Diabetes mellitus

Anleitung zum Selbstmanagement bessert Versorgungsqualität

Von Fred Harms und Dorothee Gänshirt | Diabetes ist eine Selbstmanagementerkrankung, das bedeutet, dass der Umgang des Patienten mit seiner Erkrankung wichtiger ist als die Behandlung durch den Arzt. Die Verbesserung des Selbstmanagements erfordert ein umfassendes Betreuungskonzept, das Ärzte, Apotheker, Diabetesberater, Psychologen, Krankenkassen und die Arzneimittelhersteller einschließt. Es geht nicht nur um die Verordnung und richtige Anwendung von Medikamenten, sondern um ein grundsätzliches Verständnis für die Einstellungen, Sorgen und Bedürfnisse der Erkrankten. Falls wir den Patienten nicht in den Mittelpunkt unserer Bemühungen stellen, entwickelt sich der Diabetes Typ 2 zur "Klimakatastrophe unserer Volkswirtschaft". Denn spätestens in 20 Jahren ist jeder vierte bundesdeutsche Erwachsene ein Diabetiker.

Chronische Erkrankungen als Herausforderung

Haben wir in Deutschland zu viele oder zu wenig Ärzte und Apotheker? Gestaltet sich unsere medizinische Versorgung effizient, oder verspielen wir unsere Zukunft? Soll der Staat alle öffentlichen Aufgaben regeln, oder kann nicht die Bevölkerung wichtige Funktionen übernehmen? Die Antworten auf diese Fragen könnten kontroverser nicht sein. Sie differieren von Partei zu Partei, von Institution zu Institution bzw. von Lobbyist zu Lobbyist.

Was allerdings niemand mehr bestreitet, ist die große Herausforderung aufgrund unserer demografischen Entwicklung. Die Altersstruktur wird in 20 Jahren so sein wie derzeit in Florida – von den Amerikanern liebevoll "God’s Waiting-Room" genannt. Innerhalb der nächsten 20 Jahre verdoppelt sich die Anzahl der Krebspatienten, verdreifachen sich die Aufwendungen für Patienten mit neurodegenerativen Leiden und vervierfacht sich womöglich die Anzahl der Pflegebedürftigen.

Unabhängig von den demografischen Auswirkungen, die wir nicht ändern können, entscheidet sich die Zukunft unseres Gesundheitssystems allerdings auf einer ganz anderen Ebene. Auch im letzten Jahr wurden mehr als 80% der Aufwendungen für nur fünf Indikationsbereiche aufgebracht:

  • Herz und Kreislauf,
  • Diabetes,
  • COPD und Lungenkrebs,
  • Rheuma und
  • Depression.

Überwiegend handelt es sich hierbei um Selbstmanagementerkrankungen. Abgesehen von den Infektionserkrankungen investieren Hausärzte mehr als zwei Drittel ihrer Arbeitszeit für Patienten mit Erkrankungen der Bereiche Herz/Kreislauf, Diabetes und COPD.

Kosten "im Griff" ?

Die International Diabetes Federation (IDF) führt den Behandlungserfolg bei Diabetikern zu 90% auf das Verhalten der Patienten zurück. Ein Blick auf die Behandlungskosten unterstützt diese Erkenntnis: So kostet ein Typ-2-Diabetiker, der seine Erkrankung "im Griff hat", das Gesundheitssystem 1500 bis 3000 Euro pro Jahr. Ein Patient, dessen Therapie nicht optimal verläuft, kann Kosten in Höhe von 35.000 bis 50.000 Euro pro Jahr verursachen.

Europäische Stiftung für Gesundheit

Die European Health Care Foundation (EUHCF) ist eine gemeinnützige Stiftung mit Sitz in der Schweiz. Ihre Mission ist die Verbesserung der Versorgung chronisch kranker Menschen in Europa. Hierzu betreibt sie selbstständige Forschungs- und Entwicklungsarbeit. Der Fokus liegt hierbei auf der Entwicklung von Konzepten zur Patientenkommunikation und -edukation bzw. zur Verbesserung des Selbstmanagements chronischer Erkrankungen. Die Stiftung hat hierfür ein E-Learning- oder Blended-Learning-Konzept entwickelt, über welches Ärzte und Apotheker in einer standardisierten Weise in der Selbstmanagementbetreuung von Patienten mit chronischen Erkrankungen ausgebildet werden (www.euhcf.org).

Darüber hinaus stellt die Stiftung auf einem Patientenportal (www.patientenfuchs.de) umfassendes Material für Patienten zur Verfügung, das ihnen bei der Krankheitsbewältigung hilft und ihre Selbstmanagementfähigkeiten kontinuierlich verbessert.

Empowerment

Vor 20 Jahren haben Bob Anderson und Martha Funnell am Michigan Diabetes Research and Training Center in Zusammenarbeit mit der American Diabetes Association (ADA) die Lernphilosophie des "Empowerment" aufgegriffen und damit begonnen, diese in ein Konzept zur Betreuung von Diabetespatienten einzubinden. Das Konzept zielt darauf ab, dass die Patienten ihre individuellen Hindernisse erkennen, sich ihre persönlichen Ziele setzen und gemeinsam mit ihrem Heilberufler ihre eigenen Wege zum Ziel definieren und schrittweise umsetzen. Auf diese Art lernen Patienten, rationale Gesundheitsentscheidungen zu treffen und diese in ihrem ganz persönlichen Alltag so umzusetzen, wie es ihnen ihre Fähigkeiten und Möglichkeiten erlauben. In einer Umfrage unter zertifizierten amerikanischen Diabetes Educators, bei der sie zwölf Betreuungskonzepte für Diabetespatienten zu bewerten hatten, gaben 98,2% der Therapeuten an, dass ihnen das Empowerment-Konzept am meisten bei der Schulung ihrer Patienten geholfen habe.

Die EUHCF hat bereits vor zehn Jahren die Philosophie des Empowerment aufgegriffen und in ihre Konzepte integriert. Für die Indikation Diabetes Typ 2 hat sie ihr Schulungs- und Betreuungskonzept u. a. in einer multizentrischen prospektiven Studie bei bundesdeutschen und österreichischen Apotheken getestet. Zweck der Studie war es nicht, die therapeutischen Bemühungen der behandelnden Ärzte zu ersetzen. Der Inhalt der Betreuung war auch nicht in erster Linie medizinisch oder pharmazeutisch orientiert, sondern konzentrierte sich vielmehr auf das Erlangen von Diabetes-relevanten Selbstmanagementfähigkeiten der Patienten.

Die Diabetes Education Self Management Study (DESS)


Studiendesign

In der ersten Phase der Studie wurden Apotheker bzw. deren Mitarbeiter mit dem Schulungskonzept der EUHCF zu Diabetes Coaches ausgebildet. In der zweiten Phase betreuten die Coaches jeder teilnehmenden Apotheke jeweils ca. zehn Patienten mit Typ-2-Diabetes über einen Zeitraum von sechs Monaten. Die kontinuierliche strukturierte Betreuung umfasste insgesamt zwölf Gruppensitzungen von jeweils 90 Minuten Dauer, durchgeführt in 14-tägigen Abständen.

Zusätzlich zur Ausbildung stellte die EUHCF den Coaches das oben erwähnte modulare Betreuungskonzept zur Verfügung. Dieses Paket beinhaltete:

  • Zwölf Videoschulungsmodule für Patienten, die die Coaches ihren Patienten jeweils am Anfang einer Betreuungssitzung vorspielten.
  • Zwölf pdf-Downloads, die den Patienten als Handout zur Ergänzung der Videofilme nach den einzelnen Betreuungssitzungen mitgegeben wurden.
  • Zwölf pdf-Downloads für Coaches, in denen die wichtigsten Ziele der einzelnen Betreuungssitzungen zusammengefasst waren.
  • Arbeitsbücher für Patienten zum Erarbeiten von persönlichen Gesundheitszielen und zum Führen von Ernährungstagebüchern.

Studienziele

Die Studie sollte evaluieren, ob das oben genannte Ausbildungs- und Betreuungskonzept folgende Ziele erreichen kann:

  • Zeigen Apotheker und deren Mitarbeiter nach der Schulung einen Wissenszuwachs zur Betreuung von Patienten mit Typ-2-Diabetes?
  • Sehen Apotheker in der Selbstmanagement-Betreuung von Chronikern einen Gewinn für die Positionierung ihrer Apotheke?
  • Können die ausgebildeten Coaches Patienten zu deren Zufriedenheit betreuen?
  • Können Patienten durch die Betreuung ihre Erkrankung besser bewältigen?
  • Verbessern sich durch die Betreuung die HbA1c-Werte der Patienten?

Ergebnisse: Patienten-Coaching aus Sicht der Apotheke ...

Insgesamt nahmen zwölf Apotheken in Deutschland an der Studie teil; 25 Mitarbeiter absolvierten die Ausbildung zum Selbstmanagementcoach, 19 Coaches haben während der Studie aktiv Patienten betreut.

Im Anschluss an die Schulung und Betreuung der Patienten wurden die teilnehmenden Coaches (n = 19) zu ihrer Einstellung zum Schulungs- und Betreuungskonzept befragt. Ihr Wissenszuwachs bei den Antidiabetika und Insulinen lag bei 50%. Bezüglich des Diabetes-Wissens gaben 83% der Befragten an, aufgrund der Schulung mehr oder viel mehr über Diabetes zu wissen; alle Teilnehmer sahen sich durch die Schulung besser bzw. viel besser auf den Umgang mit Diabetikern vorbereitet.

Ebenso führten die Coaches ausnahmslos an, dass der Selbstmanagementansatz bei ihren Patienten in einem positiven Licht stehe. Die Teilnehmer waren davon überzeugt, dass sich aus der zusätzlichen Patientenbetreuung ein Positionierungsvorteil für die Apotheke ergibt. 18 von 19 Coaches waren zufrieden oder sehr zufrieden mit den Inhalten der Coachmodule, alle beurteilten die Verständlichkeit als gut oder sehr gut. Auch die Patientenmodule stuften sie einstimmig sowohl inhaltlich als auch in ihrer Verständlichkeit als gut oder sehr gut ein. Insgesamt beurteilten 14 Coaches die Qualität der Fortbildung als besser oder viel besser als andere Fortbildungen; die restlichen fünf stuften die Qualität als gleich gut ein (Abb. 1).

Abb. 1: Qualität der Fortbildungsmaßnahme. Umfrage bei den teilnehmenden Apothekern (n = 19): "Wie bewerten Sie die Qualität der Fortbildungsmaßnahme im Vergleich zu anderen Fortbildungen?"

... und aus Sicht der Patienten

80% aller Diabetiker sind mit der Arbeit ihrer Ärzte zufrieden. Trotzdem äußern wiederum 80% der Patienten das Bedürfnis nach weitergehenden "patientenrelevanten" Informationen, welches durch den Arzt nicht ausreichend befriedigt werden kann. Immerhin sieht ein chronisch kranker Mensch seinen Arzt gewöhnlich alle drei Monate und ein durchschnittliches Gespräch dauert dabei sieben bis zwölf Minuten. Um seine Erkrankung zu verstehen, die Therapie zu Hause korrekt umsetzen zu können und um viele Lebensgewohnheiten zu ändern, ist diese Betreuung selbstverständlich zu kurz. Chronisch kranke Patienten wünschen sich daher mehr Unterstützung zur alltäglichen Bewältigung des Diabetes.

Die zwölf teilnehmenden bundesdeutschen Apotheken brachten insgesamt 138 Patienten in die Studie ein. 85,5% der Patienten waren 60 Jahre und älter, 10,1% waren 50 bis 59 Jahre alt und 4,3% unter 50 Jahre. 65% der Patienten hatten schon einmal eine Diabetesschulung erhalten, die im Durchschnitt vier Jahre zurücklag. Bei 14,5% der Patienten lag die Diagnose zwei oder weniger Jahre zurück, bei 25,4% drei bis fünf Jahre, bei 23,2% sechs bis zehn und bei 37% mehr als zehn Jahre. Insgesamt waren 37,1% der Patienten während der Studie insulinpflichtig, 77% nahmen Antidiabetika; 83,3% der Patienten nahmen Medikamente gegen Hypertonie, und 48,4% nahmen Cholesterinsenker ein.

Nach der Schulung waren die Patienten in der Lage, 80% der praxisrelevanten Fragen im Umgang mit Diabetes richtig zu beantworten. Dieses traf auch auf die Patienten zu, die vorher noch nie eine Schulung besucht hatten und nur über eine verhältnismäßig geringe Schulbildung verfügten. (In Österreich wurde eine Studie mit demselben Ansatz durchgeführt: 130 Patienten mit Typ-2-Diabetes wurden von ausgebildeten Coaches in 14 Apotheken betreut. Auch diese Patienten haben in ihrem Wissen, ihrer Krankheitsbewältigung und im Hinblick auf die klinischen Parameter signifikant von der Betreuung profitiert.)

Die Aussage "Meine Apotheke hat mir Wege gezeigt, mit meinem Diabetes besser umzugehen" haben 96% mit "ja” beantwortet. Die Aussage "Ich kann durch das Apotheken-Coaching meinen Alltag mit Diabetes besser bewältigen" haben 94% ebenfalls mit "stimmt" oder "stimmt voll und ganz" beantwortet (Abb. 2). Am Studienende waren 90% der Patienten sogar bereit, die Betreuung durch die Apotheke mit 10 bis 20 Euro pro Sitzung (150 – 250 Euro pro Kurs) selbst zu bezahlen (Abb. 3).

Abb. 2: Coaching und der Einfluss auf den Alltag. Umfrage bei den Patienten (n = 101): "Ich kann durch das Coaching meinen Alltag mit Diabetes besser bewältigen."
Abb. 3: Zahlungsbereitschaft. Umfrage bei den Patienten am Studienende (n = 69): "Was wären Sie als Typ-2-Diabetiker bereit, für eine Coachingsitzung in Ihrer Apotheke aus eigenen Mitteln zu bezahlen?" Angaben in Prozent.

HbA1c-Wert deutlich gesenkt

Vor und nach der Betreuung wurden die Patienten in den bundesdeutschen Apotheken zur Häufigkeit von Unterzuckerungsreaktionen befragt. Diese waren durch die Betreuung deutlich seltener aufgetreten. Vor der Betreuung hatten 56,7% der Patienten im zurückliegenden Monat keine Unterzuckerung verspürt, nach der Betreuung war dieser Anteil auf 72% angestiegen. Insgesamt haben 71,3% der Patienten ihren HbA1c-Wert innerhalb von sechs Monaten verbessert (Abb. 4). In dieser Gruppe sank der HbA1c-Wert um durchschnittlich 0,7 Prozentpunkte. Nach einem Follow-up von weiteren sechs Monaten, in denen die Patienten nicht weiter durch die Apotheke zur Verbesserung der Selbstmanagementfähigkeiten gecoacht werden durften, lag der HbA1c-Wert immerhin noch durchschnittlich 0,6 Prozentpunkte unter dem Ausgangswert.

Abb. 4: Veränderung der HbA1c -Werte der Patienten nach sechs Monaten (n = 95). Angaben in Prozent.

Somit konnten die Apotheken nachweisen, dass sie sowohl in der Lage sind, die Versorgungsqualität bei Patienten mit Typ-2-Diabetes innerhalb eines halben Jahres so sehr zu verbessern, wie es in der Regel nicht einmal mit innovativen Medikamenten möglich ist. Außerdem war es den Apotheken gelungen, einen Langzeiteffekt im Hinblick auf einen relevanten Parameter (HbA1c-Wert) zu generieren, den die klassischen Disease-Management-Programme in Deutschland nur vereinzelt zeigen.

Interessant ist, dass die Ergebnisse der bundesdeutschen Apotheken durch eine Studie in Österreich mit dem identischen Ansatz und fast der gleichen Anzahl an Apotheken und Patienten bestätigt werden konnten. Apotheken sind somit eindeutig in der Lage, durch die Nutzung praxisrelevanter Konzepte die Versorgungsqualität von Patienten mit Typ-2-Diabetes langfristig zu verbessern.

Zum Weiterlesen


"COPE-Studie – Welche Informationen wünschen chronisch kranke Patienten?"

DAZ 2013, Nr. 28, Seite 52 – 56

Prof. Dr. Dr. Fred Harms ist stellvertretender Präsident der Europäischen Stiftung für Gesundheit (EUHCF) und Professor für Versorgungsforschung an der Sigmund Freud Privat Universität in Wien. European Health Care Foundation, Grabenstr. 8a, CH-6300 Zug, fharms@euhcf.org
Prof. Dr. Dorothee Gänshirt ist Präsidentin der Europäischen Stiftung für Gesundheit (EUHCF) und Professorin für Gesundheitskommunikation an der Sigmund Freud Privat Universität in Wien. European Health Care Foundation, Grabenstr. 8a, CH-6300 Zug, dgaenshirt@euhcf.org

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