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Arzneimittel und Therapie
Nutzen überwiegt dennoch Risiko
Das nationale Impfprogramm gegen die pandemische Influenza ("Schweinegrippe") war die größte Massenvakzinierung in der jüngeren Geschichte der USA; es bot jedem US-Bürger die Möglichkeit, sich impfen zu lassen. Begleitet wurde es von einem Surveillance-Programm, um unerwünschte Impfnebenwirkungen zu erkennen. Finanziert von der US-Regierung wertete das "National Vaccine Program Office" des US-Gesundheits- und Sozialministeriums unter Daniel A. Salmon anschließend die Ergebnisse des Nebenwirkungs-Monitorings mit insgesamt 23 Millionen immunisierten Personen aus.
Risiko signifikant erhöht
Für die Auswertung teilten die Autoren der Metaanalyse den Zeitraum nach der Impfung in drei Perioden ein: eine Expositionsperiode einen bis 42 Tage nach der Impfung, eine Auswaschphase zwischen den Tagen 43 und 49 und einen Kontrollzeitraum zwischen dem 50. und dem 91. Tag. GBS-Fälle, die in der Auswaschphase auftraten, wurden bei der Auswertung außen vor gelassen.
Insgesamt wurden 77 GBS-Fälle registriert: 54 in der Expositionsperiode, 23 im Kontrollzeitraum. Das entsprach einem 2,35-fach erhöhten Risiko, innerhalb der ersten sechs Wochen nach der Impfung am GBS zu erkranken (Inzidenzraten-Verhältnis, IRR, 2,35, 95% KI 1,42 bis 4,01, p = 0,0003).
Die Zahl der jährlichen Neuerkrankungen des GuillainBarrè-Syndroms bei Nichtgeimpften (Hintergrundinzidenz) liegt in den USA bei einer pro 100.000 Personen. Damit führte die pandemische Influenza-Impfung in den ersten sechs Wochen danach zu zusätzlich 1,6 Fällen auf 100.000 geimpfte Personen.
Guillain-Barré-SyndromBeim Guillain-Barré-Syndrom (GBS), auch als akute idiopatische Polyneuritis bezeichnet, handelt es sich um eine Autoimmunerkrankung, die durch akute Entzündungen des peripheren Nervensystems und der Nervenwurzeln (Polyradikuloneuritis) charakterisiert ist. Sie beginnt mit Rücken- und Gliederschmerzen sowie Missempfinden an den Extremitäten. Innerhalb weniger Tage kommt es zu aufsteigenden Lähmungserscheinungen, die zum Tode führen können, da auch die Atemmuskulatur betroffen sein kann. In den meisten Fällen bilden sich die Symptome zurück, neurologische Schäden können aber zurückbleiben. Das in der PEI-Studie mit betrachtete Miller-Fisher-Syndrom ist eine seltene Variante des GBS. Typisch dafür sind Störungen der Bewegungskoordination (Ataxie), Augenmuskellähmung und Verlust oder Abschwächung der Muskelreflexe. Die Ursachen beider Erkrankungen sind weitgehend unklar; möglicherweise gehören auch Erreger von Magen-Darm- und Atemwegserkrankungen zu den Auslösern. |
Situation in Deutschland
Auch in Deutschland fand von November 2009 bis Dezember 2010 unter Federführung des Paul-Ehrlich-Instituts (PEI) eine epidemiologische Untersuchung zum Auftreten vom Guillain-Barré-Syndrom und dem verwandten Miller-Fisher-Syndrom (FS, s. Kasten) nach H1N1-Impfung statt, an der sich 227 neurologische Kliniken und 124 Kinderkliniken beteiligten. Im Beobachtungszeitraum meldeten diese dem PEI insgesamt 676 Berichte über ein Guillain-Barré- oder ein Miller-Fisher-Syndrom. Bei 30 dieser Fälle trat das GBS/FS innerhalb von 150 Tagen nach A/H1N1-Impfung mit dem Pandemieimpfstoff Pandemrix® auf. Daraus ließ sich ein 4,65-fach erhöhtes Risiko (95% KI 2,17 bis 9,98) ermitteln.
Auf Basis einer Hintergrundinzidenz des Guillain-Barré-Syndroms von 1,75 auf 100.000 nicht geimpfte Personen pro Jahr würden im Zeitraum von fünf bis 42 Tagen nach der A/H1N1-Impfung geschätzt etwa 0,6 zusätzliche Fälle eines GBS/FS pro 100.000 geimpfte Personen auftreten.
Nutzen der Impfung überwiegt Risiken
Die zeitliche Assoziation zwischen der Influenzaimpfung und dem Auftreten zusätzlicher GBS-Fälle ist nicht neu. Beschrieben wurde sie bereits im Jahre 1976, nachdem in einem US-amerikanischen Militär-stützpunkt eine Impfkampagne gegen die Schweinegrippe gestartet worden war und GBS-Fälle gehäuft auftraten. In den Folgejahren konnte dieser Zusammenhang in epidemiologischen Studien jedoch nicht eindeutig bestätigt werden, auch nicht in Untersuchungen mit Personen, die gegen die saisonale Influenza immunisiert worden waren.
Ein wichtiger Aspekt in der Diskussion der Studie war die Hypothese, dass auch bakterielle oder virale Infektionen ein Guillain-Barré-Syndrom hervorrufen können und somit Infektionen mit dem pandemischen oder auch einem saisonalen Influenzavirus selbst GBS-Fälle ausgelöst haben könnten, zumal der Pandemie-Höhepunkt zur selben Zeit auftrat, wie die Vakzinierung durchgeführt wurde.
Das PEI resümierte, dass trotz der zusätzlichen Fälle das Guillain-Barré-Syndrom weiterhin eine seltene Erkrankung darstellt. Eine Assoziation zwischen der ebenfalls in der PEI-Studie untersuchten saisonalen Grippeimpfung (2009/2010) und dem Auftreten von GBS/FS innerhalb von fünf bis 42 Tagen danach wurde nicht gefunden.
Bei der Influenza handelt es sich um eine schwerwiegende Erkrankung, die tödlich enden kann. Sowohl die US-amerikanische Arbeitsgruppe als auch das PEI schätzen daher die Vorteile des monovalenten inaktivierten Impfstoffs gegen Influenza A/H1N1 höher ein als mögliche Risiken. Nach Schätzungen einer Anfang diesen Jahres veröffentlichten Untersuchung hat das H1N1-Impfprogramm 2009/2010 in den USA dazu beigetragen, 700.000 bis 1,5 Millionen klinische Grippefälle, zwischen 4000 und 10.000 Hospitalisierungen und 200 bis 500 Todesfälle zu verhindern.
QuelleSalmon DA, et al., Association between Guillain-Barré syndrome and influenza A (H1N1) 2009 monovalent inactivated vaccines in the USA: a meta-analysis. Lancet (2013), doi: 10.1016/S0140-6736(12)62189-8Zusammenhang zwischen pandemischer Influenza A/H1N1v-Impfung und Guillain-Barré-Syndrom / Miller-Fisher-Syndrom in Deutschland. Ergebnisse einer epidemiologischen Studie des Paul-Ehrlich-Instituts, www.pei.de/DE/arzneimittelsicherheit-vigilanz/pharmakovigilanz/forschung/gbs-studie/gbs-guillan-barre-syndrom-studie-node.html
Apothekerin Dr. Claudia Bruhn
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