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Feuilleton
Haus der Evolutionstheorie
Am 30. Juli 1908 wurde anlässlich des 350-jährigen Bestehens der Universität Jena ein weltweit einzigartiges Museum eröffnet: das Phyletische Museum. Sein Gründer Ernst Haeckel (1834 – 1919) war bereits 1879 nach einem Besuch bei Charles Darwin (1809 – 1882) und einer Besichtigung des British Museum of Natural History in London inspiriert worden, in Jena ein "Museum für Entwickelungslehre" zu gründen, "in welchem eine vielseitig ausgestattete Schausammlung alle auf die Deszendenztheorie und den Darwinismus bezüglichen Erscheinungen durch Bilder und Präparate erläutern und dem gebildeten Publikum zugänglich machen" sollte.
Ontogenie und Phylogenie
Der Giebel über dem Eingang ist mit einem Lebensbaum dekoriert, in dessen Laubkrone die Begriffe "Ontogenie" (Entwicklung des einzelnen Lebewesens von der befruchteten Eizelle bis zum Tod) und "Phylogenie" (Stammesgeschichtliche Entwicklung der Lebewesen im Verlauf der Erdgeschichte) eingefügt sind. Haeckel, seit 1865 Professor für Zoologie in Jena, ging in seiner Eröffnungsrede auf die im Deutschen mögliche Doppelsinnigkeit der "Entwickelungsgeschichte" ein: "Als ich 1866 in meiner Generellen Morphologie der Organismen die mechanische Begründung der organischen Formenlehre durch die Deszendenz-Theorie auszuführen versuchte, stellte ich der älteren Keimesgeschichte, der ‚Ontogenie‘, als gleichberechtigten Zweig der organischen Entwickelungsgeschichte die neue ‚Stammesgeschichte oder Phylogenie‘ gegenüber."
Auch heute ist die Darstellung der Evolution das Hauptanliegen des Museums, das zum Institut für Spezielle Zoologie und Evolutionsbiologie der Universität Jena gehört. Die Sammlung umfasst über 500.000 Objekte, von denen einige, wie das fossile Skelett eines Auerochsen oder Urstiers (Bos primigenius), aus der Zeit stammen, als Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832) Leiter der anatomisch-zoologischen Sammlung war.
Die Evolution als Fundament der Biologie
Das Obergeschoss ist der Stammesgeschichte der vielzelligen Tiere (Metazoa) gewidmet. Die Darstellung beginnt im Südsaal mit den Schwämmen (Porifera) und endet dort mit den Insekten (Hexapoda). Im Nordsaal wird die "phylogenetische Chronik" von den Neumündern (Deuterostomia) über die Schädeltiere (Cranotia) bis zu den Säugetieren (Mammalia) fortgesetzt. Fossile Belege und Modelle zur Stammesgeschichte des Menschen sind im mittleren Saal zu sehen.
Seit einer Studienreise nach Helgoland, 1854, hatte sich Haeckel schwerpunktmäßig mit der Erforschung niederer Meerestiere beschäftigt, deren Schönheit ihn faszinierte. So hat er im Erdgeschoss die Decken der beiden Säle mit "Medusen" (Quallen) und "Blumentieren" (Seeanemonen usw.) al fresco ausmalen lassen. Dort werden spezielle Aspekte der Evolutionstheorie dargestellt und Sonderausstellungen gezeigt.
Bis heute gilt Darwins Evolutionstheorie ("The Origin of Species by means of Natural Selection; or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life", 1859) als fundamentale Theorie der Biologie und zentraler Baustein des wissenschaftlichen Weltbildes. Die Evolution verbindet zwei natürliche Ereignisse miteinander: die zufällige Veränderung (Mutation) von Genen und die Selektion von Lebewesen in ihrer jeweiligen Umwelt. Eine Art entwickelt sich weiter (evolviert), wenn Mutationen in den generativen Zellen (Spermien und Eizellen) vorkommen und an die nächste Generation weitergegeben werden.
Darwin kannte das "Bevölkerungsgesetz" (1798) des britischen Ökonomen Thomas Malthus (1766 – 1834), demzufolge die menschliche Bevölkerung schneller wächst als die Nahrungsmittelproduktion, weshalb sie immer wieder durch Kriege, Epidemien, Hungersnöte und andere Katastrophen dezimiert werden müsse. Er fragte sich, nach welchem Gesetz sich nicht-menschliche Populationen entwickeln, und fand, dass ihre Anpassungsfähigkeit an die Umwelt entscheidend ist ("survival of the fittest").
Haustierrassen sind ein Ergebnis der Zucht von Tieren mit abweichenden, vererbbaren Merkmalen. So stammt die Haustaube mit ihren vielen Rassen von der Felsentaube (Columba livia) ab. Während bei der Zucht oder künstlichen Selektion Ziele vorgegeben sind, ist die Evolution nicht vorhersehbar. Hier erhält sich jede kleinste Variation, die für die Anpassung an eine sich stetig wandelnde Umwelt mehr Vor- als Nachteile bietet. Andererseits vererbt sich ein neues Merkmal nicht, wenn der Aufwand für seine Produktion höher ist als der Nutzen ("trade off").
Geschlechtsspezifische Merkmale
Die Männchen vieler Tierarten sind indessen mit "Attributen" ausgestattet, die Darwins Theorie von der Selektion überlebensfähiger, weil am besten anpassungsfähiger Individuen ad absurdum zu führen scheinen: Der mit metallisch glänzendem Gefieder und langen farbenprächtigen Schwanzfedern geschmückte Pfauenhahn kann sich in der Wildnis nur schwer gegenüber Feinden tarnen. Es gibt auch keine schlüssige Erklärung, warum die Mundwerkzeuge männlicher Hirschkäfer einem sperrigen "Geweih" ähneln. Darwin beschrieb dieses Phänomen erstmals 1871 in seinem Buch "The Descent of Man and Selection in Relation to Sex".
Die Entwicklung geschlechtsspezifischer Erscheinungsbilder (Geschlechtsdimorphismus) führte Darwin auf die unterschiedliche Beteiligung der Geschlechter an der Erzeugung von Nachkommen zurück. Da die Weibchen nur in einem begrenzten Zeitraum relativ wenige Eier produzieren und bei den meisten Tierarten den höheren Anteil an der Aufzucht des Nachwuchses haben, sind sie bei der Suche nach einem geeigneten Begattungspartner wählerisch. Aus diesem Grund stehen die Männchen untereinander in Konkurrenz und versuchen, sich gegenseitig "auszustechen".
Viele geschlechtsspezifische Merkmale wie Geweihe oder Hörner dienten ursprünglich zur Verteidigung gegenüber Feinden und haben sich erst später durch sexuelle Selektion zu "Qualitätsmerkmalen" weiterentwickelt. Dabei spielte vermutlich auch die Vererbung der Vorlieben weiblicher Tiere auf die Weibchen nachfolgender Generationen eine entscheidende Rolle.
Rothirsche sind ein bekanntes Beispiel, wie Männchen sich durch Zweikämpfe mit Rivalen den exklusiven Zugang zu den Weibchen und die Vererbung ihrer Gene an die nächste Generation sichern. Dabei kämpfen sie nicht direkt um die weiblichen Tiere, sondern verteidigen ihr Revier.
Schmuckfedern, Gerüche, "Brautgeschenke", Balztänze
Der Geschlechtsdimorphismus wird durch die artspezifischen Paarungssysteme beeinflusst. Bei monogam lebenden Tierarten wie zum Beispiel dem Weißstorch oder den "Unzertrennlichen" (Agapornis spp., Papageien) unterscheiden sich die Partner kaum voneinander. Die in den Regenwäldern Neuguineas und Australiens lebenden Paradiesvögel (Paradisaeidae) buhlen indessen mit prächtigen Schmuckfedern balzend um die Gunst der Weibchen. Für die Weibchen des amerikanischen Spinners Utetheisa ornatrix ist der Geruch des Männchens das entscheidende Kriterium bei der Partnerwahl: Je intensiver es Pyrrolizidinalkaloide oder deren Derivate ausströmt, umso besser schreckt es Fressfeinde ab. Beim Begattungsakt überträgt das Männchen Alkaloide auf das Weibchen, wodurch dieses und das Gelege "fit for survival" gemacht werden.
Die Männchen anderer Arten versuchen, die Weibchen mit "Brautgeschenken" für sich zu gewinnen. So übergeben männliche Skorpionsfliegen während der Kopulation ein eiweißreiches Speicheldrüsensekret an ihre Partnerinnen. Diese belohnen ein großzügig bemessenes "Brautgeschenk" mit einem langen Paarungsakt und dem Verzicht, sich mit weiteren Partnern einzulassen.
MuseumPhyletisches Museum Vor dem Neutor 1, 07743 Jena Tel. (0 36 41) 94 91 80, Fax 94 91 42 www.phyletisches-museum.uni-jena.de Geöffnet: täglich 9.00 bis 16.30 Uhr Katalog: 114 Seiten, geb. 9,90 Euro |
Insbesondere männliche Hühnervögel wie Birkhähne, Auerhähne, Fasanen und Pfauen imponieren den Weibchen, indem sie ihr Gefieder aufstellen oder ein Rad schlagen. Balztänze versprechen auch den Männchen einiger Insektenarten wie etwa der Taufliegen Erfolg bei der Partnerwahl.
Anstatt mit einem prächtigen Federkleid zu imponieren, bauen die unscheinbaren Laubenvögel Tanzplätze, die sie mit Federn, Blüten, Schnecken und anderem "Zierrat" schmücken. Dem Erbauer des schönsten und größten Tanzplatzes ist die Gunst eines Weibchens gewiss.
Bei den in subarktischen Gebieten brütenden Odinshühnchen (Phalaropus lobatus) und einigen anderen Tierarten wurde anscheinend die sexuelle Evolution in eine "sexuelle Revolution" umgekehrt: Die Weibchen buhlen in auffälligen Balzkleidern um das Männchen, das nach dem Schlupf der Küken allein die Brutpflege übernimmt.
Reinhard Wylegalla
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