Arzneimittel und Therapie

Genetischer Polymorphismus ist gefährlich für Kinder

Berichte über Todesfälle und lebensbedrohliche Atemdepressionen nach Einnahme von Codein bei Kindern im Alter von drei bis fünf Jahren führte zu einer umfangreichen retrospektiven Analyse der Therapiesicherheit von Codein. Nun bestätigte sich ein Zusammenhang zwischen dem genetischen Polymorphismus in CYP2D6 und dem Risiko einer Opioid-Intoxikation. Die FDA und EMA beschränken daher den Einsatz von Codein als postoperatives Analgetikum für Kinder und weitere Risikogruppen.

Codein ist ein natürlich vorkommendes Opiat und wird in Deutschland als Mittel der Wahl bei Reizhusten sowie weiterhin in Kombination mit anderen analgetisch wirksamen Substanzen in Schmerzmitteln zur Behandlung mäßig starker bis starker Schmerzen verwendet. Codein entfaltet seine analgetische Wirkung über dessen aktiven Metaboliten Morphin, der zu etwa 10% durch Demethylierung unter Beteiligung des Cytochrom-P450-Isoenzyms 2D6 (CYP2D6) entsteht.


Tipp


Neben dem genetischen Polymorphismus in CYP2D6 bergen auch einige Pharmaka ein hohes Interaktionspotenzial. Patienten mit Comedikationen potenter CYP2D6-Inhibitoren wie Paroxetin oder Fluoxetin sollten auf die Gefahren hingewiesen werden und gegebenenfalls auf Arzneimittel ohne Interaktionspotenzial ausweichen.


CYP2D6 metabolisiert etwa 15% der auf dem Markt befindlichen Arzneistoffe (siehe Tab. 1) durch Phase-1-Reaktionen.


Tab. 1: Wirkstoffe, die einem differenziellen Metabolismus durch CYP2D6 unterliegen.

Substrate von CYP2D6
Wirkstoff
Substanzgruppe
Pharmakologische Relevanz
Codein
Tramadol
Dextromethorphan
Opioide
Intoxikationen und lebensbedrohliche Atemdepressionen nach Einnahme von Codein bei Kindern mit phänotypischen Eigenschaften ultraschneller Metabolisierer
Flecainid
Mexiletin
Antiarrhythmika
Dosisanpassung bei langsamen Metabolisierern nötig, um Erhaltungsdosis optimal einzustellen
Carvedilol
Metoprolol
Betablocker
bei ultraschnellen Metabolisierern wird oft Bisoprolol eingesetzt, da dies nicht über CYP2D6 verstoffwechselt wird
Tamoxifen
selektive Estrogenrezeptor-Modulatoren
(SERM)
Tamoxifen (Prodrug) wird zu Endoxifen (Wirkform) metabolisiert;
verminderte Wirkung bei langsamen Metabolisieren bzw. durch Comedikation mit Enzyminhibitoren (z. B. Paroxetin)
Amitriptylin
Doxepin
Imipramin
trizyklische Antidepressiva
für einige Wirkstoffe aus dem Bereich der Antidepressiva und Neuroleptika sind bereits Empfehlungen für Dosisanpassungen anhand des Metabolisierertyps vorhanden [6]
Risperidon
Perazin
Neuroleptika

Beim Menschen sind verschiedene Polymorphismen des Proteins durch Variationen des CYP2D6-Gens bekannt (siehe Tab. 2).


Tab. 2: Übersicht zur Pharmakogenetik von CYP2D6.

Pharmakogenetik von CYP2D6
Phänotyp
Genvariation
Enzymaktivität
PM
langsame (poor) Metabolisierer
zwei nicht funktionelle Allele
Metabolisierung der Substrate
verläuft extrem langsam
IM
intermediäre (intermediate) Metabolisierer
zwei Genkopien für ein Enzym mit reduzierter Aktivität (homozygot) oder ein normales und ein dysfunktionelles Allel (heterozygot)
Metabolisierung der Substrate
verläuft mit reduzierter Aktivität
EM
normale (extensive) Metabolisierer
homozygot für die normale Allelform
(Wildtyp)
Metabolisierung der Substrate
verläuft physiologisch normal
UM
ultraschnelle (ultra-rapid) Metabolisierer
Genamplifikation dreier oder mehrerer Kopien funktioneller Allele
Metabolisierung der Substrate
verläuft extrem schnell

Normale Metabolisierer machen ca. 75% bis 92% der Bevölkerung aus und bilden voll funktionsfähige Enzyme in physiologischer Konzentration. Neben Menschen mit geringerer bzw. keiner Enzymaktivität gehören 1% bis 7% der Kaukasier sowie über 15% der Menschen afrikanischer Abstammung zu den ultraschnellen Metabolisierern. Hier erfolgt die Substratumwandlung mit stark erhöhter Geschwindigkeit. Die höhere Aktivität von CYP2D6 kann sich auf die Wirksamkeit sowie Verträglichkeit einer Pharmakotherapie auswirken. Normdosierungen einiger Antidepressiva und Neuroleptika erzielen häufig keine ausreichende therapeutische Wirksamkeit, wohingegen Codein als Prodrug verstärkt zu Morphin demethyliert wird und damit auch das Risiko toxischer Effekte steigt [1].

Berichte der US-Amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA über drei Fälle einer tödlichen Morphin-Intoxikation bzw. einer lebensbedrohlichen Atemdepression bei Kindern weisen auf eine Assoziation dieser Vorfälle mit der CYP2D6-Aktivität hin. Angesichts obstruktiver Schlafapnoe erhielten die Kinder Tonsillektomien (Entfernung der Gaumenmandeln) bzw. Adenotomien (Entfernung der Rachenmandeln) und wurden postoperativ mit Codein analgesiert [2]. Aufgrund der erhöhten Morphinkonzentration trotz Verwendung der üblichen Normdosen initiierte die FDA eine umfangreiche Evaluation früherer Fallstudien zur Therapiesicherheit von Codein bei Kindern. Im Zeitraum von 1969 bis 2012 wurden insgesamt 13 Fälle tödlicher bzw. lebensbedrohlicher Atemdepressionen bei Kindern von 21 Monaten bis neun Jahren ermittelt, wobei die Kinder häufig eine chirurgische Entfernung der Tonsillen bzw. Polypen erfuhren und vier Kinder nachweislich als ultraschnelle Metabolisierer eingestuft wurden.

Gleichzeitig unterstrich das Fehlen entsprechender Berichte bei Anwendung anderer Opioide wie Oxycodon bzw. Hydrocodon den vermuteten Zusammenhang zwischen erhöhter CYP2D6-Aktivität und der beobachteten Effekte nach Anwendung von Codein. Das Auftreten dieser schwerwiegenden Nebenwirkungen vornehmlich bei Kindern mit obstruktiver Schlafapnoe wird dadurch erklärt, dass Kinder mit Atembeschwerden bekanntermaßen empfindlicher auf Opioide reagieren [3]. Folglich teilte die FDA im März 2013 mit, dass Codein zur postoperativen Analgesie nach Tonsillektomien bzw. Adenotomien bei Kindern kontraindiziert ist [4]. Darüber hinaus werden Hersteller Codein-haltiger Arzneimittel dazu verpflichtet, Warnhinweise auf Fach- und Gebrauchsinformationen zu ergänzen, in denen über das Risiko einer Überdosierung informiert wird. Die American Academy of Otolaryngology-Head and Neck Surgery (AAO-HNS) begrüßte die Entscheidung der FDA und ergänzte, dass eine flächendeckende Genotypisierung zur Ermittlung der jeweiligen CYP2D6-Aktivität zurzeit noch nicht empfohlen werden kann, da dies bei der geringen Anzahl an ultraschnellen Metabolisierern in der Bevölkerung keinen therapeutisch-ökonomischen Nutzen besitzt und die Verfügbarkeit anderer Analgetika zur postoperativen Schmerzbehandlung bei Kindern einen Einsatz von Codein entbehrlich macht.

Strenge Anwendungsbeschränkungen

Auch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) listet einen Todesfall nach Anwendung von Codein im Kindesalter in Deutschland zwischen 1978 und 2012. Ebenso liegen weitere Berichte über Abgeschlagenheit, Schläfrigkeit und Atemnot bei Kindern vor. Zwar konnte nicht sicher ermittelt werden, ob die Dosierung des Arzneimittels korrekt erfolgte, dennoch sind insgesamt 250 Nebenwirkungsmeldungen und 20 Berichte bei Kindern unter zwölf Jahren bekannt. Das BfArM forderte bereits länger, die Dauer und Dosis der Codein-Therapie für Kinder so gering wie möglich zu halten und darüber hinaus mögliche Symptome einer Vergiftung aufmerksam zu beobachten.

Nachdem die FDA ihre Empfehlung aussprach, unterstützt nun auch die Pharmakovigilanz-Arbeitsgruppe (PhVWP) der Europäischen Arzneimittelbehörde (EMA) einen restriktiven Gebrauch von Codein bei Kindern [7]. Codein soll künftig bei Tonsillektomien im Kindesalter streng kontraindiziert sein und bei Kindern im Alter unter zwölf Jahren nur noch eingesetzt werden, wenn andere Schmerzmittel wie Paracetamol oder Ibuprofen keine ausreichende Wirkung zeigen. Auch für Erwachsene, die nachweislich ultraschnell metabolisieren, sowie stillende Frauen sollte der Gebrauch von Codein eingeschränkt erfolgen.


Quelle

[1] Crews KR, Gaedigk A, Dunnenberger HM et al. Clinical Pharmacogenetics Implementation Consortium (CPIC) guidelines for codeine therapy in the context of cytochrome P450 2D6 (CYP2D6) genotype. Clin Pharmacol Ther 2012; 91: 321 – 326.

[2] Kelly LE, Rieder M, van den Anker J et al. More codeine fatalities after tonsillectomy in North American children. Pediatrics 2012; 129(5): e1343 – e1347.

[3] Brown KA, Laferrière A, lakheeram I, Moss IR. Recurrent hypoxemia in children is associated with increased analgesic sensitivity to opiates. Anesthesiology 2006; 105: 665 – 669.

[4] Safety review update of codeine use in children; new Boxed Warning and contraindication on use after tonsillectomy and/or adenoidectomy. FDA, 20. Februar 2013.

[5] www.medizinische-genetik.de/

[6] Kirchheiner et al. Pharmacogenetics of antidepressants and antipsychotics: the contribution of allelic variations to the phenotype of drug response. Mol Psych 9: 442 (2004).

[7] PRAC recommends restricting the use of codeine when used for pain relief in children; Mitteilung der EMA vom 14. Juni 2013.


Apotheker André Said

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