.

Sensoren überall – am Handy und im Klo

Nehmen wir einmal an, das Ganze rechnet sich noch richtig für die Kostenträger, wäre es dann nicht folgerichtig, wenn man Onkel Fritz mit (un-)sanftem Druck auf den „richtigen“ Weg brächte? So beginnen die ersten Schritte. Nun gut, damit hören wir noch lange nicht heimlich sein Telefon und seine Mails ab. Aber Hand aufs Herz, wüssten wir im nächsten Schritt nicht gern, ob Onkel Fritz auch schön regelmäßig seine Arznei einnimmt? Könnte uns sein Handy hier nicht wichtige Informationen liefern, beispielsweise über seinen Blutdruck, seinen Blutzucker und vieles mehr? Das ist keine Fiktion, sondern bereits technisch machbar. Fiktion ist (noch) die sensorbestückte, selbstverständlich internetangebundene Kloschüssel, die alle relevanten Metaboliten identifiziert. Praktisch übrigens für das Drogenscreening: Der Kampf gegen den Drogenmissbrauch würde in ein neues Zeitalter treten. Sie wissen schon: Alles zu Ihrem …

Fundgrube Apotheken-EDV

Kameraschwenk in den Apothekenbetrieb selbst: Wie praktisch ist heute ein Netzwerkdrucker, gekoppelt mit einem Scanner. Von der Filiale aus etwas drucken oder einen Scan abrufen … Wussten Sie, dass man so ein Ding durchaus „hacken“ und damit alles, was Sie so drucken oder kopieren, theoretisch „abgreifen“ kann? Witzig, nicht wahr? Oder denken Sie an die schicken Kassensysteme, die eine Online-Abfrage beim Großhandel ermöglichen, gleichzeitig Rezepte scannen (oder fotografieren) und auch die Kundenkarten verwalten. Wie sicher sind sie wirklich?

Vor der Problematik, „gehackt“ zu werden, stehen andere Branchen auch. Flugzeugbauer beispielsweise oder Automobilhersteller: Motorsteuerungen oder Assistenzsysteme inklusive der heute möglichen Lenk- und Bremseingriffe von außen kapern – die Horrorvorstellung schlechthin! Indes arbeiten bei diesen Firmen Heerscharen talentierter Ingenieure, und das Thema ist auf dem Radar angekommen. In der Apotheke haben wir das juristisch-organisatorische Augenpflaster namens „Datenschutzbeauftragter“ oftmals für kleines Geld an irgendjemanden delegiert, um uns in der Folge entspannt zurückzulehnen. Das macht uns eher blind, als dass es Problembewusstsein weckt. Und selbst wenn – es bleiben ja noch die klassischen Apotheken-EDV-Anbieter als Retter in der Not. Die aber haben ihrerseits schon ihre liebe Not, den ganzen regulatorischen Irrsinn nachzuhalten.

Und dann vergessen wir nicht, dass manch einer seine Kassen- und OTC-Daten bereitwillig irgendwelchen Dienstleistern preisgibt (und dafür noch etwas obenauf bezahlt!), um dann hübsche Auswertungen zu erhalten, die er mit ein wenig Überlegung selbst machen könnte. Man will ja noch ein wenig mehr herausholen, den Wareneinsatz optimieren. Dafür wachsen auf der anderen Seite regelrechte Datenschätze heran. Das ist in etwa so, als wenn Sie Ihrem Hund die Wurst wegnehmen, sie kleinschneiden, ihm ein kleines Stück zurückgeben und den großen „Rest“ selbst futtern. Wenn Ihr Hund das mitmacht, dann aus Liebe. Ohne Letztere würde sich wahrscheinlich nicht einmal ein Regenwurm auf einen solchen Deal einlassen. Apotheken schon – und gerne noch mit Gebühren obenauf.

Füttern erlaubt …

Wer bei allen möglichen neuen, internet- und mobilfunkbasierten Geschäftsideen mitmacht, weiß ebenfalls oftmals nicht so genau, was er da wirklich tut. Wie jene Kollegen, die in sozialen Netzwerken mitmischen wollen, davon aber kaum einen Schimmer haben und sich dann eben hilfreicher Hände aus der Dienstleisterbranche bedienen. Alle füttern sie zahlreiche Datenkraken – freiwillig, oft noch gegen Geld. Dass Rezeptdaten ausgewertet werden, liegt bei einem Sachleistungsprinzip in der Natur der Sache. Dass man freiwillig mehr preis gibt als gesetzlich gefordert, muss sich hingegen jeder selbst zuschreiben lassen.

Cyberwar und Komplexitätsfalle

Obwohl der Autor dieser Zeilen ein Freund von Zahlen, Daten, Fakten und moderner Technik ist, meint er: Jeder Apothekenleiter sollte sich heute einige grundlegende Fragen stellen:

  • Stehen Datensammeln und Nutzen (für wen?) in einem vernünftigen Verhältnis? Nur weil Speicherplatz billig und die Zahl der Datenerfassungsgeräte und „intelligenten“, datentauglichen Apparate enorm gewachsen ist, bedeutet das nicht, dass man auch alles erfassen und archivieren muss.
  • Bringt mich der „pharmazeutische Cyberwar“ wirklich weiter, oder liegt der Kern meines Geschäftserfolges nicht ganz woanders?
  • Verstehe ich mein EDV-System, den Daten- und Informationsfluss in der Apotheke und im privaten Bereich sowie an der oft vernachlässigten Schnittstelle privat–geschäftlich?
  • Welche Expertise weisen meine Dienstleister auf? Sind sie überhaupt mit ihrer Kapazität in der Lage, komplexe IT-Strukturen zu managen? In der Pharmaindustrie gibt es nicht umsonst den Prozess der „Lieferantenqualifizierung“!
  • Überblicke ich, was mit meinen Daten und den Daten meiner Kunden geschieht? Wo landen diese am Ende? Welche Subunternehmen hat mein Dienstleister? Lenkt er den Datenstrom möglicherweise in ungewollte Bahnen? Wer kann worauf zugreifen – legal oder vielleicht sogar illegal? Und mit welchem Aufwand?
  • Was würden meine Kunden sagen, wenn sie bis ins Detail wüssten, was ich mit ihren Daten mache oder durch die Dienstleister machen lasse?
  • Tappe ich immer mehr in eine Komplexitätsfalle, wächst mir das Ganze sprichwörtlich über den Kopf?

Gerade Letzteres ist heute eine enorme Herausforderung.

Fortschritt mit Rückwärtsentwicklung

Wir kommen hier zu einem interessanten Phänomen der Rückwärtsentwicklung: Einerseits haben wir so viele Möglichkeiten wie nie zuvor, andererseits werden wir von Tag zu Tag ohnmächtiger angesichts dieser Vielfalt, aber eben auch der rasant steigenden Komplexität und Undurchschaubarkeit. Erwachsen, erfolgreicher Kaufmann und Heilberufler, selbstständig und doch hilflos und verletzlich wie ein kleines Kind – ist das die neue Zukunft? Dazu später mehr! 

Dr. Reinhard Herzog,

Apotheker, 72076 Tübingen

Heilpharm.andmore@t-online.de

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